Ein Mord gehörte zweifellos nicht zum Erlebnisprogramm der geführten Bustouristiktour »St. Pauli bei Nacht«. Und doch erlebten die Teilnehmer dieses »Bummels über die sündigste Meile der Welt« schon nach weniger als einer halben Stunde ein solches Gewaltverbrechen mit.
Es war früher Abend. Der bunte Neonhimmel über dem Amüsierviertel erstrahlte in seiner allnächtlichen Pracht. Der doppelstöckige Reisebus fuhr langsam die Reeperbahn hinunter Richtung Millerntor. Aus den Lautsprechern drang die dunkle und wohltönende Stimme des Stadtführers.
»Auf der linken Seite sehen Sie nun die Einmündung zur Großen Freiheit. Diese Straße hat durch einen Film mit Hans Albers große Berühmtheit erlangt. Nach dem bekannten Volksschauspieler ist übrigens auch ein Platz hier auf St. Pauli benannt. In der Großen Freiheit findet man damals wie heute unzählige Amüsierbetriebe mit Showprogramm. Und auch wir werden später am Abend eine echte Striptease ...«
Der Mann am Mikrofon unterbrach sich selbst. Und das aus gutem Grund, wie die meisten Tourteilnehmer nun beobachten konnten.
Der Bus hatte seine Geschwindigkeit verringert, um im Radfahrertempo an der Großen Freiheit vorbeizufahren. In diesem Moment wurde er von einem Taxi überholt und ausgebremst. Der Busfahrer stoppte, hieb wütend auf seine Hupe.
Doch die Aufmerksamkeit der Taxi-Insassen galt überhaupt nicht dem doppelstöckigen Reisebus. Ein junger Mann in einem modischen Lederblouson kam gerade von der Großen Freiheit herüber, wollte die Reeperbahn überqueren.
Da fielen zwei Schüsse!
Der Fußgänger brach blutüberströmt zusammen. Das Taxi beschleunigte mit radierenden Reifen. Der Busfahrer schaffte es geistesgegenwärtig, sich das Kennzeichen zu notieren. Jede Lücke im Verkehr nutzend raste das Taxi Richtung Millerntor, bog mit ausbrechendem Heck in die Hein-Hoyer-Straße ein und war einstweilen verschwunden.
Der Bus stand immer noch.
»Machen Sie die Tür auf!«, rief einer der Passagiere. »Ich bin Arzt!«
Der Allgemeinmediziner Dr. Arnold Müller aus Reutlingen wollte eigentlich nur zusammen mit seiner Frau ein verlängertes Wochenende in Hamburg einlegen. Mit Musicalbesuch, Hafenrundfahrt und der St. Pauli-Tour. Doch nun sprang er aus dem Bus, um sich des Opfers anzunehmen.
Es war vergeblich. Dr. Müller konnte nur noch den Tod des jungen Mannes feststellen. Eine Kugel hatte ihn in die Brust, die andere in den Kopf getroffen.
Innerhalb von vier Minuten war die Polizei am Tatort und sperrte ab, um die Schaulustigen zurückzuhalten. Der Busfahrer nannte den Beamten das amtliche Kennzeichen des Taxis. Wie sich herausstellte, war der Mercedes-Benz wenige Stunden zuvor in einem Taxibetrieb in Barmbek gestohlen worden.
Eine Fahndung wurde sofort ausgelöst. Zweiundzwanzig Minuten nach den tödlichen Schüssen wurde das Taxi gefunden. Es stand auf dem Gehweg vor dem Museum für Hamburgische Geschichte und war leer.
Die Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Sonderkommission Mord der Kripo Hamburg hatte in dieser Nacht Tatortdienst. Sie kam vom Polizeipräsidium in Alsterdorf und brauchte daher fast eine halbe Stunde, bis sie an der Reeperbahn angelangt war.
Heike stieg aus dem zivilen Dienst-Audi, den sie für die Fahrt benutzt hatte. Sie fuhr sich durch ihre blonde Kurzhaarfrisur. Dann bückte sie sich unter dem Absperrungsband hindurch, wobei sie ein paar Neugierige zur Seite drängte.
Die Schutzpolizisten erkannten sie sofort, obwohl sie ihren Dienstausweis nicht vorzeigte.
»Sönkes Tochter kommt!«, raunte einer der blau uniformierten Beamten einem seiner Kollegen zu. Obwohl er halblaut sprach, hatte Heike seine Worte wohl gehört.
Sie seufzte. Für viele Hamburger Polizisten würde sie immer nur »Sönkes Tochter« bleiben. Hier auf St. Pauli war es besonders extrem. Denn ihr Vater, die Hamburger Polizei-Legende Sönke Stein, war vor seiner Pensionierung Dienststellenleiter des 15. Polizeikommissariats gewesen. Weltbekannt war diese Polizeistation unter ihrem Namen »Davidwache«. Hier wurden jede Nacht mehr Gewalttaten zu Protokoll genommen als auf allen anderen Hamburger Revieren zusammen genommen. Der Kiez war ein hartes Pflaster und würde es wohl auch immer bleiben.
Heike ging auf einen Obermeister zu, der unmittelbar neben der Leiche stand. Er war ein sehniger, durchtrainierter Beamter Anfang dreißig und hieß Andreas Behn.
»Hallo, Andi. Habt ihr Tatzeugen?«
»Jede Menge, Heike. Praktisch einen ganzen Bus voll. Außerdem noch ein paar Passanten, die bei der Tat in unmittelbarer Nähe waren. Drei von ihnen haben einen Schock erlitten und mussten ins Krankenhaus.«
Andreas Behn deutete mit einer Kinnbewegung auf einen blau-silbrigen Polizei-Bulli, in dem zwei Kollegen die Personalien der Zeugen aufnahmen. Leichter Nieselregen setzte unvermittelt ein. Heike kehrte schnell zu ihrem Dienstwagen zurück und nahm die blaue Einsatzjacke mit dem in weißen Blockbuchstaben gesetzten Wort POLIZEI heraus. Sie zog das Nylonteil über ihren anthrazitfarbenen Nadelstreifen-Hosenanzug. Sehr kleidsam war die Einsatzjacke zwar nicht, schützte aber ganz gut vor Regen.
Als sie zum Tatort zurückkehrte, war auch ein Arzt vom gerichtsmedizinischen Institut eingetroffen. Er redete mit einem Zeugen.
»Dieser Herr ist ebenfalls Mediziner und war zufällig in dem Touristenbus, als die Schüsse fielen«, sagte der Obermeister zu Heike. Diese bedankte sich mit einem Lächeln und ging auf die beiden Ärzte zu.
»Ich bin Hauptkommissarin Stein, Kripo Hamburg. Wie ich höre, sind Sie Mediziner und haben das Opfer gleich nach der Tat untersucht?«
»Ja, ich bin Allgemeinmediziner.« Dr. Müller wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl es an diesem Frühlingsabend nicht besonders warm war in Norddeutschland. »Der Tod muss sofort eingetreten sein. Das kann ich auch ohne Laboruntersuchung sagen. Mein Gott, wir wollten uns nur einen lustigen Abend machen, meine Frau und ich ... und nun so etwas! Kommt ... das öfter hier vor?«
»Öfter, als uns lieb ist«, gab Heike zurück. Sie suchte den Blick des Gerichtsmediziners.
»Wir müssen natürlich die vorschriftsmäßige Obduktion vornehmen«, sagte dieser. »Aber ansonsten kann ich nur bestätigen, was der allgemeinmedizinische Kollege schon festgestellt hat. Der Tod wurde durch die Kugel in die Brust verursacht. Die Entfernung zwischen Täter und Opfer lässt sich schwer einschätzen. Zu groß kann sie nicht gewesen sein.«
»Das wird die kriminaltechnische Untersuchung ergeben«, meinte Heike. »Was wissen wir über das Opfer?«
Obermeister Behn hatte die Frage gehört.
»Das Opfer ist auf St. Pauli bekannt wie ein bunter Hund. Er hieß Karl Meier, wurde aber von allen nur Charly gerufen. Auf der Davidwache haben wir eine Akte von ihm, die ist fast so dick wie der erste Band vom Hamburger Telefonbuch.«
»Kleinkrimineller?«
»Du sagst es, Heike. Charly hat alles gemacht, was irgendwie illegal war und schnelles Geld bringen konnte. Ich nehme an, dass wir ihn bei vielen dunklen Geschäften gar nicht packen konnten – leider. Aber er hat auch so genügend Verurteilungen und Haftstrafen hinter sich. Mit Bewährung, ohne Bewährung – alles, was du dir vorstellen kannst.«
»Wenn du wüsstest, was ich mir alles vorstellen kann«, witzelte Heike düster. Sie spürte jetzt schon, dass es ein schwieriger Fall werden würde. Die meisten Leute auf St. Pauli waren nicht gesprächiger als Austern, wenn ein Krimineller ums Leben kam. Niemand wollte sich mit den Kerlen anlegen, die ihn auf dem Gewissen hatten. Das waren nämlich in aller Regel ebenfalls Verbrecher.
Der Stadtteil St. Pauli war immer schon ein Hort für Ausgestoßene und Randgruppen gewesen. Als sich das Viertel noch außerhalb der Hamburger Stadtmauern befand, wurden Handwerker, die schmutzigen oder übel riechenden Tätigkeiten nachgingen, gern von der Obrigkeit nach St. Pauli verbannt. Ähnliches galt für Prostituierte, die das Straßenbild der sauberen Bürgerstadt nicht trüben sollten. Aufgrund dieser Entwicklung fühlten sich die St. Paulianer ausgegrenzt und von den Behörden im Stich gelassen. Das machte die Polizeiarbeit in diesem Stadtteil natürlich nicht einfacher. Die Udels, wie die Polizeibeamten in Hamburg traditionell genannt wurden, wurden auf St. Pauli als Eindringlinge und Fremdkörper empfunden.
Diese Tatsachen führte sich Heike noch einmal vor Augen, während sie über den bisherigen Ermittlungsstand nachdachte.
»Sönke würde jetzt ...«, begann der Obermeister. Heike tat, als fühlte sie sich nicht angesprochen. Sie wollte gar nicht wissen, was ihr Vater in dieser Situation unternehmen würde. Heike konnte tun, was sie wollte – man legte an ihr immer den Maßstab des beliebten und gefürchteten Superpolizisten Sönke Stein an.
Heike konzentrierte sich auf die Leiche. Charly Meier sah beinahe überrascht aus. Seine Gesichtszüge waren mit einem Ausdruck der Verblüffung erstarrt. Wahrscheinlich hatte der Angriff ihn völlig überraschend getroffen.
»Hatte er eine Waffe bei sich?«
Heikes Frage war an niemanden Bestimmten gerichtet. Aber ein Mann vom Spurensicherungsteam, das inzwischen eingetroffen war, wandte sich ihr zu.
»Fehlanzeige. Der trug noch nicht mal eine Nagelfeile im Schulterholster!«
Heike nickte. Sie nahm sich vor, die Wohnung des Opfers zu durchsuchen, sobald sie dafür eine richterliche Verfügung hatte. Zunächst waren die Zeugenaussagen dran. Und von denen existierten nicht gerade wenige.
Doch das Ergebnis war nicht ermutigend, wie sie bald erfahren musste. Die zuverlässigste Beobachtung kam noch von dem Busfahrer, der das Taxi-Nummernschild notiert hatte. Aber auch er konnte sich nur an die Hinterköpfe zweier Personen auf den Vordersitzen erinnern. Ob Männer oder Frauen, war unmöglich zu sagen.
»Ich habe das Fahrzeug ja praktisch nur von hinten gesehen, Frau Kommissarin!«, beteuerte der Fahrer.
»Können Sie mir denn sagen, ob der Fahrer oder der Beifahrer geschossen hat?«, wollte Heike wissen.
»Nein, völlig unmöglich. Ich habe ja nicht einmal gesehen, dass geschossen wurde. Ich hörte nur zwei Knallgeräusche, und dann fiel der Mann um. Da erst dämmerte mir, dass ihn jemand niedergeknallt hat! Mann, wie im Fernsehkrimi ...«
Wie im Fernsehkrimi war es nun nicht, wie Heike fand. Ihr fehlte jedenfalls im Gegensatz zu den TV-Kommissaren die geniale Eingebung. Aber andererseits ermittelte sie ja auch erst seit einigen Minuten. Sie hasste sich selbst dafür, dass sie sich unter einen solchen Erfolgsdruck setzte. Doch sie konnte nicht aus ihrer Haut.
Wenn sie diesen Fall nicht löste, brauchte sie sich zumindest auf dem 15. Revier nie wieder sehen zu lassen. Heike konnte sich so richtig die Gespräche im Pausenraum der Davidwache vorstellen.
»Tja, die kleine Tochter von Sönke hat’s ja nun nicht gepackt, was?«
»Wundert dich das? Sönke, der hatte es im Blut. Aber so was vererbt sich nicht. Schon gar nicht an ein Mädchen ...«
Heike schüttelte ihre eigenen Fantasien ab wie einen bösen Traum. Sie warf noch einen Blick auf den Leichnam, der gerade in einen Blechsarg gehoben wurde. Charly Meier war teuer gekleidet, mit Designer-Lederblouson, Chinos, Budapester Schuhen und einigen Goldkettchen um Hals und Handgelenk. Ein Ganove, der seine illegalen Einkünfte offenbar in modische Kleidung umgesetzt hatte.
Nun, da der Tote verschwunden war, zerstreuten sich auch die Gaffer fast schlagartig. Die meisten von ihnen waren gewiss nach St. Pauli gekommen, um sich auf die eine oder andere Art zu amüsieren. Heike würde allerdings nie verstehen, warum es Menschen gab, die bei Verbrechen oder Unglücksfällen Mäuschen spielen wollten.
Immerhin konnte Heike davon ausgehen, dass zwei Personen in dem Taxi gesessen hatten. Vielleicht ergab ja die kriminaltechnische Untersuchung des Benz weitere Anhaltspunkte. Aber das würde in dieser Nacht nichts mehr werden.
Heike begleitete ihre uniformierten Kollegen auf die Davidwache. Dort ließ sie sich die Akte von Charly Meier geben. Einen verwaisten Schreibtisch stellte man ihr ebenfalls zur Verfügung. Während um sie herum der allnächtliche Davidwachen-Reigen von Prostituierten und Betrunkenen, von Verbrechensopfern und Schlägern begann, vertiefte sich Heike in das Dokument.
Charly Meier war ein typischer St. Pauli Ganove. Vor zweiunddreißig Jahren im Krankenhaus Altona geboren, begann er seine kriminelle Karriere schon als Jugendlicher. Seine erste Verurteilung hatte er mit 16 Jahren, wegen Autodiebstahls. Schon bald wurden aus den Jugendstrafen reguläre Freiheitsstrafen. Bei den Delikten ließ sich kein typisches Muster erkennen. Von sexueller Nötigung über Erpressung, Diebstahl, Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz bis zu Körperverletzung war alles dabei. Charly Meier hatte offenbar zu den Kriminellen gehört, die sich mit allen Mitteln Geld verschafften. Dabei hatten seine Intelligenz und seine Energie aber niemals für den großen Wurf gereicht. Er war immer das geblieben, als das Heike ihn charakterisiert hatte.
Ein Kleinkrimineller.
Die junge Hauptkommissarin klappte die Akte zu. Es würde wirklich kein Zuckerschlecken werden, den Täter zu ermitteln. Vermutlich hatte jeder zweite Bewohner von St. Pauli etwas gegen Charly Meier gehabt. Wer so viele Verbrechen beging, der hatte natürlich auch viele Opfer. Und manche von denen waren vielleicht besonders rachsüchtig?
»Kann ich die Akte mitnehmen?«, fragte Heike.
»Sicher«, erwiderte eine gestresst wirkende junge Polizeimeisterin. »Mach’ nur einen Vermerk, dass sie im Präsidium abgeblieben ist.«
»Klar doch. Bei uns kommt nichts weg.«
Heike bedankte sich bei den Kollegen und ging hinaus. Als sie die Davidwache verlassen wollte, schleiften zwei Streifenpolizisten gerade einen betrunkenen Schläger herein. Der Kerl röhrte wie ein Hirsch und breitete seine mächtigen Arme aus, um nicht durch die Tür geschoben werden zu können. Die beiden Beamten konnten ihn kaum bändigen.
Heike stieß drei ausgestreckte Finger ihrer rechten Hand gegen zwei Punkte am Oberkörper des Mannes. Daraufhin erschlafften die Arme sofort.
»Ey, was soll das?!«, lallte der Kerl. »Meine Arme sind gelähmt!«
»Das gibt sich nach einer halben Stunde von selbst«, sagte Heike zu den uniformierten Kollegen. »Alter Kung-Fu-Trick!«
Heike lernte nämlich in ihrer Freizeit die jahrtausendealten KampfsPORT-Xstile in der Kung-Fu-Schule eines alten Chinesen.
»Super, vielen Dank«, sagte der jüngere von den beiden Kollegen. Nun konnten sie den Festgenommenen problemlos in den Wachraum bringen.
»Siehst du«, hörte Heike noch die Stimme des anderen Polizisten, als sie schon davonging, »das war eben Sönkes Tochter! Sie gibt sich alle Mühe, so gut zu werden wie ihr Vater.«
Heike biss die Zähne zusammen. Für diese Nacht hatte sie die Nase voll von St. Pauli.
Immerhin schaffte Heike es trotzdem noch, in ihrer gemütlich eingerichteten Altbau-Wohnung in Eppendorf ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Am nächsten Morgen fuhr sie dann voller Tatendrang zum Präsidium in Alsterdorf.
Bei der Morgenbesprechung mit den anderen Kollegen aus der Abteilung berichtete sie vom bisherigen Ermittlungsstand.
»Wie wollen Sie weiter vorgehen, Frau Stein?«, fragte Dr. Clemens Magnussen. Der Kriminaloberrat war der Leiter der Sonderkommission Mord und daher auch Heikes direkter Vorgesetzter. Dr. Magnussen hatte seine Tabakspfeife im Mund. Daran nahm selbst der härteste Nichtraucher keinen Anstoß, denn Dr. Magnussen war selbst kein Nikotinfreund. Die Pfeife blieb stets unangezündet, er stopfte noch nicht einmal Tabak hinein. Der Kriminaloberrat hatte sich die Pfeife als Attribut zugelegt, um trotz seines völlig austauschbaren Dutzendgesichtes wenigstens etwas Unverwechselbares an sich zu haben. Er schaute Heike fragend an.
»Ich habe einen richterlichen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung des Opfers beantragt, Herr Kriminaloberrat. Vielleicht ergibt sich daraus ein Hinweis auf den Täter. Ansonsten wollte ich im direkten Umfeld des Opfers ermitteln.«
»Kommen Sie einstweilen allein zurecht, Frau Stein? Ich kann Ihnen Herrn Wilken natürlich erst zur Seite stellen, wenn er aus dem Urlaub zurück ist. Oder ich muss ihn von dort abberufen!«
»Auf keinen Fall, Herr Kriminaloberrat! Ich meine, ich schaffe das alleine! Herr Wilken soll seinen Urlaub ruhig auskosten.«
Heike wurde fast panisch. Dr. Magnussen würde es fertig bekommen und Ben aus dem Urlaub zurückholen. Das war nun wirklich nicht nötig. Erstens fühlte sich Heike dem Fall durchaus gewachsen, wenn er auch knifflig zu sein schien. Und zweitens gönnte sie Ben Wilken von ganzem Herzen die zwei Wochen, die er mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in einem Ferienhaus in Dänemark verbrachte.
Böse Zungen im Präsidium bezeichneten Heike und Ben, der ihr Dienstpartner war, als »Traumpaar vom LKA« (Landeskriminalamt). Das war wirklich eine Gemeinheit, denn privat lief zwischen den beiden Kollegen absolut nichts. Ben war zwar ein gut aussehender, hoch gewachsener und dunkelhaariger Mann, aber eben auch verheiratet. Und darum für Heike absolut tabu. Es gehörte zu ihren Prinzipien, sich niemals in eine Ehe zu drängen. Abgesehen davon, dass die Auswahl an interessanten Junggesellen wahrhaftig groß genug war ...
»Sehr lobenswert, Frau Stein. Wie Sie wissen, haben Ihre anderen Kollegen sämtlich an mehr oder weniger zeitraubenden Fällen zu knacken.«
Mit diesen Worten wandte sich Dr. Magnussen Heikes Kollegin Melanie Russ zu. Der Charly-Meier-Fall war für ihn einstweilen erledigt.
Heike hingegen stürzte sich unmittelbar nach der Besprechung in die Arbeit. Sie bekam von der Technischen Abteilung ein ernüchterndes vorläufiges Ergebnis der Taxi-Untersuchung. Wie schon befürchtet war die Ausbeute gleich Null. Unzählige Menschen hatten Fingerabdrücke, Haare, zum Teil auch Blut oder Schmutz auf den Taxisitzen hinterlassen. Wer davon geschossen haben konnte, war nicht zu ermitteln.
Dafür war wenigstens die ballistische Untersuchung von Erfolg gekrönt. Beide Geschosse stammten aus derselben Waffe, einer Faustfeuerwaffe. Man konnte also davon ausgehen, dass der Mord mit einem Revolver oder einer Pistole verübt worden war. Die Patronen wiesen das Kaliber .45 auf.
Heike überlegte, ob sie nun zu Charly Meiers Wohnung fahren sollte. Den Durchsuchungsbeschluss hatte sie inzwischen bekommen. Da klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch.
»Stein, Sonderkommission Mord!«
»Hier ist Kommissar Delken vom 15. Revier. Wir haben wahrscheinlich den Mörder von Charly Meier hinter Schloss und Riegel!«
Heike war so überrascht, dass sie schwieg. Der St. Paulianer Kollege redete ohnehin weiter.
»Vorige Nacht hat eine Funkstreife den Kerl aufgelesen. Er lag an der Silbersackstraße im Rinnstein und war sturzbesoffen. Und er hatte eine Schusswaffe in der Tasche.«
»Eine Fünfundvierziger?«, hakte Heike nach.
»Exakt, Frau Kollegin. Eine Ruger KP 90 D, um ganz genau zu sein. Es lag nichts gegen ihn vor, wir haben ihn ärztlich untersuchen lassen und dann in die Ausnüchterungszelle gesteckt. Normal hätten wir ihn heute wieder laufen lassen. Aber die Waffe musste natürlich überprüft werden.«
»Und was ist dabei herausgekommen?«, fragte Heike ungeduldig.
»Die Ruger ist die Mordwaffe«, sagte Kommissar Delken. »Charly Meier ist mit dieser Pistole erschossen worden und mit keiner anderen. Das haben die Kriminaltechniker inzwischen rausgefunden. Auf der Waffe sind die Fingerabdrücke von dem Beschuldigten, der sie in der Tasche hatte.«
»Was sagt der Beschuldigte zu der Tat?«
»Angeblich kann er sich an nichts erinnern. Filmriss. Er beteuert nur, dass er niemanden erschossen hat. Aber das würde ja wohl jeder tun.«
»Sicher. Ist er schon wieder so nüchtern, dass man ihn vernünftig vernehmen kann?«
»Dem Blutalkoholspiegel nach schon. Sollen wir ihn gleich mal zu euch schicken? Für eine Anklageerhebung reichen die Indizien auf jeden Fall.«
»Das
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Bildmaterialien: www.klauddesign.com
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2016
ISBN: 978-3-7396-4118-8
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