Nichts deutete auf ein Verbrechen hin, als der stahlblau lackierte Ford Mondeo im Radfahrertempo über die Oberbaumbrücke glitt.
Diese Brücke war eine von rund dreitausend, die in der Hansestadt Hamburg über Flüsse und Kanäle, Fleete und Bassins gebaut sind. Der Mondeo steuerte auf die historische Speicherstadt zu, ein städtebauliches Denkmal aus dem 19. Jahrhundert.
Doch Markus Sturm und Hinnerk Bruns hatten für die liebevoll restaurierten Häuser aus roten Ziegeln kaum einen Blick übrig. Der Fahrer und der Beifahrer des Mondeo widmeten sich dem Thema Nummer eins. Jener Gesprächsstoff, der Männern nie ausgeht, wenn sie unter sich sind.
»Für mich ist klar, dass der HSV auch dieses Jahr nicht absteigen wird!«, sagte Markus Sturm.
»Da träumst du wohl von«, entgegnete Hinnerk Bruns. »Mit der Gurkentruppe – niemals! Aber St. Pauli wird beim nächsten Spiel zeigen, wo der Hammer hängt!«
Sturm und Bruns waren Kollegen. Sie arbeiteten als Wachmänner für den privaten Sicherheitsdienst Schutz & Sicherheit GmbH, der von albernen Leuten Schusi genannt wird. Beide trugen die graublaue Fantasieuniform ihres Arbeitgebers, zu der auch ein dunkelblaues Barett gehörte. Der Ford Mondeo war ihr Dienstwagen, was man an dem Schutz & Sicherheit-Emblem auf den Wagentüren deutlich erkennen konnte. Außerdem verfügte das Auto noch über eine Funkanlage, mit der sie Kontakt zur Firmenzentrale in Hamburg-Lokstedt halten konnten.
Die beiden Männer verstanden sich eigentlich ganz gut. Nur beim Thema Fußball waren sie wie Feuer und Wasser, unvereinbare Gegensätze. Denn Markus Sturm war HSV-Fan, während Hinnerk Bruns dem anderen Hamburger Kult-Klub, dem 1. FC St. Pauli, die Treue hielt. Und diese jeweilige Vorliebe war beinahe schon ein Glaubensbekenntnis oder eine Weltanschauung.
»Du spinnst doch«, knurrte Sturm, der am Lenkrad saß. Er steuerte direkt auf das Speicherstadt-Museum zu. »Beim letzten Spiel hat sich St. Pauli ja wohl voll blamiert! Wie kann man sich in der dreiunddreißigsten Minute ...«
»Halt’ die Klappe!«, rief Bruns, der trotz aller Fußball-Leidenschaft seinen Job etwas ernster nahm als sein Kollege. »Da, beim Museum!«
»Lenk’ nicht ab«, sagte Sturm unbeirrt. »Was ich meinte, war ...«
»Die Tür steht offen, du Dösbaddel!«, schnappte Bruns und bezeichnete mit diesem Hamburger Ausdruck seinen Kollegen als geistig eher langsamen Menschen. Aber Sturm nahm an der Beleidigung keinen Anstoß. Denn nun endlich bemerkte er auch, was los war.
Die Tür zum Speicherstadt-Museum war nur angelehnt. Und das war um halb fünf Uhr morgens mehr als verdächtig. Denn um diese Uhrzeit hatte das Museum natürlich noch lange nicht geöffnet.
Die Schutz & Sicherheit GmbH war für die Überwachung des gesamten Speicherstadt-Komplexes verantwortlich. Insofern waren die Wachmänner jetzt alarmiert. Sturm ließ den Mondeo vor dem Museum ausrollen und bremste. Kein anderes Auto war zu sehen, weder geparkt noch in voller Fahrt. Die Tür stand immer noch offen. Ein Irrtum war ausgeschlossen.
»Wir sollten uns die Sache mal näher ansehen«, meinte Bruns tatendurstig. Er stieg aus. Die Wachleute waren unbewaffnet, was Schusswaffen anging. Aber sie hatten lange klobige Taschenlampen an ihren Koppeln hängen, die man problemlos als Schlagwerkzeuge umfunktionieren konnte. Außerdem verfügten sie natürlich über Handys, mit denen sie die Polizei verständigen konnten. Die nächste Revierwache befand sich am Brooktor. Die Beamten konnten innerhalb von höchstens fünf Minuten anrücken.
Bruns jedenfalls war kein besonders ängstlicher Mensch. Er packte seine Taschenlampe fester und ging auf die angelehnte Museumstür zu. Er trug schwarze dünne Lederhandschuhe. Das sah nicht nur cool aus, sondern hielt die Hände warm auf den langen Patrouillenfahrten, wenn die Extremitäten vor lauter Bewegungsmangel einzuschlafen drohten.
Sturm war seinem Beispiel gefolgt und eilte hinter seinem Kameraden her. Bruns stieß mit der Taschenlampe die Tür vorsichtig etwas weiter auf.
Die Frau lag auf dem Boden, die Beine leicht angewinkelt. Sie trug ein pastellfarbenes Sommer-Minikleid, das den Außentemperaturen angemessen war. Seit Tagen strahlte der Hochsommer über Hamburg, die Menschen saßen an Alster und Elbe oder auf den Terrassen und genossen den Sonnenschein. Doch diese blonde Frau würde das Himmelsgestirn nie mehr sehen. Das war Bruns auf den ersten Blick klar. Sein Kollege war etwas begriffsstutziger.
»Das gibt’s doch nicht!«, meckerte Sturm. »Jetzt brechen die Leute schon ins Museum ein, um ihren Rausch ausschlafen zu können! Die sollten wir ...«
»Hast du Tomaten auf den Augen?«, knurrte Bruns. »Siehst du nicht das Messer, das in ihrer Brust steckt? Nee, Kollege – das ist nichts für uns. Da sollen mal gleich die Udels ran!«
Heike Stein war eine Udel, wie die Polizistinnen und Polizisten in Hamburg traditionell und liebevoll-spöttisch genannt werden. Genauer gesagt war sie Kriminalhauptkommissarin bei der Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes Hamburg. Außerdem hatte sie an diesem frühen Morgen Bereitschaftsdienst.
Daher traf sie bereits zwanzig Minuten nach den beiden Privat-Wachleuten am Tatort ein. Sie war mit einem zivilen Opel Vectra aus der Fahrbereitschaft direkt vom Polizeipräsidium in Alsterdorf hinunter zur Wandrahm-Insel gedüst, wo sich das Speicherstadt-Museum befand. Heike parkte direkt neben einem Streifenwagen der Brooktor-Revierwache. Die blau uniformierten Kollegen sperrten den Museumsvorplatz mit rot-weiß gestreiftem Tatortband ab.
»He, Sie können hier nicht Ihre Karre abstellen!«, rief ein junger Polizist, der anscheinend gerade erst der Ausbildung entschlüpft war.
»Klar kann die!«, klärte ihn ein älterer Kollege auf. »Das ist eine von uns, kapiert? Außerdem ist sie auch noch Sönkes Tochter!«
Heike verzog unwillig den Mund. Es würde ihr wohl immer wieder unter die Nase gerieben werden, dass ihr Vater einer der berühmtesten Polizisten der Hansestadt war. Jeder Udel, selbst der unerfahrenste Frischling, konnte mit dem Namen Sönke Stein etwas anfangen. Vor seiner Pensionierung war Heikes Vater Revierleiter der berühmt-berüchtigten Davidwache auf St. Pauli gewesen.
Das legendäre Polizeikommissariat 15 befand sich in einem roten Backsteinbau aus dem Jahre 1914. Das an der Ecke Davidstraße und Spielbudenplatz gelegene Gebäude war weltweit aus zahlreichen Filmen und Fernsehserien bekannt. Die Wirklichkeit in einem Problemstadtteil mit extrem hoher Gewaltkriminalität war allerdings weitaus weniger romantisch als jene fiktionalen Darstellungen. Sönke Stein hatte es immerhin geschafft, mehr oder weniger unversehrt das Pensionsalter zu erreichen und dank seiner Tatkraft und Entschlossenheit eine lebende Legende der Hamburger Ordnungsbehörde zu werden.
Und Heike? Sie würde wohl in alle Ewigkeit »Sönkes Tochter« bleiben. Ihre eigenen Leistungen zählten da nicht.
Die Kriminalistin fuhr sich durch ihre blonde Kurzhaarfrisur, als ob sie die trüben Gedanken wegwischen wollte. Sie hatte keinen Grund zum Jammern, sondern vielmehr einen neuen Fall. Jedenfalls sah es ganz so aus.
Heike fröstelte, als sie über das Kopfsteinpflaster des Vorplatzes auf den Museumseingang zueilte. Sie trug an diesem frühen Morgen ein hellgraues Mini-Kostüm aus Baumwollstoff, dazu eine ärmellose Bluse und keine Strümpfe. Damit war sie um diese Tageszeit zwar eindeutig zu dünn angezogen. Doch wenn sich das sommerliche Hochdruckgebiet über Norddeutschland weiter hielt, würde sie im weiteren Tagesverlauf froh über ihr Outfit sein.
Die Kostümjacke konnte sie ohnehin nicht ablegen. Schließlich verbarg sich darunter in einem Clipholster am Rockbund ihre Pistole.
Heike befestigte ihren Dienstausweis an ihrem Revers, falls noch mehr Leute in der Nähe waren, die sie nicht kannten. Doch an der Fundstelle der Leiche erblickte sie fast nur bekannte Gesichter. Abgesehen natürlich von der Toten selbst.
Da waren Dr. Lehmann, ein Gerichtsmediziner. Er kauerte neben der Leiche, hob ein Augenlid und leuchtete mit einer Stablampe in die Pupille. Im Hintergrund werkelten bereits Paul Sommer und seine Leute. Er arbeitete als Leiter des Spurensicherungsteams.
»Guten Morgen, Frau Stein«, sagte Dr. Lehmann, indem er kurz aufblickte. »Ich bin auch gerade eben erst gekommen. Tod durch Gewalteinwirkung, so viel kann ich Ihnen schon sagen.«
Um das beurteilen zu können, musste man kein Gerichtsmediziner sein, fand Heike. Jedenfalls war der Messergriff, der im Brustkorb der Toten steckte, nicht zu übersehen. Aber die Hauptkommissarin hütete ihre Zunge. Nach so einer unbedachten Bemerkung konnte Dr. Lehmann wochenlang die beleidigte Leberwurst spielen. Und das war nicht hilfreich, wenn man mit ihm zusammenarbeiten musste.
Daher sagte Heike mit bewunderndem Unterton: »Das haben Sie aber schnell herausgefunden, Herr Doktor!«
Der Gerichtsmediziner war für Schmeicheleien immer empfänglich. Besonders, wenn er sie von attraktiven jungen Frauen wie Heike bekam. Schmunzelnd richtete er sich auf.
»Ich könnte Ihnen sogar mit aller gebotenen Vorsicht noch einen weiteren Anhaltspunkt liefern, Frau Stein«, sagte er und warf sich in die Brust.
»Wirklich?« Heike hoffte, dass sie nicht allzu lange Interesse heucheln musste. Die Selbstgefälligkeit des Pathologen ging ihr nämlich schon jetzt auf den Wecker.
»Ja, ich vermute einen Profi hinter diesem Tötungsdelikt. Damit meine ich jemanden, der genau weiß, wie er eine Stichwaffe zu führen hat, um das Herz zu treffen. Sehen Sie, es gibt nur eine einzige Einstichwunde. Der Täter hat sofort die Aorta durchstoßen. Das Opfer muss auf der Stelle tot gewesen sein.«
Dann hat sie wenigstens nicht allzu sehr leiden müssen, dachte Heike. Aber sie sagte: »Wahrscheinlich kann man dann auch eine Tat im Affekt ausschließen. Wenn der Täter die Nerven verliert, fuhrwerkt er doch meist blindwütig mit der Waffe herum.«
»Für Schlussfolgerungen sind Sie zuständig, Frau Stein«, sagte der Gerichtsmediziner mit schlecht gespielter Bescheidenheit. »Einstweilen ist meine Arbeit hier abgeschlossen. Weitere Ergebnisse kann ich Ihnen erst nach der offiziellen Obduktion liefern, Frau Hauptkommissarin.«
Heike zückte ihr Notizbuch.
»Sie waren mir schon eine große Hilfe, Dr. Lehmann. – Eine Frage noch: Wann in etwa ist der Tod eingetreten?«
»Schätzungsweise zwischen Mitternacht und drei Uhr früh. Aber das kann ich wirklich erst nach einer Untersuchung in der Gerichtsmedizin sagen.«
»Liegt ein Sexualdelikt vor?«, fragte Heike.
»Darauf deutet nichts hin. Wie Sie sehen, ist das Opfer vollständig bekleidet. Aber ob sie in den Stunden vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte – ob freiwillig oder erzwungen – kann ich hier vor Ort unmöglich feststellen. Ich muss wieder einmal an Ihre Geduld appellieren, Frau Stein.«
Dr. Lehmann lachte, als ob er einen besonders guten Witz gemacht hätte. Heike rang sich ein Grinsen ab. Dann ging sie hinüber zu dem Leiter des Spurensicherungsteams.
»Habt ihr schon etwas für mich, Paul?«
»Nicht der Rede wert, Heike«, meinte Sommer. »Jedenfalls ist der Fundort der Leiche nicht der Tatort. So viel steht jetzt schon fest.«
Heike warf einen nachdenklichen Blick auf die weibliche Leiche. Es sah so aus, als würde sie nur schlafen. Wenn da nicht der Messergriff in ihrer Brust gewesen wäre. Die Waffe steckte immer noch dort, wo der Täter – oder die Täterin – sie hineingerammt hatte.
Die Tote trug ein leichtes pastellfarbenes Kleid, das den Außentemperaturen angemessen war. An ihren Füßen hatte sie Flip-Flops. Wie durch ein Wunder waren die leichten Sandalen nicht von den bloßen Füßen gerutscht.
»Man hat sie also einfach dorthin geworfen wie einen Sack Lumpen?« Heike spürte die Wut in sich aufsteigen, was natürlich nicht gerade professionell war. Aber sie war eben auch nur ein Mensch. Gewiss, die Kriminalistin hatte Leichen gesehen, die schlimmer zugerichtet waren als diese. Immerhin hatte die unbekannte junge Frau einen leichten Tod gehabt.
Aber trotzdem war sie ermordet worden. Es kam Heike so vor, als ob der unbekannte Täter sie sich buchstäblich vom Hals geschafft hätte. Umgebracht und fortgeschafft. Aber warum ausgerechnet in den Eingangsbereich eines geschlossenen Museums?
»Verwertbare Spuren sind hier extrem schwer zu finden.« Mit diesen Worten riss Paul Sommer sie aus ihren Überlegungen. »Tagsüber wird das Speicherstadt-Museum von Tausenden von Menschen besucht.«
»Ich verstehe nicht ganz, weshalb ihr dann trotzdem wissen könnt, dass sie nicht hier umgebracht wurde«, gab Heike zu bedenken.
»Wegen der Sturzbahn.« Der Kriminaltechniker demonstrierte, was er meinte. »Die Tote liegt dort hinten. Wenn sie erstochen wurde, muss sie ungefähr hier gestanden haben.« Er stellte sich an die passende Stelle. »Ein menschlicher Körper ist keine Margarinepackung, Heike. Wenn du ein Messer in einen Brustkorb rammst, brauchst du viel Kraft. Besonders, wenn das Messer bis zum Heft in der Brust stecken bleibt. Jedenfalls geht das nie ohne Blutspritzer, selbst wenn man die nur unter dem Mikroskop erkennen könnte. Aber hier sind überhaupt keine Blutspritzer auf dem Boden. Nicht ein einziger.«
»Du bist also sicher, dass die Frau irgendwo anders umgebracht wurde, Paul?«
»Hundertprozentig, Heike.«
»Danke. Dann werde ich mir mal die Zeugen vornehmen.«
Heike ging nach draußen, wo Markus Sturm und Hinnerk Bruns warteten. Sie unterhielten sich mit dem jüngeren Streifenbeamten von der Brooktor-Wache. Alle drei pafften Zigaretten und versuchten, einen abgebrühten Eindruck zu machen.
»Ich bin Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes«, stellte sie sich vor. »Und Sie beide haben also die Tote gefunden?«
Die Männer nickten. Nachdem Heike ihre Personalien aufgenommen hatte, fragte sie: »Kommt es öfter vor, dass in der Speicherstadt etwas Außergewöhnliches passiert?«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Markus Sturm wissen.
»Nun, Sie finden gewiss nicht bei jeder Patrouillenfahrt eine Leiche. Aber ist Ihnen schon einmal etwas Verdächtiges aufgefallen?«
Wie auf Kommando schüttelten die Wachmänner den Kopf.
»Hier ist es immer ruhig«, erklärte Bruns. »Den dunklen Gestalten ist es hier zu hell. Und das meine ich wörtlich. Sie wissen ja vielleicht auch, dass die Speicherstadt nachts illuminiert wird. Das sieht toll aus, vor allem, wenn Sie drüben am Meßberg stehen. Aber es hat auch zur Folge, dass die Ganoven wegbleiben. Abgesehen davon, dass hier ja auch nichts zu holen ist. Jedenfalls nichts, was Verbrecher zu Geld machen könnten.«
Heike nickte. Als waschechte Hamburgerin kannte sie natürlich das Speicherstadt-Museum, das sie schon öfter mit auswärtigen Besuchern angeschaut hatte. Das Gebäude enthielt zahlreiche Exponate, die über längst vergessene Hafenberufe wie den Reepschläger, den Schauermann oder den Everführer Auskunft gaben. Man konnte auch typische Handelswaren besichtigen, wie sie in früheren Zeiten in der Speicherstadt eingelagert worden waren. Doch wirklich wertvolle oder gar millionenschwere Gemälde wie in anderen Museen suchte man dort vergebens. Das Speicherstadtmuseum gehörte für Einbrecher gewiss zu den unattraktivsten der Hansestadt.
»Wie oft sehen Sie pro Nacht in der Speicherstadt nach dem Rechten?«
»Elf oder zwölf Mal, Frau Kommissarin. Wir fahren langsam durch und kontrollieren die Eingänge und so weiter. Gelegentlich haben wir auch schon mal einen Volltrunkenen aufgelesen. Aber da alarmieren wir immer gleich Ihre Kollegen und einen Rettungswagen. Aber so was wie heute ...«
Bruns schüttelte den Kopf und zündete sich eine frische Zigarette an.
»Ist Ihnen sonst nichts aufgefallen?«, bohrte Heike nach. »Ich denke da an ein Fahrzeug, das vor dem Museum geparkt hatte.«
»Nichts, gar nichts«, sagten Markus Sturm und Hinnerk Bruns.
»Das wäre alles für den Moment. Bitte kommen Sie in den nächsten Tagen aufs Präsidium, um das Protokoll Ihrer Aussage zu unterschreiben.«
»Wer war denn die Tote?«, fragte Sturm neugierig. »Die sah ja fast aus wie ein Model ...«
»Das wissen wir noch nicht, bedaure«, erwiderte Heike. Die Wachmänner verschwanden in ihrem Einsatzfahrzeug. Sturms flapsiger Spruch hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, wie Heike fand.
Das Opfer war wirklich außergewöhnlich hübsch gewesen. Das konnte man selbst ihrem erstarrten Gesicht noch ansehen. Darin sah Heike eine Chance, die Identität der Toten zu ermitteln. Denn bisher gab es keinerlei Hinweise. Kein Personalausweis, kein Führerschein, keine Geldbörse, kein Schlüsselbund, keine Monatskarte für den HVV, nichts. Die Leiche hatte nichts bei sich außer den Kleidern auf dem Leib. Und das waren modische, aber billige Stücke aus Massenfertigung – sowohl das Kleid als auch Unterwäsche und Schuhe.
Heike schaute nachdenklich zu, als die Tote in den Blechsarg gelegt wurde, um in die Gerichtsmedizin geschafft zu werden. Inzwischen war die Sonne vollständig aufgegangen. Ihre Strahlen glitzerten auf dem Wasser der Elbe. Die Wandrahm-Insel, auf der sich die Speicherstadt befand, war durch Brücken mit dem nördlichen Elbufer verbunden. Ansonsten hatte man von hier aus einen Panoramablick auf die Museumsschiffe an den St. Pauli Landungsbrücken sowie auf die HafenCity.
Ein Polizeifotograf hatte Aufnahmen vom Gesicht der Toten gemacht. Die wurden an die Hamburger Presse weitergeleitet. Und natürlich würde Heike gleich die Vermisstenabteilung einschalten. Mit denen arbeitete sie immer zusammen, wenn die Identität eines Toten nicht völlig eindeutig zu klären war.
Heike gönnte sich zunächst einen Kaffee und ein Salamibrötchen in einem Stehcafé an der Kleinen Reichenstraße. Hier wimmelte es inzwischen von Angestellten der umliegenden Büros, die noch ein schnelles Frühstück einnehmen wollten. Allmählich erwachte die Hafenstadt zum morgendlichen Leben.
Die Kriminalistin dachte nach. Was für eine Beziehung gab es zwischen der unbekannten Toten und dem Museum? Sie wollte dorthin zurückkehren, sobald es geöffnet hatte. Ansonsten musste sie sich zunächst ganz auf die Kollegen von der Vermisstenabteilung verlassen.
Doch die winkten nur ab, als Heike eine halbe Stunde später im Präsidium bei ihnen erschien.
»Tut mir leid, Heike«, sagte ein vierzigjähriger vorzeitig ergrauter Oberkommissar namens Freytag. »Deine unbekannte Tote ist schätzungsweise Anfang dreißig, sagtest du doch?«
»Ja, Klaus. Ein paar Jahre plus oder minus ...«
»Schon klar. Aber aktuell vermissen wir hier bloß ein blondes vierzehnjähriges Mädchen. Das kann sie nun wirklich nicht sein.«
Oberkommissar Freytag rief auf seinem Computer den Datensatz des vermissten Teenagers auf. Heike betrachtete das pausbäckige Gesicht. Das war ganz eindeutig nicht die Leiche, zum Glück.
»Aber du kannst mir das Foto und die Personenbeschreibung selbstverständlich hier lassen«, meinte der Kollege aus der Vermissten-Abteilung aufmunternd. »Du weißt ja, manchmal werden wir auch bei unseren Altfällen noch fündig.«
»Ja, natürlich, Klaus. Vielen Dank erst mal.«
Heike war nicht so schnell zu entmutigen. Aber als sie an diesem Morgen ihre eigene Abteilung, die Sonderkommission
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Bildmaterialien: www.klauddesign.com
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4570-4
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