Bianca Ahlers war sich ihrer Schönheit bewusst. Die Fünfundzwanzigjährige drehte sich vor dem goldgerahmten Wandspiegel, in dem sie ihren ganzen Körper mit einem Blick betrachten konnte. Die langen Beine, die Brüste von Apfelgröße, den zarten Hals sowie das Madonnengesicht, eingerahmt von üppig auf die Schultern wallender dunkler Lockenpracht.
Es war so einfach, den Männern die Köpfe zu verdrehen!
Das dachte Bianca, während sie sich rasch ankleidete. Sie schlüpfte in seidene Dessous, streifte halterlose Strümpfe über ihre Beine und zog einen langen Tweedrock an, der bis zu den Waden reichte. Ein wahrhaft züchtiges Kleidungsstück, zu dem ihr cremefarbener Shetland-Rollkragenpullover passte.
Aber erstens waren schon die ersten Herbststürme über Hamburg gefegt und hatten die Sommergarderobe bis zum nächsten Jahr in die Schränke verbannt. Und zweitens wollte Bianca ihren Feinden nicht durch allzu freizügige Kleidung Argumente in die Hände geben.
Die junge Frau wusste, dass man sie für ein Flittchen hielt. Da war es nicht klug, sich auch noch wie eine Bitch zu kleiden.
Entsprechend dezent fiel auch ihr Make-up aus. Nur etwas Eyeliner und Hautcreme, das musste reichen. Einen Lippenstift benutzte Bianca niemals, denn ihr sinnlicher Mund war naturrot.
Plötzlich bewegte sich etwas hinter ihr!
Bianca schrak zusammen. Aber gleich darauf lächelte sie beruhigt. Sie stand mit dem Rücken zu dem großen Fenster ihres Zimmers. Und sie hatte im Spiegel nichts anderes gesehen als ein Frachtschiff, das aus dem Hamburger Hafen auslief.
Die junge Frau lebte nun schon seit einigen Wochen in dieser prächtigen Villa an der Elbchaussee. Aber noch hatte sie sich nicht daran gewöhnt, von ihrem Fenster aus einen Panoramablick auf den bedeutenden Seeweg zu haben.
Jedes Schiff, das den größten deutschen Hafen ansteuerte, musste unter ihrem Fenster vorbeifahren. Andere Menschen hätten vielleicht Fernweh bekommen, wenn sie die Wasserfahrzeuge aus fernen Ländern vorbeifahren sahen. Frachter aus Indien und Kanada, aus Japan und Ägypten und vielen anderen Ländern zogen an der weißen prunkvollen Villa vorbei.
Aber Bianca Ahlers dachte nicht so. Sie wollte nirgendwo anders sein als dort, wo sie sich zurzeit aufhielt. Und dafür hatte sie gute Gründe.
Einer der reichsten Männer Hamburgs war in sie verliebt!
Die junge Frau konnte es immer noch nicht richtig fassen. Voller Wärme dachte sie an ihn. Gewiss, es gab jüngere Männer als ihn. Und gewiss auch schönere.
Aber dieser Gentleman behandelte sie wie eine Prinzessin und verwöhnte sie so, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte.
Da fiel ihr Blick auf die schmale edelsteinbesetzte Damen-Armbanduhr, die er ihr geschenkt hatte. Er erwartete sie in fünf Minuten!
Unpünktlichkeit schätzte ihr Liebhaber nicht, aber sie würde ihn nicht warten lassen. Schließlich hielt er sich im selben Haus auf, in seiner eigenen herrschaftlichen Villa. Bianca musste nur die Treppe vom ersten Stockwerk ins Erdgeschoss hinabsteigen.
Sie schlüpfte noch in ihre wildledernen hochhackigen Pumps, in denen sie fast so groß war wie ihr hoch gewachsener Freund.
Die junge Frau verließ ihr Zimmer. Der persische Läufer auf dem Gang dämpfte ihre Schritte. An den Wänden hingen Portraits von düster dreinblickenden Männern mit Vollbärten und Hanseatenkrausen. So wurden die wagenradgroßen runden Kragen genannt, die in früheren Zeiten Hamburgs Ratsmitglieder und andere ehrenwerte Bürger um ihre Hälse trugen.
Wenn Bianca diese gemalten Gestalten erblickte, die zum größten Teil seit mehreren hundert Jahren tot waren, wurde ihr ihre eigene Jugend erst so richtig bewusst.
Die junge Frau erreichte das Erdgeschoss und durchquerte die große Empfangshalle mit dem Marmor-Fußboden. Keiner der anderen Hausbewohner begegnete ihr. Ob absichtlich oder zufällig – Bianca wusste genau, dass sie von dem Rest der Familie und dem Personal geschnitten wurde. Sie war nicht dumm, auch wenn ihre Feinde sie dafür hielten.
Bianca klopfte an die dicke eichene Kastentür, hinter der sich das Arbeitszimmer ihres Liebhabers befand.
Keine Reaktion.
Sie wartete fast eine Minute lang, dann klopfte sie lauter. Es war nun schon fast zwei Minuten nach drei Uhr. Plötzlich beschlich Bianca ein mulmiges Gefühl. Es musste etwas passiert sein. Ihr Freund war ein Mann mit festen Gewohnheiten. Wenn er einen Termin nicht einhalten konnte, sagte er frühzeitig ab.
Bianca hielt die Ungewissheit nicht mehr aus. Sie drückte die Türklinke hinunter. Es war nicht abgeschlossen. Die junge Frau tat einen Schritt hinein in den Raum.
Sie erblickte ihren Liebhaber sofort. Sein leerer Blick starrte an ihr vorbei. Der Oberkörper des Mannes war auf den Schreibtisch gesunken, an dem er saß. Sogar seinen Füllfederhalter hatte er noch in der Hand, die auf der grünen Schreibtischunterlage ruhte.
Um seinen Hals war eine dicke Vorhangkordel geschlungen. Man musste kein Detektiv sein, um zu erkennen, dass der Mann erwürgt worden war.
Bianca Ahlers benötigte nur wenige Sekunden, um all diese Einzelheiten wahrzunehmen. Dann schlug sie voller Entsetzen die Hände vor die Augen und schrie und schrie und schrie.
Der Alarm kam mit einem Fausthieb.
Die Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Kripo Hamburg hatte eigentlich freies Wochenende. Das war ihr an diesem Samstag und Sonntag besonders wichtig, denn sie ließ eine Prüfung über sich ergehen.
Kung Fu war das Hobby der Kriminalistin mit der frechen blonden Kurzhaarfrisur. Seit Jahren trainierte sie in der Schule von Meister Fu die jahrtausendealte chinesische Kunst des waffenlosen Kampfes. Und da sie nicht nur aus Spaß an der Freude die verschiedenen Schläge und Tritte lernte, nahm sie natürlich auch an Qualifizierungen teil.
An diesem Wochenende hatte sie die Chance, in den nächsthöheren Schülergrad aufzusteigen. Großmeister Wong war nämlich direkt aus China angereist, um die Fähigkeiten der Kung-Fu-Kämpfer zu prüfen und bei Erfolg ihre Urkunden auszustellen.
Gerade jetzt musste sich Heike einer Übung stellen, die den Riesen-Feindeskreis durchbrechen hieß. Hierfür wurde die Kriminalistin von neun oder zehn ihrer Mit-Kämpferinnen und -kämpfer umringt. Diese mussten alles tun, damit Heike nicht entkommen konnte. Und die blonde Hamburgerin wiederum musste versuchen, die Umringung zu durchbrechen. Es war Teil ihrer Prüfung für den nächsthöheren Schülergrad.
Heike begann mit einem klassischen Fausthieb. Da ertönte plötzlich die Stimme ihres Meisters.
»Heike, meine Tochter. Deine Dienststelle hat angerufen. Du musst sofort kommen. Es ist dringend, heißt es.«
Für einen Moment fragte sich Heike, ob das ein Trick wäre, der zur Prüfung gehörte. Aber mit solchen Dingen machte Meister Fu keine Witze. Der Chinese wusste, dass sie Polizeibeamtin war. Und außerdem wurde sie nicht zum ersten Mal in ihrer Freizeit ins Präsidium zitiert.
Auch ihre Mitschüler hatten verstanden, dass die Übung nun zu Ende war. Nur Großmeister Wong, der kein Deutsch sprach, schien sich etwas zu wundern. Heike eilte zum Büro, das sich neben dem Dojo, der Trainingshalle, befand. Meister Fu hatte den Telefonhörer neben den Apparat gelegt.
Heike griff danach.
»Stein!«, rief sie etwas außer Atem.
»Hier spricht Ben.« Das war Ben Wilken, ebenfalls Hauptkommissar bei der Kripo Hamburg. Er war Heikes Dienstpartner. Sie lösten die meisten ihrer Fälle gemeinsam. »Tut mir leid, dass ich dich stören muss, Heike. Ich hatte mich auch auf das Wochenende gefreut, wollte mit unserer Kleinen heute ein Kinderbeet für sie im Garten anlegen. Na ja, nicht zu ändern. – Es hat einen Mord in Blankenese gegeben.«
»Wo denn genau?«
»An der Elbchaussee.«
Die Kriminalistin dachte kurz nach. Die Elbchaussee war eine der ersten Adressen von Hamburg. Wer dort wohnte, hatte den gesellschaftlichen Aufstiegnicht selbst geschafft. Das hatten seine Vorfahren für ihn erledigt, meist schon vor vielen hundert Jahren. An der Elbchaussee wohnten die alteingesessenen Patrizierfamilien, die Hamburg zu einer der reichsten Städte Europas gemacht hatten.
»Du sagst ja gar nichts mehr, Heike.«
»Ich habe nur gedacht, dass dieser Fall uns wahrscheinlich in die höchsten Gesellschaftskreise führen wird.«
»Richtig kombiniert, Frau Kollegin. Also zieh’ eine frisch gebügelte Bluse an.«
»Deine Witze waren auch schon mal besser, mein Lieber. Holst du mich ab?«
»Sicher. In zehn Minuten vor der Kampfkunstschule?«
»Ja, das schaffe ich.«
Heike verabschiedete sich schweren Herzens von ihren Kameraden und Meistern. Nun würde sie mit der Prüfung warten müssen, bis Großmeister Wong wieder mal nach Europa kam. Aber die Pflicht ging selbstverständlich vor.
Die Kripo-Beamtin eilte in die Damen-Umkleide und zog sich im Eiltempo um. Sie vertauschte ihre schwarze Tai-Chi-Hose und das weiße T-Shirt gegen Jeans, rostfarbenen Pullover und Tweed-Jackett. Außerdem hatte Heike in den Spind auch ihre Dienstwaffe eingeschlossen. Diese trug sie üblicherweise in einem Clipholster am Hosen- oder Rockbund. Ihren Dienstausweis hatte sie ebenfalls immer bei sich. Es kam eben nicht gerade selten vor, dass sie aus ihrer Freizeit in einen Einsatz gerufen wurde.
Als Heike die Kampfsportschule Yin und Yang verließ, fuhr gerade ein 3er BMW an den Straßenrand. Ben Wilken saß am Steuer. Er öffnete die Beifahrertür, und Heike ließ sich auf den Sitz neben ihm fallen. Ihre Tasche mit den Sportklamotten pfefferte sie in den Fond des Wagens.
Heike pfiff undamenhaft durch die Zähne, während ihr Kollege den Wagen wieder auf Trab brachte.
»Hast du dir gedacht, dass wir mehr Eindruck schinden, wenn wir auf der Elbchaussee mit einer standesgemäßen Karosse anrollen?«
Der Hauptkommissar lachte leise.
»Das hat mit Eindruck schinden nichts zu tun, Heike. Das hier war das einzige Zivilfahrzeug, das die Fahrbereitschaft mir heute zu bieten hatte. Wenn sie nur einen uralten Golf dagehabt hätten, würden wir in so einer Karre nach Blankenese rollen. – Schönen Gruß übrigens von Dr. Magnussen. Es täte ihm leid, uns das Wochenende zu vermiesen. Aber die eigentlichen Wachhabenden haben bereits einen anderen Fall.«
Heike nickte. Dr. Clemens Magnussen war ihr gemeinsamer Vorgesetzter. Wenn ihre Kollegen, die den regulären Wochenenddienst schoben, ausgelastet waren, dann mussten eben andere Beamte aus der Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes ran. Diesmal hatte es eben Ben und sie getroffen.
»Weißt du schon Näheres?«, fragte die Hauptkommissarin, während der BMW elbabwärts am Ufer entlang fuhr. Es war, als würde man in eine andere Welt eintauchen.
Heikes Kampfsportschule lag im tiefsten St. Pauli, dem weltbekannten Vergnügungsviertel. Doch St. Pauli war auch traditionell eine Arme-Leute-Gegend, wo zahlreiche Menschen jeden Cent drei Mal umdrehen mussten, bevor sie ihn ausgaben.
Auch Altona, das sie wenig später durchquerten, gehörte nicht gerade zu den vornehmen Vierteln der Hansestadt. Doch als der BMW an der Palmaille das Neue Rathaus Altona hinter sich ließ, begann die Elbchaussee. Am Anfang machte die Straße noch einen recht bescheidenen Eindruck. Doch je weiter sie nach Westen vordrangen, desto größer wurden die Grundstücke und die beeindruckenden Villen.
Zwischen der Elbchaussee und dem eigentlichen Ufer befanden sich schmale Parks wie der Donnerspark und der Hindenburg-Park. Wegen der Hanglage hatten die meisten Villenbesitzer einen unverbaubaren Panoramablick auf den mächtigen Strom.
»Ich weiß nur, dass ein gewisser Hermann Lorenzen ermordet wurde«, nahm Ben Heikes Frage auf. »Und der Name sagt dir als Hamburgerin ja gewiss etwas.«
»Das kann man wohl sagen«, stöhnte Heike. »Einer der reichsten und mächtigsten Männer unserer Stadt, uralte Schiffsreeder-Sippe ... oh, Dr. Magnussen wird uns den letzten Nerv rauben!«
Heikes und Bens Vorgesetzter war bekannt dafür, dass er sich Fälle mit reichen und prominenten Opfern immer besonders zu Herzen nahm. Weniger freundlich ausgedrückt: Er hatte Angst, sich in die Nesseln zu setzen, und übte deshalb gewaltigen Druck auf seine Untergebenen aus.
Die richtige Adresse war nicht schwer zu finden. Erstens sah die weiße Villa der Reederfamilie noch beeindruckender aus als die Bauten ihrer Nachbarn. Und zweitens parkten einige Einsatzfahrzeuge vor dem Anwesen, unter anderem der Kleinbus des Spurensicherungsteams.
Zwei uniformierte Kollegen hielten Wache, um Presse und Neugierige fernzuhalten. Ben parkte, und die beiden Kriminalisten stiegen aus und gingen auf die Streifenbeamten zu.
Doch bevor sie ihre blauen Kripo-Ausweise zückten, sagte der eine Uniformierte zum anderen: »Guck’ mal, das ist Sönkes Tochter! Von der hab’ ich dir doch schon erzählt!«
Heike verzog den Mund, als ob sie in eine saure Zitrone gebissen hätte. Es stimmte, sie war die Tochter von Sönke Stein. Dem Sönke Stein, den jeder Hamburger Schutz- und Kriminalpolizist kannte. Heikes Vater war vor seiner wohlverdienten Pensionierung Revierleiter der berühmt-berüchtigten Davidwache auf St. Pauli gewesen – jenem legendären Polizeikommissariat 15, das sogar in den USA bekannt war. Und das nicht nur, weil jenseits des Großen Teichs eine Biermarke namens St. Pauli Girl existierte ... Jedenfalls genoss Sönke Stein immer noch einen Ruf als Kult-Polizist und Hamburger Original.
Und weil das so war, stand Heike bewusst oder unbewusst im Schatten ihres berühmten Vaters. Wenn sie schlechte Laune hatte, litt sie darunter, dass sie für viele Polizisten immer nur »Sönkes Tochter« bleiben würde.
Der zweite Udel, der Heike noch nicht kannte, war offenbar ein Neuling. Er starrte sie an, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern.
»Haltet die Stellung, Jungs!«, sagte Heike locker und eilte mit Ben an ihrer Seite durch das Gartentor auf das Gebäude zu.
In der Lorenzen-Villa herrschte absolutes Chaos. Das Spurensicherungsteam war bei der Arbeit. Ein Polizei-Fotograf lichtete die Leiche ab. Angehörige und wahrscheinlich auch andere Hausbewohner und Bedienstete redeten aufgeregt untereinander und auch mit einigen weiteren Polizisten, die sich am Tatort versammelt hatten.
Heike und Ben hängten ihre Kripo-Ausweise an ihre Revers, um sich nicht dauernd legitimieren zu müssen.
Zwei Männer in Overalls hoben die Leiche in einen Zinksarg, während eine ältere Frau aufschluchzte. Heike ging auf sie zu und berührte sie leicht am Ellenbogen.
»Guten Tag. Ich bin Hauptkommissarin Stein von der Kripo Hamburg. Ich möchte Ihnen meine aufrichtige Teilnahme aussprechen. Sind Sie die Witwe des Ermordeten?«
Die Dame musterte Heike mit einem abschätzigen Blick. Eben noch hatte sie ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Doch nun setzte sie wieder das übliche Pokergesicht auf, das Heike von den Mitgliedern der feinen Gesellschaft Hamburgs bereits zur Genüge kannte. Eine Miene, die angemessen war, wenn man es mit Dienstboten zu tun hatte. Und Heike war sich im Klaren darüber, dass sie als Polizeibeamtin sich ebenfalls zu denjenigen zählen durfte, die sozial weit unter der Blankeneser Patrizierin standen.
Die Witwe des Schiffsreeders war schätzungsweise so alt wie Heikes eigene Mutter, nämlich Anfang sechzig. Doch unzählige Aufenthalte in Schönheitssalons und vermutlich auch bei einschlägigen Chirurgen hatten ihre Haut fast jugendlich gehalten.
Doch dem geschulten Auge einer Kripo-Beamtin konnte die Dame nichts vormachen. Heike erkannte sofort, ob jemand wirklich noch jung war oder sich nur auf jugendlich trimmte.
Die Witwe trug ein elegantes Kostüm, das nicht besonders bequem wirkte. Aber vielleicht gehörte sie zu den Leuten, die es sich auch zu Hause niemals gemütlich machen dürfen, weil sie ständig mit Besuch rechnen müssen. Das war sogar mehr als wahrscheinlich.
»Ja, Frau Stein, ich bin Mathilde Lorenzen, die Witwe des Ermordeten.«
Sie tupfte mit einem spitzenbesetzten Taschentuch noch eine letzte Träne aus ihrem Augenwinkel.
»Haben Sie auch ... den Toten gefunden?«, wollte Heike wissen. Sie zückte ihren Notizblock.
»Nein, das war diese ... diese Person!«
»Wen meinen Sie damit, Frau Lorenzen?«
Ben, der inzwischen mit einigen anderen Leuten geredet hatte, ging dicht an Heike vorbei. Er beantwortete die Frage seiner Kollegin an Stelle der Witwe.
»Bianca Ahlers. Sie lebt ebenfalls hier im Haus. Sie hat um 15.03 Uhr den Toten gefunden und sofort die übrigen Hausbewohner herbeigerufen. Dann musste sie mit einem Schock ins AKH Altona eingeliefert werden. Sie ist für die Reederei Lorenzen als Übersetzerin tätig.«
Es entging der Kripo-Beamtin nicht, dass Mathilde Lorenzen die Worte von Ben Wilken mit einem ironischen Schnauben kommentierte.
Heike nahm die Witwe beiseite. Sie führte die ältere Dame in einen anderen Raum, der offensichtlich als Bibliothek diente. In Holzregalen stapelten sich wertvoll aussehende Bücher aus früheren Jahrhunderten, aber auch einige neue Werke.
»Es schien so, als hätten Sie an der Information meines Kollegen etwas auszusetzen, Frau Lorenzen.«
»Eigentlich nichts, Frau Stein – so heißen Sie doch, nicht wahr? Ihr Kollege kann natürlich nicht wissen, dass Bianca Ahlers hier im Haus gelebt hat, um ... Ach, Sie werden es ja doch früher oder später erfahren. Warum dann nicht gleich von mir. – Bianca Ahlers war die Geliebte meines Mannes!«
Heike beobachtete fasziniert, wie kühl und sachlich diese Frau nun mit ihr, der Kriminalbeamtin, sprach. Kein Zweifel, Mathilde Lorenzen hatte sich in der Gewalt. Ihre Tränen vorhin waren vermutlich nur ein einmaliger Ausrutscher, hervorgerufen durch die völlig neue Situation. Aber jetzt hatte sie alles wieder im Griff.
Heike waren solche Menschen oftmals unheimlich. Man konnte schwer beurteilen, was wirklich in ihnen vorging. Wenn sie dann eines Tages »explodierten«, war ihre Umwelt verblüfft und erschüttert zugleich.
»Bianca Ahlers hatte also ein Verhältnis mit Ihrem Mann?«, vergewisserte sich Heike. Sie wollte verhindern, etwas falsch verstanden zu haben. Immerhin ging es hier um Mord.
Die Frau des Opfers machte eine zustimmende Geste.
»Ja, die Ahlers hat seit einiger Zeit sogar ganz offen hier im Haus gewohnt. Sie hatte ein eigenes Zimmer, aber das war natürlich, um nach außen den Schein zu wahren. In Wirklichkeit wird mein Mann jede Nacht in ihren Armen gelegen haben. Ich weiß es nicht, Hermann und ich hatten schon seit längerer Zeit getrennte Schlafzimmer. Offiziell wurde die Ahlers jedenfalls als Übersetzerin für Texte aus der englischen Sprache beschäftigt.«
»Und das war sie nicht?«
»Das mag sie durchaus gewesen sein, Frau Kommissarin. Aber mein Mann war im Reedereigeschäft tätig. Dort ist nun einmal Englisch die offizielle Verkehrssprache. Wenn mein Mann persönlich oder telefonisch mit Kunden zu tun hatte, sprach er fließend sein
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Bildmaterialien: www.klauddesign.com
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2016
ISBN: 978-3-7396-5106-4
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