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1

 

Der junge Mann ahnte nicht, dass er nur noch fünf Minuten zu leben hatte. Er stand auf einem Bahnsteig des Hamburger Hauptbahnhofs, einen riesigen Blumenstrauß in der rechten Hand. Seine Linke hob er immer wieder auf Brusthöhe, um einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen. Das war eigentlich eine sinnlose Geste, denn an öffentlichen Uhren mangelte es in dem Bahnhofsgebäude wirklich nicht.

Aber der Wartende war nervös, voller fiebriger Vorfreude. Falls der Zug pünktlich war, würde er in weniger als einer Viertelstunde die schönste Frau der Welt in seine Arme schließen können. Jedenfalls gab es in seinem Herzen kein attraktiveres weibliches Wesen als Doris Raspe, die er vom Zug abholen wollte.

Eine Lautsprecherstimme meldete sich zu Wort.

»Bitte zurücktreten von der Bahnsteigkante. Türen schließen selbsttätig, Vorsicht bei der Abfahrt!«

Der junge Mann in dem eleganten Anzug schaute auf die Anzeigetafeln. Noch verlief alles planmäßig. Dieser Zug, dessen Türen sich nun mit lautem Knall schlossen, fuhr nach Lüneburg. In gut zehn Minuten würde Doris aus Uelzen auf Gleis 12 eintreffen … endlich!

Die Regionalbahn nach Lüneburg gewann an Fahrt. Da ertönte ein Knall, nicht lauter als das Platzen einer aufgeblasenen Brötchentüte. Aber das Geräusch ging unter in dem allgemeinen Bahnhofslärm aus Lautsprecherdurchsagen, quietschenden Zugbremsen und dem Volksgemurmel Tausender von Passagieren und Wartenden.

Dem jungen Mann knickten die Beine weg. Er fiel gegen eine Dame, die pikiert aufschrie und zur Seite sprang. Schwer krachte sein Körper auf den Bahnsteig. Er stand nicht wieder auf.

Ein Mann vom Bahn-Aufsichtspersonal eilte auf ihn zu. Er kniete sich neben dem Reglosen nieder.

»Ist Ihnen übel geworden, mein Herr? Sollen wir Ihnen ein Glas Wasser …«

Und dann sah der Uniformierte das Blut. Er reagierte mit vorbildlicher Umsicht.

»Ruf’ einen Rettungswagen!«, rief er seinem Kollegen zu. Ein Notarzt sowie zwei Sanitäter kamen innerhalb von neun Minuten vom nahe gelegenen Krankenhaus St. Georg herangebraust. Sie bemühten sich sofort um den Schwerverletzten, dessen weißes Hemd rot vom Blut war.

Da keine Gefahr für den Zugverkehr absehbar war, erhielt der Regionalexpress aus Uelzen Einfahrt auf Gleis 12. Außerdem wäre es wahrscheinlich zu spät gewesen, den Zug in der kurzen Zeit noch umzuleiten.

Jedenfalls rang das medizinische Personal noch um das Leben des jungen Mannes, als sich eine gut aussehende Frau zwischen den Neugierigen hindurchdrängte.

»Aber, das ist ja Oliver!«, rief sie. Ihre nächsten Worte gingen in einem hemmungslosen Schluchzen unter. Der Notarzt musste ihr eine Beruhigungsspritze verabreichen. Für den Schwerverletzten namens Oliver konnte er hingegen nichts mehr tun. Dieser hatte soeben aufgehört zu atmen.

2

 

Wenn es nach Kriminalhauptkommissarin Heike Stein gegangen wäre, hätte man sämtliche Gaffer wegen Behinderung der Polizeiarbeit ins Gefängnis gebracht. Und der Hamburger Hauptbahnhof, der jeden Tag Zehntausende umsteigen, abfahren und ankommen sah, zog natürlich Neugierige aller Art sozusagen magisch an.

Die uniformierten Kollegen taten ihr Bestes, um den Fundort der Leiche abzuschirmen. Und natürlich waren die Kriminalreporter der großen Zeitungen auch schon an Ort und Stelle. Manche von den Burschen hatten anscheinend einen Riecher für Bluttaten. Oder sie hörten einfach verbotenerweise den Polizeifunk ab.

»Da ist die Stein!«, rief einer von den Pressegeiern.

»Die Mordspezialistin«, fügte ein anderer Reporter hinzu, der mit seinen Insiderkenntnissen protzen wollte.

Heike lächelte, aber es sah eher aus, als würde sie die Zähne fletschen.

»Gibt es schon eine heiße Spur?«, blökte einer der Journalisten und richtete sein Mikrophon wie eine Waffe auf Heike.

»Darf ich vielleicht erst mal einen Blick auf die Leiche werfen?«, giftete sie zurück und bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg zwischen den Schaulustigen und den Kriminalreportern. Ihren Dienstausweis hatte sie an das Jackett ihres marineblauen Nadelstreifenkostüms gehängt. Heike erreichte den Fundort der Leiche, der vermutlich gleichzeitig Tatort war. Die sterblichen Überreste des Opfers hatte man inzwischen mit einer Kunststoffplane bedeckt.

Das Spurensicherungsteam von Paul Sommer war bereits an der Arbeit.

Außerdem entdeckte die blonde Kriminalistin noch einen weiteren Bekannten: Der Gerichtsmediziner Dr. Lehmann war in ein lebhaftes Gespräch mit dem Notarzt vertieft, der an seiner Dienstkleidung zu erkennen war. Heike ging auf die beiden Mediziner zu.

»Ah, Frau Stein!«, sagte Dr. Lehmann. Und an den Notarzt gewandt: »Das ist Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Sonderkommission Mord. – Frau Stein, ich möchte Ihnen Dr. Evers vorstellen. Er hat versucht, das Leben des Opfers zu retten.«

Die Kriminalistin gab dem Notarzt die Hand. Er war ein Mann um die Vierzig mit Stirnglatze.

»Bitte berichten Sie mir aus Ihrer Sicht, was geschehen ist, Herr Dr. Evers.«

»Um 16.19 Uhr ging der Notruf vom Hauptbahnhof bei uns ein«, sagte der Notarzt. »Wir fuhren sofort mit Blaulicht und Sirene los und erreichten das Opfer auf dem Bahnsteig um 16.28 Uhr. Ich diagnostizierte einen Lungensteckschuss und versuchte, die Blutung einstweilen zu stillen. Aber die Kugel war zu dicht im koronaren Bereich …«

»In der Herzgegend«, vergewisserte sich Heike und schrieb weiterhin mit.

»Ja, genau. Der Patient war bewusstlos. Er hatte schon zu viel Blut verloren. Exitus um 16.39 Uhr. Die Todesursache ist eindeutig: Gewalteinwirkung, nämlich ein Schuss in die linke Brusthälfte.«

»Nur eine Patrone?«, fragte Heike. Dr. Evers nickte. Nun meldete sich auch der Gerichtsmediziner Dr. Lehmann zu Wort.

»Der Einschusskanal lässt auf ein kleines Kaliber schließen, Frau Stein. Näheres kann ich Ihnen dazu erst nach der Obduktion sagen. Für ein kleines Kaliber spricht auch, dass der Mann offenbar einfach nur in sich zusammengesunken ist. Beim Aufprall eines Geschosses von Kaliber .45 beispielsweise wäre er meterweit durch die Luft geschleudert worden.«

Das wusste Heike natürlich auch. Aber ihr war ebenfalls bekannt, dass der Gerichtsmediziner sich selbst gerne reden hörte. Wenn man es sich mit ihm nicht verderben wollte, musste man sich mit dem eigenen Wissen zurückhalten. Selbst als Kriminalhauptkommissarin.

Daher sagte Heike: »Wirklich, Herr Dr. Lehmann?«

»Darauf können Sie sich verlassen, meine Liebe«, erwiderte der Pathologe selbstgefällig. »Ich gebe Ihnen so viele Hinweise wie möglich, um Ihre Ermittlungen zu erleichtern. – Besonders in einem so tragischen Fall wie diesem.«

Die Kriminalistin hakte nach.

»Wie meinen Sie das, Herr Dr. Lehmann?«

Der Gerichtsmediziner machte eine unbestimmte Handbewegung.

»Es war ja wohl so, dass die Freundin oder Verlobte oder Braut des Getöteten mit der Regionalbahn aus Uelzen eintraf, als unser junger Kollege noch um das Leben des Opfers kämpfte.«

Der Notarzt ergänzte: »Ja, die Frau erlitt einen hysterischen Zusammenbruch, um es einmal laienhaft auszudrücken. Ich habe ihr eine Beruhigungsspritze gegeben. Meine Sanitäter haben sie in die Notaufnahme vom AK St. Georg geschafft. Dort wird sie jetzt wohl noch sein, nehme ich an.«

Heike nickte. Es musste wirklich bitter für die Frau sein. Ihr Freund wollte sie vom Bahnhof abholen, stattdessen fand sie ihn erschossen vor. Die Hauptkommissarin wollte mit der Freundin des Opfers sprechen, sobald diese vernehmungsfähig war.

Heike bedankte sich bei den beiden Medizinern und ging hinüber zu Paul Sommer, dem Leiter des Spurensicherungsteams.

»Hallo, Paul. Habt ihr schon ein paar Einzelheiten für mich?«

»Hallo, Heike. Wir müssen hier noch ein paar Abmessungen durchführen. Aber allgemein kann ich dir schon sagen, dass der Schuss aus dieser Richtung gekommen sein muss.«

Der Mann von der Technischen Abteilung deutete auf die Bahnsteigkante.

»Es ist aber auch möglich, dass jemand vom Bahnsteig der Gleise 13 und 14 aus geschossen hat«, fügte Paul Sommer hinzu.

»Oder aus einem fahrenden Zug«, dachte Heike laut nach.

»Das wäre jedenfalls mal eine ganz neue Variante des drive-by-shooting«, bemerkte der Leiter des Spurensicherungsteams und spielte damit auf die Gewohnheit amerikanischer Drogenbanden an, Mitglieder rivalisierender Gruppen von einem vorbeifahrenden Auto aus zu erschießen.

»Aber möglich wäre es?«, hakte Heike nach.

»Sicher, möglich wäre es. Aber wie kommst du darauf?«

»Wenn der Mörder hier oder auf dem anderen Bahnsteig gestanden hat, dann müsste es doch jede Menge Zeugen geben«, sagte Heike. »Jemand zieht seine Pistole, erschießt einen Menschen – und spaziert dann davon, als ob nichts gewesen wäre? Das bleibt vielleicht irgendwo in der Lüneburger Heide unbemerkt, aber doch nicht hier, zwischen Tausenden von Menschen.«

»Der Täter kann einen Schalldämpfer benutzt haben, dann fällt zumindest das Schussgeräusch nicht so auf. Und die Waffe? Er muss ja nicht damit herumfuchteln wie ein Westernheld.« Der Spurensicherer legte seinen Mantel über seinen Unterarm und zielte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Heike. »Sieh’ mal, ich komme auf dich zugeschlendert, verberge meine Knarre unter dem Mantel. Dann bleibt nur noch das Risiko, dass jemand zufällig das Mündungsfeuer bemerkt. Aber ansonsten – peng, das war’s.«

Heike nickte. Ihr gefiel allerdings die Variante mit dem vorbeifahrenden Zug besser. Da konnte der Täter unauffällig fliehen und gleichzeitig sehr einfach die Tatwaffe loswerden. Wenn der Zug Richtung Süden fuhr, donnerte er nur wenige hundert Meter hinter dem Hauptbahnhof über die Elbbrücken. Wenn der Mörder dann die Pistole einfach aus dem Fenster warf, würde sie in den Tiefen der Elbe versinken.

Paul Sommer versprach Heike, ihr baldmöglichst einen schriftlichen Bericht zukommen zu lassen. Die Kriminalistin sprach nun noch mit dem Aufsichtspersonal der Bahn sowie mit den Bundespolizisten, die als Erste vor Ort gewesen waren.

Das Ergebnis war entmutigend. Niemand hatte den Täter gesehen. Ein Mündungsblitz war nicht bemerkt worden. Es war auch keinem Zeugen aufgefallen, dass jemand mit einer Schusswaffe hantiert hätte.

Heike wunderte sich zunächst darüber, dass die Zeugenaussagen so mager waren. Aber die meisten Menschen auf einem Bahnhof waren natürlich sehr stark mit sich selbst beschäftigt. Sie kamen an oder fuhren ab, oder sie warteten auf jemanden – so wie es Oliver Schneider getan hatte.

Denn wenigstens über die Identität des Opfers gab es keinen Zweifel. Der Tote hatte seinen gültigen Bundespersonalausweis bei sich gehabt. Paul Sommer hatte der Hauptkommissarin den Namen des Ermordeten gesagt, bevor er die Brieftasche zwecks Spurensicherung an sich nahm.

»Bekommst du so bald wie möglich wieder, Heike.«

Die Kriminalistin nickte. Sie war in Gedanken versunken. Es sprach wirklich viel dafür, dass der Täter – oder die Täterin – mit einem Schalldämpfer geschossen hatte. Natürlich war es riskant, an einem so belebten Ort wie dem Hamburger Hauptbahnhof jemanden zu töten. Aber – konnte man das wirklich so sagen? Heike hatte da so ihre Zweifel. Wenn ein Mörder irgendwo in der Einöde tötete und es zufällig einen Zeugen gab, dann hatte der Täter viel schlechtere Karten. Die Polizei konnte sämtliche Zufahrtsstraßen sperren und das Gebiet mit einer Hundertschaft durchkämmen. Auf dem Hauptbahnhof hingegen war die Anzahl an Fluchtmöglichkeiten beinahe unbegrenzt. Wenn der Mörder nur fünf Minuten Vorsprung hatte, konnte er in dieser Zeit bequem in eine S- oder U-Bahn steigen, in einen Bus oder eines der zahllosen Taxis, die auf dem Vorplatz warteten. Mit dem richtigen Zeitplan war es sogar möglich, einen ICE zu erreichen. Dann befand sich der Mörder längst in Bremen oder Hannover, bevor die polizeiliche Fahndung auch nur richtig losging.

Diese Überlegungen trugen nicht dazu bei, Heikes Laune aufzumöbeln. Sie kniete nieder und hob die Kunststoffplane, um einen ersten Blick auf die Leiche zu werfen. Der Gesichtsausdruck des Toten zeigte Überraschung, falls man bei einer Leiche überhaupt noch von ausdrucksvoller Mimik sprechen konnte. Das war auch kein Wunder. Dieser Mann hatte auf seine Freundin gewartet, mit einem Blumenstrauß in der Hand. Vermutlich war er voller Vorfreude gewesen. Und dann wurde er eiskalt und ohne Vorwarnung niedergeknallt.

Heike spürte, wie sie von einer unbändigen Wut auf den unbekannten Täter gepackt wurde. Das war zwar unprofessionell, aber auch nach Jahren im Polizeidienst war sie gegen solche Gefühle nicht immun. Die Hauptkommissarin konnte es kaum erwarten, den Mörder vor Gericht schwitzen zu sehen. Er sollte sich für seine Taten verantworten müssen.

Bevor sie die Plane wieder über die sterblichen Überreste von Oliver Schneider zog, registrierte Heike noch die gediegene Qualität seines Anzugsstoffs. Vermutlich eine Maßanfertigung, sein dezenter Geschäftsanzug mit Weste. Ein armer Mann war der Ermordete zweifellos nicht gewesen.

Es gab nichts, was Heike momentan am Tatort noch tun konnte. Tatendurstig drängte sie sich wieder zwischen den Neugierigen hindurch. Die aufdringlichen Fragen der Reporter beantwortete sie mit Hinweisen auf die Pressestelle der Hamburger Polizei. Mit diesem Spruch konnte man die Kriminalreporter immer noch am besten ärgern. Aber schließlich gab es ja momentan wirklich noch nichts, was sie der Journalistenmeute vorwerfen konnte. Heike wusste ja selbst noch gar nicht, in welche Richtung sie ermitteln sollte. Dazu musste sie zunächst mehr über das Opfer erfahren.

Die Kriminalistin eilte aus dem Hauptbahnhof, der im Jahre 1906 aus Stahl und Glas erbaut worden war. Seit der Renovierung 1991 und der Eröffnung einer Einkaufspassage in der Wandelhalle hatte sich seine Attraktivität noch gesteigert.

Heike warf sich in das erste Taxi in der langen Schlange an der Kirchenallee. Vom Präsidium aus war sie mit der U-Bahn zum Tatort gefahren. Ansonsten bewegte sich die Hauptkommissarin meist in einem zivilen Dienstwagen mit Funkgerät durch die Gegend. Einen privaten PKW besaß sie nicht.

»Wo soll’s hingehen?«, fragte der Chauffeur.

»Zum AK St. Georg«, erwiderte Heike. Und fügte schnell hinzu: »Nun zieh’ mal keine Karpfenschnut, Meister. Ich geb’ dir auch ein gutes Trinkgeld!«

Der Fahrer musste grinsen, denn Heike hatte im breitesten Hamburger Dialekt gesprochen. Er antwortete in derselben Tonlage.

»Ist schon hart, den ersten Platz in der Schlange für so eine Mini-Fahrt aufgeben zu müssen.«

»Ja, aber was soll ich machen? Ich hab’s eilig.«

Das Taxi brauste den Steindamm hoch. Die Straße mit ihren zahlreichen Spielhöllen, Stundenhotels und Bordsteinschwalben war die Hauptschlagader des Bahnhofsviertels St. Georg. Außerhalb Hamburgs war der Steindamm nicht annähernd so bekannt wie die Reeperbahn, stand dieser in Sachen Kriminalität aber so gut wie gar nicht nach.

Am Ende vom Steindamm bog der Fahrer in die Lohmühlenstraße ein. Er hielt vor dem Haupteingang des Krankenhauses. Heike gab ihm das versprochene gute Trinkgeld. Sie wusste, dass Taxifahrer in Hamburg nicht auf Rosen gebettet waren.

Heike zückte wieder ihren Dienstausweis, den sie zwischenzeitlich in ihrer Umhängetasche verschwinden gelassen hatte. Sie ging zur Intensivstation. Eine Krankenschwester verwies die Kriminalistin an Frau Dr. Sievert.

Heike hatte Glück. Sie musste nur wenige Minuten warten, bis die Medizinerin Zeit für sie hatte.

»Sind Sie eine Angehörige von Frau Raspe?«, fragte die Assistenzärztin. Aber gleich darauf beantwortete sie ihre eigene Frage selbst. »Nein, Sie haben diesen Kripo-Blick.«

»Wenn Sie meinen«, erwiderte Heike. Sie zeigte noch einmal ihre Legitimation. »Kann ich mit Ihrer Patientin sprechen?«

Frau Dr. Sievert schüttelte den Kopf.

»Frau Raspe hat von dem Notarzt ein Beruhigungsmittel verabreicht bekommen. Wir haben ihr noch zusätzlich etwas zur Kreislaufstabilisierung gegeben. Ich bin keine Nervenärztin, aber für mich ist klar, dass diese Frau psychologische Hilfe braucht.«

»Das mag alles sein«, gab die Kriminalistin zu, »aber ich muss einen Mord aufklären, Frau Dr. Sievert. Ein Mann wurde im Hauptbahnhof erschossen, während er auf Frau Raspe wartete. Als sie aus dem Zug stieg, hat sie als Erstes seine Leiche erblickt.«

»Puh!« Die Ärztin stieß langsam die Luft aus ihren Lungen. »Das verbirgt sich also hinter dem zusammenhanglosen Gestammel, das ich bisher von der Patientin gehört habe. Das muss wirklich ein ungeheurer Nervenschock für Frau Raspe gewesen sein.«

»Gewiss, Frau Doktor. Aber es ist noch keine Stunde seit der Tat vergangen. Mit jeder Minute, die verstreicht, vergrößert sich der Vorsprung des Täters. Vielleicht kann mir Frau Raspe einen entscheidenden Hinweis geben, um den Mörder zu fassen.«

Es war der jungen Medizinerin anzusehen, dass sie innerlich mit sich kämpfte.

»Also gut«, sagte sie schließlich. »Aber nur zehn Minuten, bitte.«

Heike warf ihr einen dankbaren Blick zu.

»Ich verspreche es hoch und heilig.«

Frau Dr. Sievert führte die Kriminalistin höchstpersönlich zu dem Krankenzimmer, wo man Doris Raspe einstweilen aufgenommen hatte.

»Hier ist eine Dame von der Polizei, die mit Ihnen sprechen möchte, Frau Raspe«, sagte die Ärztin zu ihrer Patientin. »Bitte brechen Sie die Unterredung ab, wenn es zu anstrengend für Sie wird.«

Die junge Frau in dem Krankenbett nickte nur matt. Obwohl es Doris Raspe momentan vermutlich hundsmiserabel ging, konnte man ihre Schönheit deutlich erkennen.

Diese Frau hatte ein Gesicht, das man nicht so schnell vergaß, wie Heike fand. Es war attraktiv genug, um auf der Titelseite einer Illustrierten abgebildet zu werden. Doris Raspe hatte schulterlanges brünettes Haar. Ihre Augen hatten die Farbe von Haselnüssen. Die Brauen waren sorgfältig gezupft, das Make-up ließ nichts zu wünschen übrig.

Nur der abwesende, leicht schläfrige Ausdruck auf ihrem Gesicht trübte diesen positiven Eindruck. Heike schnappte sich einen Besucherstuhl und setzte sich neben das Krankenhausbett. Sie stellte sich noch einmal vor und präsentierte ihren Dienstausweis.

»Frau Raspe, zunächst möchte ich Ihnen mein Beileid und mein großes Bedauern aussprechen. Ich bin beauftragt, den Mörder von Oliver Schneider zu fangen. Daher muss ich Sie bitten, mir einige Fragen zu beantworten.«

»Ja, natürlich.« Die Stimme der jungen Frau war leise, als ob sie das Sprechen anstrengen würde. »Ich will ja auch, dass dieser … dieser Verbrecher gefangen wird.«

Heike nickte und holte ihr Notizbuch hervor.

»In welcher Beziehung standen Sie zu Oliver Schneider?«

»Er … er war mein Freund, Frau Kommissarin. Wir wollten heiraten.«

Doris Raspe brachte diese Worte über die Lippen, ohne zu weinen. Das war eine erstaunliche Leistung, wie Heike fand. Andererseits war die junge Frau vermutlich bis zu den Ohren mit dämpfenden Medikamenten abgefüllt worden.

»Woher stammen Sie, Frau Raspe?«

»Aus Dresden. Dort wohne ich auch immer noch.«

Doris Raspe zog die Schublade von ihrem Nachtschränkchen auf. Dort lag ihre Geldbörse. Sie holte ihren Personalausweis hervor und überreichte ihn Heike. Die Kripo-Beamtin schrieb die Angaben auf dem Dokument sorgfältig ab.

»Wenn Sie aus Dresden stammen, wieso waren Sie dann in dem Regionalzug von Uelzen nach Hamburg?«

»Ich habe meine Großtante in Uelzen besucht. Das wollte ich schon immer einmal tun, es war früher

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Martin Barkawitz
Bildmaterialien: www.klauddesign.com
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2016
ISBN: 978-3-7396-7103-1

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