Tina Dorn fühlte sich wie im Paradies. Alles war neu und aufregend für die Zwanzigjährige aus einer verschlafenen Kleinstadt in Mecklenburg.
Weit war es nicht von ihrem Geburtsort bis nach Hamburg, weniger als 50 Kilometer. Und doch fühlte sich Tina, als wäre sie in eine andere Welt gereist. Eine Welt, in der sie ab sofort leben und arbeiten sollte.
Die Hansestadt an der Elbe war ein Traum, angefüllt mit beeindruckenden Gebäuden und gutgekleideten schönen Menschen. So war Hamburg dem blonden Mädchen aus Mecklenburg jedenfalls während ihrer früheren wenigen Besuche erschienen.
Und heute, am 1. September, wurde sie selbst zu einer Neubürgerin der Hansestadt!
Tina hatte dort nämlich einen Arbeitsplatz gefunden. Auch das erschien ihr immer noch wie eine Illusion. Doch das knisternde Papier des Arbeitsvertrages in ihrer Umhängetasche war wirklich vorhanden.
Nach über einem Jahr Arbeitslosigkeit hatte sie einen Job als Zimmermädchen ergattern können. Und zwar nicht in irgendeinem Beherbergungsbetrieb. Sondern in dem legendären Luxushotel Oceana an der Alster.
Tinas Knie waren weich, als sie in der frisch gestärkten neuen Dienstuniform ihre Tätigkeit begann. Sie fürchtete sich davor, etwas falsch zu machen. Die Umgebung war doch sehr ungewohnt für sie. In ihrer Heimat kannte sie jeden Menschen von Kindesbeinen an. Hier hingegen kam sie sich neben den wohlhabenden Gästen aus aller Welt klein und unbedeutend vor.
Aber ihre neue Kollegin Angela Witte war zum Glück sehr nett. Sie sollte die Mecklenburgerin einarbeiten.
»So früh am Morgen können wir natürlich die Zimmer noch nicht säubern«, erklärte Angela. »Schon gar nicht heute, an einem Sonntag. Wir wollen die Gäste ja nicht stören. Wir nehmen uns die Zimmer später vor, wenn die Damen und Herren beim Frühstück sind. Aber wir können jetzt schon einiges vorbereiten, zum Beispiel frische Bettwäsche bereitlegen.«
Die beiden Zimmermädchen gingen einen Flur im zweiten Stockwerk entlang. Die Innenarchitektur des Luxushotels stammte aus dem 19. Jahrhundert, der Zeit, als das Traditionshaus erbaut wurde. Trotzdem war es mit allen Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts versehen.
»Da hinten ist eine Wäschekammer«, sagte Angela. »Schau’ dir schon mal an, wo die einzelnen Sachen liegen. Ich hole inzwischen …«
Angela konnte ihren Satz nicht beenden. Tina hatte die Tür zur Wäschekammer geöffnet. Die junge Mecklenburgerin begann vor Schreck zu schreien.
Die erfahrene Kollegin eilte zu ihr. Und dann erblickte auch sie, was Tina so geschockt hatte.
In der Wäschekammer lag eine weibliche Leiche. Die Frau war zu Lebzeiten zweifellos jung und sehr schön gewesen. Sie trug ein teures Abendkleid und nicht minder kostspieligen Schmuck. Aber sie war ganz eindeutig tot. Ihre gebrochenen blauen Augen schienen die beiden Zimmermädchen anzustarren.
Die Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Kripo Hamburg arbeitete normalerweise sehr gerne. Aber sie hasste die Wochenend-Rufbereitschaft. Wenn sie diese Art Dienst schieben musste, kam sie sich vor wie eine Gefangene in ihrer Wohnung.
Dabei gab es gewiss zahlreiche Hamburger, die Heike um ihre eigenen vier Wände beneidet hätten. Die Kriminalistin mit der blonden Kurzhaarfrisur lebte in dem schicken Stadtteil Eppendorf, in einem liebevoll restaurierten Altbau. Die Rückfront des Hauses ging auf den Isebek-Kanal hinaus. Heike als waschechte Hamburgerin lebte nämlich gern am Wasser. Verkehrsgünstig gelegen war ihre Wohnung außerdem noch. Zur U-Bahn-Station Eppendorfer Baum musste sie nur wenige hundert Meter zurücklegen. Und in der warmen Jahreszeit fuhr die sportliche Heike ohnehin mit ihrem Mountainbike zum Polizeipräsidium nach Alsterdorf.
An diesem Sonntagmorgen war Heike früh aufgestanden. Eigentlich schlief sie am freien Wochenende ja lieber aus. Aber ein Wochenende mit Rufbereitschaft war eben nicht wirklich frei. Man musste jederzeit damit rechnen, für einen aktuellen Mordfall alarmiert zu werden.
Wie gesagt, Heike schätzte diese Art Dienst nicht. Sie war für eine strikte Trennung von Arbeit und Freizeit. Aber da sie als Polizeibeamtin sich fügen musste, hatte sie allmählich aus der Not eine Tugend gemacht.
Die Rufbereitschafts-Wochenenden nutzte Heike nun immer für einen ausgiebigen Hausputz. Wenn sie schon an ihre Wohnung gefesselt war, weil sie in Hörweite des Telefons bleiben musste, dann konnte sie wenigstens ihre zwei Zimmer, Küche und Bad auf Hochglanz bringen. Das hatte sie aber diesmal schon am Samstag erledigt. Jetzt, am Sonntagmorgen, nahm sie sich nach dem Frühstück eine Bastelarbeit vor, die sie immer wieder aufgeschoben hatte.
Heike wollte für ihr Wohnzimmer eine Art Familienstammbaum mit Fotos machen. Und nun saß sie auf ihrem Sofa und suchte die passenden Aufnahmen heraus.
An Schnappschüssen von ihrem Vater herrschte kein Mangel. Sönke Stein in Uniform, Sönke Stein in Zivil, Sönke Stein, wie er vom Innensenator eine Anerkennungsurkunde erhielt, Sönke Stein auf der Davidwache, die er jahrelang geleitet hatte. Die berühmt-berüchtigte Polizeistation auf St. Pauli war immer noch das Hamburger Revier, auf dem jede Nacht die meisten Gewalttaten zu Protokoll genommen wurden. Ein Polizist auf St. Pauli konnte sich über Beschäftigungsmangel nicht beklagen.
Aber seit einigen Jahren war Heikes Vater nun pensioniert. Zusammen mit ihrer Mutter war er nach Mallorca ausgewandert, wo sie sich von den Ersparnissen eine Eigentumswohnung gekauft hatten. Heike gönnte ihren Eltern den Lebensabend unter südlicher Sonne. Sie selbst wurde in ihrem Dienstalltag allerdings immer wieder unfreiwillig an ihren Vater erinnert.
Sönke Stein war eine Hamburger Polizeilegende, ein Original. Und gerade für viele ältere Kollegen blieb Heike immer nur »Sönkes Tochter«. Das klang dann so, als würden ihre eigenen Leistungen überhaupt nicht zählen. Als wäre sie nur ein Abklatsch ihres Vaters.
Zum Glück war Heike eine selbstbewusste Frau, die sich von solchen Dingen nicht aus der Bahn werfen ließ. Außer, wenn sie mal nicht gut drauf war …
Die junge Hauptkommissarin legte eine Reihe von Fotos nebeneinander. Schließlich entschied sie sich für eine Aufnahme aus den frühen Siebzigerjahren. Darauf war sie selbst als Baby zu sehen.
Das Bild zeigte ihre stolzen Eltern, an den Landungsbrücken im Hafen stehend. Ihr Vater lachte und hatte seine kleine Tochter auf dem Arm. Er trug noch die schöne alte blaue Polizeiuniform mit dem weißen Koppelzeug. Heike hatte die später eingeführte grün-beige Montur immer scheußlich gefunden. Vor allem, als sie selbst in ihrer Zeit bei der Einsatzbereitschaft diese Uniform tragen musste. Jetzt, als Kriminalistin, trat sie ja nur noch in Zivil auf. Aber zum Glück hatte die Stadt Hamburg inzwischen wieder eine neue dunkelblaue Dienstmontur eingeführt, was Heike natürlich begrüßte. Sie legte das ausgewählte Foto ihres Papas einstweilen zur Seite.
Von ihrem Opa Friedhelm Stein gab es bedeutend weniger Aufnahmen. Eigentlich kam nur eine einzige in Frage. Sie zeigte Heikes Großvater als jungen Mann in Uniform, auf dem Gänsemarkt stehend. Damals trug die Polizei noch keine weißen Mützen, sondern jene merkwürdige militärische Kopfbedeckung, die man Tschako nannte. Heike hatte einmal gelesen, dass die Tschakos ursprünglich von ungarischen Husaren getragen worden waren und dann später in vielen europäischen Armee- und Polizei-Einheiten Verwendung fanden.
Im Hintergrund erblickte man altertümliche Autos und Pferdefuhrwerke. Auf der Rückseite des Fotos stand eine handschriftliche Notiz: »Erster Dienst-Tag auf dem Revier Hohe Bleichen, 3. März 1924.«
Heike runzelte die Stirn. Auf dem Foto war ihr Opa noch kein Invalide. Aber nur wenige Jahre später hatte er bei einer Schießerei seinen linken Arm verloren. Damals machten kriminelle Banden Hamburg unsicher. Ja, die goldenen Zwanzigerjahre waren manchmal alles andere als golden gewesen.
Von ihrem Urgroßvater Ernst Stein hatte sie nur ein einziges Foto. Es war ganz offensichtlich in einem Studio aufgenommen worden. Im Hintergrund sah man eine gemalte Ansicht des Hamburger Hafens. Ernst Stein hatte die rechte Hand auf dem Säbelknauf. Sein Gesicht mit dem mächtigen Schnurrbart war der Kamera zugewandt. Auf dem Kopf trug er einen hohen blauen Helm mit Polizeistern, der zur Hamburgischen Uniform des Jahres 1885 gehörte. Damals hieß die Polizei noch Constabler Corps. Ihre Montur ähnelte derjenigen der weltberühmten Londoner Bobbys.
Wieder einmal war Heike stolz, eine so lange Familientradition fortzuführen. Seit fast 200 Jahren sorgten die Steins für Sicherheit und Schutz ihrer Hamburger Mitbürger. Allerdings war Heike die erste Frau in ihrer Familie, die den Polizeiberuf gewählt hatte.
Als die Hauptkommissarin gerade mit dem Aufkleben der Fotos beginnen wollte, klingelte ihr Telefon. Heike griff nach dem Hörer.
»Stein.«
»Hier spricht Magnussen, Frau Stein.«
Das war Kriminaloberrat Dr. Clemens Magnussen, Heikes direkter Vorgesetzter bei der Sonderkommission Mord. Er hatte ebenfalls Wochenenddienst. Und dass er dadurch schlechte Laune hatte, konnte man seiner Stimme deutlich anhören.
»Es hat ein Tötungsdelikt im Hotel Oceana gegeben«, fuhr Heikes Chef fort. »Ich bin hier im Präsidium unabkömmlich. Andere Einsatzkräfte habe ich auch nicht zur Verfügung. Fahren Sie also zum Tatort und nehmen Sie die Ermittlungen auf.«
»Jawohl, Herr Kriminaloberrat«, sagte Heike brav. Sie fragte sich, warum Dr. Magnussen so genervt klang. War sie wieder einmal ins Fettnäpfchen getreten? Hatte sie sich daneben benommen? Daran konnte Heike sich momentan jedenfalls nicht erinnern.
»Und denken Sie daran, Frau Stein – das Hotel Oceana ist keine St. Pauli-Absteige.«
»Das ist mir klar, Herr Dr. Magnussen.«
»Wollen wir es hoffen. Sie werden es dort vermutlich mit hochgestellten Persönlichkeiten zu tun bekommen, die mit Takt und Diskretion behandelt werden wollen.«
»Ich werde mein Bestes geben«, versicherte Heike. Ihr Vorgesetzter knurrte noch etwas Unverständliches und beendete dann das Gespräch. Heike legte ebenfalls auf. Daher wehte also der Wind! Der Kriminaloberrat war bekannt dafür, großen Respekt vor prominenten und reichen Verdächtigen zu haben. Zu großen Respekt, wie Heike fand. Vor dem Gesetz waren schließlich alle Menschen gleich. So sah sie jedenfalls die Dinge. Aber dadurch machte sie sich bei Dr. Magnussen nicht gerade beliebter.
Die Kriminalistin schob ihre Bastelarbeit zur Seite. Das musste nun warten. Sie stand auf und eilte in den Flur. Dort warf Heike noch einen kurzen kritischen Blick in den Spiegel.
Sie trug einen anthrazitfarbenen Hosenanzug mit leicht ausgestellten Beinen und figurbetontem Schnitt. Dazu Riemenpumps und eine hochgeschlossene weiße Seidenbluse. Zweifellos ein Outfit, das elegant genug für das Hotel Oceana ist, dachte Heike ironisch. Außerdem war sie kein Fotomodell, sondern Polizeibeamtin. Daher nahm sie auch ihre Dienstwaffe mit. Heike befestigte den Clipholster ihrer Pistole hinten am Hosenbund. Das Jackett verbarg somit ihre Waffe.
Da es Sonntag war, fuhr die U-Bahn seltener. Heike rief sich telefonisch ein Taxi. Ein eigenes Auto besaß sie nicht, weil es sinnlos war. Im Dienstalltag fuhr sie oft in einem Zivilfahrzeug aus dem Fuhrpark des Präsidiums durch die Stadt. Darin verfügte sie über ein Polizei-Funkgerät, das ein Privat-PKW natürlich nicht hatte. Und in ihrer Freizeit war sie mit Mountainbike und U-Bahn eindeutig fixer.
Das Taxi kam nach wenigen Minuten. Der Fahrer war zum Glück von der schweigsamen Sorte. Außerdem kannte er sich offenbar aus und versuchte nicht, mit Heike eine halbe Stadtrundfahrt zu machen.
Es gab zu viele Taxis in Hamburg. Wer als Fahrer nicht gerade über viele Stammkunden verfügte, konnte sich kaum seinen Lebensunterhalt »auf dem Bock« verdienen. Da lag es nahe, Umwege zu fahren, um den größtmöglichen Betrag aus den Passagieren herauszupressen. Allerdings gab es auch Fahrer, die sich selbst nicht richtig in der Stadt auskannten und daher unabsichtlich Umwege fuhren. Aber an diesem Sonntag hatte Heike einen Chauffeur erwischt, bei dem einfach alles stimmte.
Es war ein sonniger Tag, leicht windig. Der Sommer hatte sich im August noch von seiner besten Seite gezeigt. Aber nun, pünktlich zum 1. September, war es merklich kühler geworden. Heike hatte sich keineswegs zu warm angezogen.
Ehe sie es sich versah, bretterte der Taxifahrer über die Kennedybrücke, die parallel zur Lombardsbrücke die Binnenalster von der Außenalster trennt. Genau hier verläuft der 10. Längengrad östlich von Greenwich. Längen- und Breitengrade der Erdkugel dienen der Navigation von Seeschiffen. In einer Seefahrerstadt wie Hamburg gedachte man dieser Tatsache durch einen gut sichtbaren Messingstreifen am Anfang der Brücke.
Nun kam auch schon das Hotel Oceana in Sicht.
Obwohl Heike gebürtige Hamburgerin war, ließ sie sich immer wieder vom Anblick dieses architektonischen Schmuckstücks gefangen nehmen. Wie ein weißer Felsen ragte das altehrwürdige Hotel an der vielbefahrenen Uferstraße auf. Über dem Schriftzug OCEANA war eine Weltkugel angebracht, die von zwei steinernen Figuren eingerahmt wurde. Waren das Meeresgöttinnen? Obwohl sie unzählige Male an dem Haus vorbeigegangen oder -gefahren war, wusste sie es nicht. Vielleicht würde sie es ja bei ihren Ermittlungen herausbekommen. Aber das Wichtigste war natürlich, den Mörder zu fangen.
Als das Taxi vor dem Oceana hielt, öffnete sofort der Zylindermann die Tür auf Heikes Seite. Als Luxushotel der Spitzenklasse verfügte das Oceana über einen Portier, der in seiner Uniform sehr vornehm wirkte. Er begrüßte die ankommenden Gäste schon vor dem Gebäude, organisierte den Transport des Gepäcks usw. Heike hatte schon als Kind diesen vornehmen Herrn immer nur »Zylindermann« genannt. Heutzutage bezeichnete sie den Portier allerdings nur noch sich selbst gegenüber mit diesem Spitznamen.
Bevor der Zylinderträger sie als neuen Gast willkommen heißen konnte, bezahlte Heike schnell den Taxifahrer und präsentierte ihren Dienstausweis.
»Hauptkommissarin Stein, Kripo Hamburg. Man hat mich wegen eines Verbrechens alarmiert …«
»Ah, Sie gehören auch zu den Herrschaften von der Polizei«, sagte der »Zylindermann«. Er machte einen nervösen Eindruck, was Heike gut verstehen konnte. Es war immer ein Schock für die Menschen, wenn am eigenen Arbeitsplatz oder im eigenen Wohnhaus ein Ermordeter entdeckt wurde. Heike ging davon aus, dass im Oceana nicht sehr oft Verbrechen vorkamen. Ihr selbst fiel auf Anhieb jedenfalls kein Mord ein, der hier in der Vergangenheit begangen worden wäre.
»Der Page wird Sie zu Ihren Kollegen begleiten«, fuhr der Portier fort. Er gab einem ebenfalls uniformierten jungen Burschen ein Zeichen. Dieser trat auf Heike zu und bat sie höflich, ihm zu folgen. Heike nickte lächelnd und betrat mit dem Pagen das Traditionshaus. Zuvor hatte sie mit einem kurzen Seitenblick festgestellt, dass der Kleinbus des Spurensicherungsteams in der Seitenstraße geparkt war.
In der Hotelhalle ging es ruhig und gelassen zu, so weit Heike das beurteilen konnte. Die meisten Gäste hatten offenbar noch nicht mitbekommen, dass hier ein Verbrechen geschehen war.
Man musste schon in den zweiten Stock hinaufsteigen, um eine Bluttat zu ahnen. Dort hielten zwei uniformierte Kollegen vor den Fahrstühlen Wache, um Journalisten und Neugierige vom Tatort fernzuhalten.
»Da kommt Sönkes Tochter«, sagte einer der Polizisten zu dem anderen.
Heike verzog den Mund, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
»Ich bin nicht Sönkes Tochter, sondern die liebe Heike, Rainer. Wie würde es dir gefallen, wenn man dich immer nur Peters Sohn nennen würde?«
»Mein Vater heißt aber gar nicht Peter«, erwiderte der uniformierte Hauptmeister verblüfft.
»Ja, weil bei der Polizei niemand deinen Vater kennt, nehme ich an. Aber ist es meine Schuld, dass mein Vater der bekannteste Bulle von Hamburg war? Jedenfalls freue ich mich, wenn man mich mit meinem eigenen Namen anredet.«
»Alles klar, Heike.«
Die Hauptkommissarin lächelte ihren Kollegen noch freundlich zu und eilte dann zum Tatort weiter. Viel würde sie dort ohnehin noch nicht ausrichten können, denn das Spurensicherungsteam war noch bei der Arbeit. Außerdem erblickte Heike den Gerichtsmediziner Dr. Lehmann. Er untersuchte die Leiche, die bereits vom eigentlichen Fundort entfernt und in einen Zinksarg gelegt worden war.
Heike trat näher. Die Tote war zu Lebzeiten außergewöhnlich hübsch gewesen. Schätzungsweise war sie Mitte zwanzig bis Anfang dreißig. Die Tote hatte blaue Augen und kastanienfarbenes langes Haar. Ihr Make-up war teuer, ebenso ihr Abendkleid. Es war aus lachsfarbener Rohseide gefertigt, vermutlich ein Designer-Modell. Für so etwas hatte Heike einen Blick. Das Kollier und die Armreifen sowie die Armbanduhr der Toten hatten zusammen vermutlich an die 5.000 Euro gekostet. Jedenfalls stammten sie nicht vom Sonderangebotstisch eines Kaufhauses.
»Raubmord können wir also schon mal ausschließen«, sagte Heike laut zu sich selbst. Dr. Lehmann drehte sich um.
»Guten Morgen, Frau Stein«, begrüßte sie der Gerichtsmediziner. Er kam aus seiner knienden Position hoch und gab ihr die Hand. »Schade, dass wir uns immer nur unter so unerfreulichen Umständen treffen.«
»Unerfreulich ist das richtige Wort«, bestätigte Heike. »Können Sie mir schon etwas Näheres sagen, Herr Dr. Lehmann?«
»Oh, eine ganze Menge.« Der Gerichtsmediziner blickte auf seinen Notizblock. »Grob gesagt ist der Tod zwischen Mitternacht und zwei Uhr heute früh eingetreten. Die Frau ist also in der Nacht von Samstag auf Sonntag ermordet worden, Frau Stein. Mordwaffe war eine Strumpfhose. Ein gängiges Modell, nehme ich an. Die Kollegen von der Spurensicherung haben sich die Mordwaffe bereits für die Laboranalyse eingepackt.«
»Dann wurde das Opfer also stranguliert?«, vergewisserte sich Heike.
»Ach so, das habe ich nicht so deutlich gesagt, Frau Stein. Entschuldigung. Ja, die Frau wurde stranguliert. Unter ihren Nägeln werden vermutlich Hautpartikel des Täters sein, falls sie sich gewehrt hat. Das ist momentan noch unklar.«
»Und gefunden wurde die Leiche in der Wäschekammer?«, fragte Heike. Das war ihre Schlussfolgerung, weil die Kollegen von der Technischen Abteilung dort tätig waren. Scheinwerfer tauchten den kleinen fensterlosen Raum in grelles Licht.
Heike bedankte sich zunächst bei dem Gerichtsmediziner und ging dann hinüber zu Paul Sommer, dem obersten Spurensicherer.
»Hallo, Paul. Könnt ihr mir schon was bieten?«
»Hallo, Heike. Das mit der Strumpfhose hast du ja schon mitgekriegt, nehme ich an. Die müssen wir natürlich erst im Labor analysieren. Wir wissen noch nicht genau, wo das Opfer ermordet wurde. Aber nach der Tat hat der Täter die Leiche jedenfalls in die Wäschekammer geworfen.«
»Fingerabdrücke?«, hakte Heike nach.
»Jede Menge. Ich fürchte nur, dass sie alle von gesetzestreuen Gästen und Hotelangestellten stammen. Aber wir registrieren natürlich alle und gleichen sie mit unseren Beständen im Präsidium ab. Ein ähnliches Problem haben wir mit Fußspuren. Wie du siehst
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Bildmaterialien: www.wolkenart.com
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5810-0
Alle Rechte vorbehalten