Nackte Angst macht sich breit, als im Hamburger Hafen im heißen August des Jahres 1892 eine schöne junge Frau grausam ermordet wird. Beunruhigende Gerüchte machen die Runde – ist wirklich ein Vampir für ihren Tod verantwortlich?
Polizei-Offiziant Lukas Boysen glaubt nicht an einen Blutsauger als Täter. In einer Stadt, die unter einer schlimmen Cholera-Epidemie leidet, gleicht die Kriminalermittlung einem Tanz auf dem Vulkan. Als Boysen eine heiße Spur aufnimmt, wird er schon bald von seinen Vorgesetzten gestoppt. Mächtige Interessengruppen scheinen den Mörder schützen zu wollen. Der Fahnder kommt einem furchtbaren Geheimnis auf die Spur.
Boysen ist ganz auf sich allein gestellt. Unterstützung bekommt er nur von der resoluten jungen Schönheit Anna Dierks, die Zeugin eines Mordversuchs geworden ist. Zwischen Hurenhäusern und Opiumhöhlen, Schiffs-Laderäumen und eleganten Bürgersalons kommt es zu einer atemberaubenden Mörderjagd durch das choleraverseuchte Hamburg.
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Hamburg, 20. August 1892
Das Mondlicht glitzerte auf den trägen Wellen der Elbe.
Marie Stevens war sternhagelvoll und hatte sich im Wald verirrt. Jedenfalls glaubte sie das. Doch in Wirklichkeit ragten keine Baumstämme in den finsteren Himmel, sondern die zahllosen Segelschiffmasten des Hamburger Hafens.
Die zwanzigjährige Prostituierte bekam einen Schluckauf. Sie musste sich am Steintwietenhof gegen eine Mauer lehnen, um nicht zu stürzen. Beiläufig bemerkte sie, dass ihre üppigen Brüste aus der nachlässig geschnürten Korsage quollen. Marie brachte ihr Äußeres wieder halbwegs in Ordnung. Trotz ihrer Trunkenheit war sie jetzt wieder einigermaßen bei Verstand. Sie wollte nicht von den Udels aufgegriffen und als »liederliche Frauensperson« im Polizeigewahrsam ins Stadthaus geschafft werden.
»Ich – hick – sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht«, sagte sie laut zu sich selbst und kicherte albern. Wie ein Taucher, der aus der tiefen See Richtung Wasseroberfläche gleitet, kam die blonde junge Frau nun ein wenig zu sich. Marie begriff nun auch, dass sie sich am Hafenrand aufhielt. Doch wo genau sie sich befand, wusste sie nicht. Das Mädchen stammte aus dem Hannoverschen und lebte erst seit einem Jahr in der großen Hafenstadt an der Elbe.
Marie raffte ihre Röcke und stolperte mit unsicheren Schritten über die Niederbaumbrücke bei der Kehrwiederspitze. Dabei wäre sie beinahe gegen einen abgestellten Handkarren gelaufen. Das Freudenmädchen war schon wieder durstig. Sie hoffte, irgendwo in einem der großen dunklen Gebäude vor ihr eine gemütliche Seemannskneipe zu finden.
Marie blieb einen Moment lang stehen, um nach Luft zu schnappen. Sie schaute hinunter auf das mondbeschienene Wasser des Kehrwiederfleets, in dem eine eiserne Tjalk sich in der Dünung wiegte. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Prostituierte zog sich ihr gestricktes Umlegetuch enger um die schmalen Schultern. Beim Anblick des schaukelnden Schiffes wurde ihr übel, beinahe hätte sie sich übergeben müssen. Marie setzte ihren Weg fort.
Es klapperte, als ein Bäckerlehrling in seinen Holzpantinen und seiner karierten Hose an ihr vorbeieilte. Schmunzelnd registrierte Marie seinen lüsternen Seitenblick auf ihr Dekolleté, das trotz des züchtigen Umlegetuchs immer noch gut zu erkennen war. Das moderne elektrische Licht machte schon seit zehn Jahren im Hafen die Nacht zum Tag, daher konnte der Junge auch in finsterster Nacht Maries weibliche Reize nicht übersehen.
Das Freudenmädchen lachte und pfiff auf vier Fingern hinter dem Bäckerlehrling her.
»Wenn du deine Pfennige für mich sparst, mache ich dir einen Sonderpreis, Kleiner!«, plärrte Marie ihm hinterher, bevor der Schluckauf ihr einstweilen wieder die Sprache verschlug. Sie brauchte jetzt wirklich dringend einen Rumgrog.
Der Lehrling machte sich aus dem Staub, ohne ihre Bemerkung zu quittieren. Wahrscheinlich wartete sein Meister bereits auf ihn, und er würde eins hinter die Löffel kriegen, wenn er zu spät kam.
Drüben am Sandtorhöft wurde die Ladung eines mächtigen Dampfers gelöscht. Hunderte von Schauermännern waren damit beschäftigt, die Waren aus dem Schiffsbauch zu holen und an Land zu schaffen. Marie stellte sich vor, wie es wäre, wenn jeder dieser Kerle auch nur fünf Reichsmark für ihre Liebesdienste zahlte ... Dann könnte sie wie eine Königin in das ärmliche Dorf zurückkehren, aus dem sie stammte.
Dieser Gedanke entlockte ihr ein schrilles Kichern. Marie schaute an den Fassaden der Warenspeicher hoch, die von Giebeln, Erkern und Zinnen gekrönt wurden. Ihr wurde klar, dass sie sich verlaufen hatte. In diesem Teil des Hafens gab es keine Schänken. Hier befanden sich nur die Warenlager der Pfeffersäcke. Es roch nach Anis und Estragon, nach Tabak und Zimt und nach allerlei Gewürzen, von denen Marie noch niemals gehört hatte.
Plötzlich spürte sie, dass sie nicht mehr allein auf der Straße war.
Marie drehte sich um. Der Mann war scheinbar aus dem Nichts erschienen. Die Prostituierte hatte ihn jedenfalls nicht kommen sehen. Normalerweise fürchtete sie sich nicht vor Kerlen, obwohl sie schon einige schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Doch bei diesem Mann witterte sie instinktiv die Gefahr, die von ihm ausging.
Er stieß ein dumpfes Knurren aus, das besser zu einem Tier als zu einem menschlichen Wesen gepasst hätte.
»Was willst du?« Maries Stimme war lauter und schriller als je zuvor. »Lass mich in Ruhe, du! Ich schreie ...!«
Und dann tat sie es wirklich. Doch der Mann ließ sich davon nicht beeindrucken. Er jagte auf das Freudenmädchen zu. Marie versuchte, davonzulaufen. Doch das bodenlange Kleid und die Unterröcke bremsten ihre Geschwindigkeit, außerdem war sie betrunken.
Eine leichte Beute für die wilde Bestie.
In den letzten Minuten ihres Lebens lernte Marie echte Todesangst kennen. Ihr Schrei verstummte, weil die Furcht ihr die Kehle zuschnürte. Im Hafen gab es viel Gesindel, und Marie hatte schon mit richtigen Dreckskerlen zu tun gehabt. Doch dieser Mann – falls es ein Mann war – übertraf alles. Die Prostituierte begriff, dass sie keine Chance mehr hatte. Es war nicht die Frage, ob sie sterben würde, sondern nur, wie lange es bis zu ihrem sicheren Tod dauerte.
Marie fiel in ein Meer von Schmerzen. Sie sah rot und erkannte, dass es ihr eigenes Blut war. Dieser Teufel in Menschengestalt bearbeitete sie mit Tritten und Schlägen. Schließlich verlor sein Opfer das Bewusstsein.
Marie war schon ohnmächtig, als sie von dem Mörder totgebissen wurde.
»Wir melden uns ab«, sagte Polizei-Offiziant Lukas Boysen und schob sich ein Stück Kautabak in den Mund. Die Turmuhr von St. Katharinen schlug die zwölfte Nachtstunde, und bisher war der Dienst auf der Brooktorwache eher ruhig gewesen.
»Alles klar, bis später«, gab Constabler Brügge zurück, bevor er die Stahlfeder erneut ins Tintenfass tunkte, um an seinem Bericht weiterzuarbeiten.
Boysen trug als Offiziant die Verantwortung für die Wache mitten auf der Wandrahminsel im Hafen, die mit 20 Constablern besetzt war. Die Vorgesetzten erwarteten von ihm, dass er im Wachlokal hocken blieb wie die Spinne im Netz – Gesäßfleischarbeit. So pflegte Boysen den Stubendienst jedenfalls selbst zu nennen, und er war kein Freund der Tätigkeit am Schreibpult.
Also nutzte er jede Gelegenheit, um höchstpersönlich durch sein Revier zu patrouillieren. In dieser Nacht wollte er gemeinsam mit Constabler Enno Okkinga auf Streife gehen, einem schweigsamen Friesen mit einem langen Pferdegesicht.
Boysen strich seinen dunkelblauen Waffenrock glatt. Er platzierte den hohen Helm mit Kugelspitze, Hamburger Wappen und Polizeistern auf seinem knochigen Schädel. Okkinga folgte seinem Beispiel. Die beiden Ordnungshüter traten aus der Brooktorwache hinaus in die milde Sommernacht. Im Gleichschritt wandten sie sich zunächst nach Osten, Richtung Holländischer Brook. Boysen legte die linke Hand auf die Glocke seines Säbels, den er am schwarzen Koppel trug. Die rechte Hand spielte mit dem Dienststock. Okkinga hingegen hatte beide Hände um seinen Dienststock geklammert und die Arme hinter dem Rücken verschränkt, wie es seine Gewohnheit war. Der Friese ging leicht gebückt, als ob er einen zentnerschweren Kartoffelsack schleppen müsste.
»Bin mal gespannt, wie viele Auswanderer uns heute über den Weg laufen«, meinte Boysen, um etwas zu sagen. Seit Jahren strömten tausende und abertausende von Menschen nach Hamburg, um sich von dort aus nach Amerika einzuschiffen. Die meisten von ihnen kamen aus Russisch-Polen und der Ukraine. Sie sprachen kein Deutsch und wollten so schnell wie möglich Europa verlassen, denn ihr Geld reichte meist nur für die Passage nach New York. Den Aufenthalt in Hamburg konnten sie sich eigentlich gar nicht leisten.
Okkinga erwiderte nichts, aber daran hatte sich Boysen schon gewöhnt. Der pferdegesichtige Friese war unglaublich mundfaul. Aber Boysen ging trotzdem gern mit ihm auf Patrouille, denn er wusste Okkingas Zuverlässigkeit und Genauigkeit zu schätzen. Außerdem erwies sich der stille Mann als ein harter Kämpfer, wenn sie in eine Schlägerei gerieten. Und das kam nicht gerade selten vor.
Am Holländischen Brook gab es noch ein paar düstere Ecken, die von den neuen elektrischen Straßenlampen nicht ausgeleuchtet wurden. Aus der Finsternis tönte den beiden Ordnungshütern ein unterdrücktes Keuchen entgegen.
Boysen griff zu seiner Blendlaterne. Seine andere Hand glitt in die Tasche des Waffenrocks und umfasste den Griff seines Bulldogg-Revolvers. Schusswaffen gehörten eigentlich nicht zur Ausrüstung des Hamburger Constabler Corps. Lediglich die Patrouillen in den ländlichen Außenbezirken der Stadt waren mit Karabinern ausgerüstet. Boysen, der es mit den Dienstvorschriften ohnehin nicht so genau nahm, hatte sich seinen Sechsschüsser privat gekauft. Er wollte sich nicht von irgendeiner zweibeinigen Hafenratte niederknallen lassen, ohne sich wehren zu können.
Der Offiziant ließ den Lichtkegel seiner Blendlaterne langsam in die Richtung wandern, aus der die verdächtigen Geräusche gekommen waren. Seinen Revolver hielt Boysen schussbereit. Doch gleich darauf entspannten sich die beiden Ordnungshüter und begannen zu lachen.
Von dem heftig kopulierenden Pärchen auf den gestapelten Jutesäcken ging ganz gewiss keine Lebensgefahr aus.
»Wenn es am Schönsten ist, soll man aufhören!«, rief Boysen. Er dachte nicht daran, die Blendlaterne von den gespreizten Schenkeln des Mädchens und den stoßenden Hüften des Jünglings abzuwenden. Der Milchbart wandte den beiden Männern sein gerötetes Gesicht zu.
»Verdammte Udels!«, schimpfte er. Aber gleich darauf – ob nun vor Aufregung oder weil die Zeit ohnehin gekommen war – beendete er die lustvolle Vereinigung. Das Mädchen war vielleicht 17 oder 18 Jahre alt. Sie zerrte ihren Rock über ihre weißen Schenkel und blickte beschämt zu Boden.
Der Offiziant kam einen Schritt auf sie zu und hob mit dem Zeigefinger ihr Kinn.
»Schau mir ins Gesicht!«, forderte Boysen. »Hat der Kerl dir Gewalt angetan?«
»He, was soll das? Warum mischt ihr euch ein?«, protestierte der Junge und wollte Boysen angehen. Okkinga packte ihn und drehte ihm die Arme auf den Rücken.
»Nein, ich ... Jan ist mein Verlobter. Wir wollen heiraten«, stammelte die Deern. Boysen nickte langsam. Vor seinem geistigen Auge lief das Leben der beiden jungen Leute ab. Er kannte ihre Schicksalswege genau, weil sie denen von tausenden anderer junger Hamburger zum Verwechseln ähnlich waren. Das Mädchen lebte gewiss bei ihren Eltern, gemeinsam mit mindestens sechs bis acht Geschwistern. Der Junge logierte wahrscheinlich als Schlafbursche bei einer Vermieterin, vermutlich bei einer alten Witwe. Er hatte kein Geld für ein eigenes Zimmer, geschweige denn für eine Wohnung. Daher musste das Liebespaar sich im Freien treffen, wenn es seiner Lust freie Bahn lassen wollte.
Aber irgendwann würde der Jüngling doch ein paar Pfennige mehr Löhnung bekommen, seine blasse Deern ehelichen und mit ihr einen Stall voller Kinder zeugen, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnten. Das ist der Lauf der Welt, dachte Boysen fatalistisch. Er drehte den Kopf zur Seite und spuckte braunen Tabaksaft auf das Kopfsteinpflaster.
»In Ordnung, ihr dürft gehen. Aber lasst euch heute Nacht nicht noch einmal von uns erwischen. Sonst müssen wir euch wegen öffentlicher Unzucht einsperren.«
Boysen brachte Okkinga durch eine Geste dazu, den jungen Mann loszulassen. Dieser taumelte vorwärts und legte den Arm schützend um die Schultern seiner Freundin. Er murmelte etwas vor sich hin, das gewiss keine Freundlichkeit war.
Der Offiziant beachtete das Pärchen nicht weiter. Die beiden waren im Grunde harmlos, das wusste er selbst. Der Junge und das Mädchen eilten Hand in Hand Richtung Wandrahmsteg davon.
Boysen und Okkinga setzten ihren Rundgang zwischen den Warenspeichern fort.
»Ja, man müsste auch mal wieder ablassen«, sagte der Friese plötzlich. Seine Stimme hatte einen träumerischen Unterton.
Boysen hob eine Augenbraue und warf dem Constabler einen überraschten Seitenblick zu. Okkinga redete kaum, wenn er nicht direkt angesprochen wurde. Da Boysens Untergebener nun sogar freiwillig das Wort ergriff, war das ein Beweis dafür, dass Okkinga einen wirklich starken inneren Druck verspüren musste. Der Anblick des kopulierenden Pärchens hatte den friesischen Ordnungshüter offenbar auf Ideen gebracht. Dafür hatte Boysen vollstes Verständnis.
»Hast Recht, Okkinga«, meinte der Offiziant. »Wir schauen nachher noch bei Frau Lehmkuhl nach dem Rechten.«
Mit dieser Antwort gab sich der Friese einstweilen zufrieden und nickte vor sich hin. Nun erweckte Okkinga wieder den Eindruck, im Gehen zu schlafen. Doch wenig später wurde die Streife mit dem nächsten Problem konfrontiert.
Am St. Annen-Ufer war ein leckes Ruderboot an Land gezogen worden. Es ruhte kieloben direkt an der Kaimauer. Boysen ging in die Knie und leuchtete mit seiner Blendlaterne unter das Boot. Zwischen das Straßenpflaster und die Reling waren große Holzkeile getrieben worden.
»Da liegt einer drunter«, sagte Boysen zu Okkinga. Und er rief laut: »Rauskommen, aber sofort! Hier ist die Polizei!«
Zur Bekräftigung seiner Worte schlug der Offiziant mit seinem Dienststock auf den hölzernen Boden des Wasserfahrzeugs. Nun bemerkten die Ordnungshüter, dass mindestens sechs Personen unter das Boot gekrochen waren, darunter mehrere Kinder. Weinen, Wehklagen und Gejammer erklangen.
»Rauskommen, sonst werde ich ungemütlich!«, drohte Boysen. Er drosch weiter auf den Bootsrumpf ein. Die zerlumpten Schläfer kamen hervorgekrabbelt. Sie redeten wild durcheinander. Die Kleinen klammerten sich zitternd an die Röcke der Mutter, die einen Säugling auf dem Arm trug. Das Gesicht des Mannes war von einem schwarzen Bart zugewuchert. In hündischer Ergebenheit kniete er vor Boysen und duckte sich, als ob er einen Schlag erwartete.
»Poschalsta ... poschalsta«, wimmerte der Bärtige. Das war jedenfalls das einzige von seinen Wörtern, das Boysen verstand. Der Mann war garantiert ein Auswanderer, und er bat die Beamten auf Russisch um irgendetwas. Worum? Boysen wusste es nicht, aber er konnte es sich denken.
»Ihr könnt hier nicht im Freien übernachten«, sagte er lahm. Dabei wusste der Offiziant, dass die zerlumpte Familie ihn nicht verstand. Sie wollten nicht Deutsch lernen, sondern nach Amerika auswandern, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. Hamburg war die letzte Station auf ihrer Irrfahrt quer über den europäischen Kontinent. Sie kamen aus den Tiefen des riesigen russischen Zarenreiches, wie schon so viele vor ihnen.
Boysen seufzte und biss die Zähne zusammen.
»Also gut. Gib ihnen dein Frühstück, Okkinga!«
Mit diesen Worten holte Boysen seine eigenen mitgebrachten Butterbrote aus dem Waffenrock und gab sie dem Russen. Dem friesischen Constabler blieb nichts anderes übrig als dem Beispiel seines Vorgesetzten zu folgen. Okkinga überreichte der blassen Frau seine Stullen.
»Chleb«, erklärte Boysen, eines seiner wenigen russischen Wörter benutzend. Die Auswanderer machten sich hungrig über die Butterbrote her, wobei auch jedes der Kinder seinen Teil bekam – abgesehen von dem Kleinsten, das noch an der Brust lag. Boysen hoffte, dass die Mutter genug Milch hatte, um es bis nach Amerika stillen zu können.
Er deutete mit dem Dienststock auf das Ruderboot.
»In Ordnung, dann legt euch wieder hin! Aber seid wenigstens leise und verschwindet im Morgengrauen.«
Der Offiziant wusste natürlich, dass die Auswanderer ihn nicht verstanden. Aber sie folgten seiner Geste. Eigentlich hätten die Ordnungshüter die Familie auf die Brooktor-Wache schaffen müssen. Aber wozu?, fragte sich Boysen. Die wenigen Arrestzellen benötigte er für Messerstecher, Räuber und wütende Trunkenbolde – eben für gefährliches Gesindel.
Boysen wusste, dass die Stadt voll war mit gestrandeten Amerika-Auswanderern. Sie waren bei den Hamburgern nicht beliebt, weil manche von ihnen klauten wie die Raben. Außerdem hieß es, dass sie Krankheiten in die Hafenstadt einschleppen würden. Trotzdem fiel es dem Offizianten schwer, in dieser zerlumpten Familie eine Bedrohung zu sehen.
Es war nicht das erste Mal, dass Boysen und Okkinga ihre Butterbrote an hungrige Elendsgestalten weitergaben. Ihre eigenen Mägen würden einstweilen leer bleiben. Der Offiziant bot seinem Untergebenen einen Priem an.
»Frau Lehmkuhl hat bestimmt auch was Leckeres für uns«, sagte Boysen aufmunternd. »Ich meine, außer ihren Mädchen.«
Okkinga grinste und bediente sich bei dem Kautabak. Die beiden Ordnungshüter wollten ihren Patrouillengang fortsetzen. Da kam ein junger Bursche auf sie zugerannt.
»Polizei! Polizei!«, rief er mit rauer Stimme. Der Mann hatte Boysen und Okkinga gesehen und fuchtelte mit ausgestreckten Armen in der Luft. Der Offiziant kniff die Augen zusammen. Boysen erkannte den Aufgeregten. Dieser hieß Paul Lüders und war ein Tagelöhner, der sich auf der Wandrahminsel hauptsächlich als Karrenschieber sein Brot verdiente. Lüders war ein Heißsporn, den die Constabler schon öfter wegen Schlägereien eingesperrt hatten.
Doch in diesem Moment sprach die nackte Angst aus dem Gesicht des jungen Burschen. Lüders’ Unterlippe zitterte unaufhörlich, als die Worte aus seinem Mund drangen.
»Eine tote Frau ... ermordet ... da ist überall Blut ...!«
Aufgeregt deutete der Tagelöhner in Richtung Kehrwiederspitze. Boysen baute sich direkt vor Lüders auf und schnüffelte. Alle Karrenschieber soffen, das war seine Erfahrung. Anders konnten sie die harte Arbeit nicht ertragen. Doch genau jetzt miefte Lüders nur nach Angstschweiß, aber nicht nach Rum oder Bier. Er war nicht blau, sondern musste wirklich etwas Schreckliches gesehen haben.
»Immer mit der Ruhe, Paul. Was ist geschehen?«
»Herr Offiziant ...« So hatte der Karrenschieber Boysen noch nie zuvor angeredet. Bisher war der Uniformierte für ihn immer nur ein »Drecksudel« gewesen. »Da hinten liegt eine blutige tote Frau ... Oh Gott ...!«
Lüders schlug sich die rissigen schwieligen Hände vor das Gesicht. Seine Schultern zuckten. Der Tagelöhner hatte auf Boysen bisher noch niemals einen zart besaiteten Eindruck gemacht. Lüders war ein richtiger Schläger. Er kannte normalerweise keinen Respekt vor der Uniform, und er hatte keine Hemmungen, mit seinen mächtigen Fäusten auf einen Constabler loszugehen. Umso bemerkenswerter war für den Offizianten der jetzige Gefühlsausbruch des Zeugen. Als Lüders die Hände wieder sinken ließ, rannen Tränen über seine Wangen. Boysen legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.
»So, Paul. Dann bringst du uns jetzt zu der Leiche, einverstanden?«
Der Karrenschieber nickte heftig. Paul Lüders lief mit seinen schweren Seemannsstiefeln voran, Boysen und Okkinga folgten ihm.
Die Leiche befand sich in einer finsteren Ecke am Kehrwiederbrook. An diesem Platz sollte ein weiterer Warenspeicher entstehen, aber bisher waren nur die Grundmauern errichtet worden.
»Hier ist es«, krächzte Lüders. Er krallte sich wie ein Kind in Boysens Uniformärmel und deutete in die Finsternis.
Zwischen aufgestapelten Ziegelsteinen und Holzbohlen lag eine tote Frau, und zwar außerhalb des Lichtkegels der Straßenlampen. Boysen und Okkinga richteten ihre Blendlaternen auf die grausige Szene.
Boysens Kehle trocknete augenblicklich aus. Er hatte beim Ostasiengeschwader gedient, bevor er in das Constabler Corps eingetreten war. In Fernost hatte Boysen mehr als genug Menschen gesehen, die gewaltsam umgekommen waren. Und auch als Constabler und später als Offiziant hatte er mit einigen Tötungsdelikten zu tun gehabt.
Doch keine von diesen Leichen war auf so grausame Art ermordet worden wie diese junge Frau. Ihr Hals war förmlich zerfleischt worden. Das Kleid war an vielen Stellen zerrissen. Ein Sittlichkeitsverbrechen lag allerdings trotzdem nicht vor, denn der Täter hatte ihr die knielange Unterbüx offenbar nicht ausgezogen.
Täter? Boysen zog die Augenbrauen zusammen, während ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Sollte wirklich ein Mensch zu dieser Untat fähig gewesen sein? Der Offiziant hätte eher einen Wolf oder einen Bären als den Schuldigen vermutet. Doch solche wilden Tiere gab es nicht im Hamburger Hafen.
Oder?
Da gab es doch diesen Schausteller, der in seiner Menagerie Löwen und andere Raubtiere ausstellte. Die Biester wurden per Schiff nach Hamburg geschafft. Wenn nun eines von ihnen aus der Transportkiste entwichen war ... Wie hieß dieser Zirkusmensch bloß? Boysen zwang sich zum Nachdenken, dann fiel ihm der Name endlich ein.
Carl Hagenbeck.
»Das ist ein Tier gewesen«, sagte der Offiziant laut. Doch Paul Lüders schüttelte heftig den Kopf.
»Nee, Herr Offiziant. Das war ein Mann – ich hab’ ihn doch noch wegrennen sehen! Der lief wie ein Flunki!«
Boysen atmete tief durch. Er holte eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche und bot Okkinga und Lüders eine an. Gierig griffen die beiden anderen Männer nach den ovalen Glimmstängeln aus türkischem Tabak. Eigentlich war Rauchen im Dienst streng verboten, aber das war momentan Boysens geringste Sorge. Er zündete sich selbst eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief in seine Lungen.
»Jetzt erzähl’ mal der Reihe nach, Paul. Und denk daran: Ich sehe dir an der Nasenspitze an, wenn du lügst.«
»Ich will doch nicht schwindeln, jedenfalls nicht heute«, beteuerte der Zeuge. »Ich bin hier am Kehrwiederbrook spazieren gegangen ...«
»Um das romantische Mondlicht zu genießen?«, höhnte Boysen. »Du lügst doch, wenn du das Maul aufmachst, Paul!«
»Es stimmt aber!«
»Und was hattest du mitten in der Nacht in dieser einsamen Gegend zu schaffen?«, bohrte der Offiziant nach.
Paul Lüders sog nervös an seiner Zigarette.
»Ehrlich gesagt habe ich eine Geldbörse gesucht.«
»Das klingt schon glaubwürdiger. Und wieso sollte hier eine Geldbörse herumliegen?«
»Weil wir – Hein Gessens und ich – uns einen norwegischen Matrosen vorgeknöpft hatten.«
»Du meinst: ihr habt ihn zusammengeschlagen«, vergewisserte sich Boysen.
Der Tagelöhner nickte. »Der Kerl hat uns herausgefordert, ehrlich. Irgendwie sind wir mit ihm zum Kehrwiederbrook gelaufen. Der Norweger war besoffen, Herr Offiziant. Er hatte selber schuld.«
»Natürlich, klar«, meinte Boysen verächtlich. »Und was ist mit seiner Geldbörse?«
»Die hat er verloren, jedenfalls glaubte ich das. Der Norweger bekam Verstärkung von einigen seiner Schiffskameraden, und Hein und ich mussten verschwinden. Aber der Kerl war sternhagelvoll. Ich war mir sicher, dass ihm sein Geld irgendwo hier aus der Tasche gefallen ist.«
Das klang schon plausibler als ein verträumter Mondscheinspaziergang des Hafenschlägers, wie Boysen fand. Er fragte: »Du bist also allein zurückgekommen, weil du nicht mit Hein Gessens teilen wolltest?«
Lüders nickte. »Ich war gerade am Suchen, da hörte ich die Schreie des Mädchens. Und ... und dieses Knurren. Das werde ich noch im Ohr haben, wenn ich auf dem Totenbett liege!«
»Ein Knurren von einem wilden Tier?«, vergewisserte sich Boysen.
»Das dachte ich auch erst«, sagte Lüders und trat seine Zigarettenkippe aus. »Aber dann habe ich den Kerl gesehen, wie er geflohen ist.«
»Weißt du, was ich nicht verstehe?«, fragte Boysen. »Du bist doch ein harter Bursche, Paul. Seit wann gehst du einer Hauerei aus dem Weg? Warum bist du dem Mädchen nicht zu Hilfe gekommen? Vielleicht hätte sie dich als ihren edlen Retter dann später im Bett erhört ...?«
Lüders schüttelte den Kopf. Er nahm seine Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der bleichen Stirn. »Im ersten Moment wollte ich das tun, Herr Offiziant. Aber dann ... ich hatte Schiss, wie noch niemals zuvor. Ich habe in der Dunkelheit nicht genau sehen können, was dieser Teufel mit dem armen Mädchen gemacht hat. Aber ich habe es gehört ... oh Gott, ich habe es gehört!«
Der Tagelöhner presste sich die Fäuste auf die Ohren, als hätte er die Geräusche des Tötens immer noch im Kopf. Vielleicht ist das auch wirklich so, dachte Boysen. Er sagte: »Kannst du mir den Mörder beschreiben?«
»Es war finster. Aber ich bin mir sicher, dass der Kerl ein Schauermann war.«
»Wie kannst du das wissen, bei der Dunkelheit?«
»Als der Mörder fortlief, habe ich ihn kurz von hinten unter einer Laterne gesehen. Blaue Büx, Joppe, Mütze und Zampel über der Schulter. Ein echter Schauermann eben. Er war ungefähr so groß wie ich. Aber es dauerte nur einen Moment, dann war er bei St. Annen in der Finsternis verschwunden.«
»Haarfarbe, Tätowierungen?«, bohrte Boysen nach.
Lüders schüttelte erneut den Kopf. »Dafür war ich zu weit weg.«
»Wie lange ist es her, dass die Frau ermordet wurde?«, wollte Boysen wissen.
»Ich habe keine Uhr. Aber die Glocken von St. Annen hatten schon Mitternacht geschlagen.«
Der Offiziant zückte seine eigene Taschenuhr. Es war inzwischen kurz nach ein Uhr morgens. Es waren vielleicht schon 20 Minuten seit dem Mord vergangen. Oder noch mehr Zeit. Im Hafen gab es tausende und abertausende von Schauermännern, und viele von ihnen arbeiteten auch nachts. Im Umkreis von nur 20 Meilen befanden sich mindestens zwei Dutzend Schiffe, die von den Hafenarbeitern be- oder entladen wurden. Trotzdem wollte Boysen versuchen, dieses Dreckschwein zu erwischen.
Er zog seine Signalflöte aus dem Waffenrock und blies hinein. Es dauerte nicht lange, bis die Constabler Peters, Tobergte, Laurent und Sattmann angelaufen kamen. Sie waren in anderen Teilen der Wandrahminsel auf Streife gewesen. Okkinga hielt seine Blendlaterne immer noch auf den Leichnam gerichtet. Der unerfahrene junge Laurent musste sich sofort übergeben, als er die tote Frau sah.
»Ihr seht euch die Schauermänner auf den Kais genau an!«, befahl Boysen. »So, wie der Mörder hier gewütet hat, muss seine Joppe voll mit Blut sein. Der Kerl, der die Kleine auf dem Gewissen hat, ist ein Schauermann. Ihr seht ja selbst, wie das Opfer aussieht. Wenn der Mörder Sperenzchen macht, nehmt den Säbel und haut ihn in Stücke, Männer! Riskiert nicht euer eigenes Leben!«
Die Constabler nickten entschlossen und zogen ihre Säbel blank. Dann machten sie sich auf, um am Brooktorkai, am Sandtorkai und am Oberhafen nach dem Mörder zu fahnden. Dieses Bemühen glich der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen, das wusste Boysen selbst. Aber er musste jetzt endlich Maßnahmen einleiten. Er deutete mit dem Zeigefinger auf den schweigsamen Friesen.
»Okkinga, du läufst zur Brandstwiete und klopfst den alten Doktor Ahler aus dem Bett! Er soll kommen und sich die Leiche anschauen. Vielleicht kann uns der Quacksalber ja sagen, ob nun wirklich ein Mensch die arme Deern umgebracht hat. Oder ob es nicht doch ein Tier war.«
Der Friese nickte und eilte davon.
»Glauben Sie mir nicht?«, brauste Lüders auf.
»Halt dein Maul!«, murmelte Boysen gedankenverloren und zündete sich eine neue Zigarette an. »Kannst du eigentlich schreiben?«
»Meinen Namen, wenn es sein muss.«
»Das reicht. Du kommst gleich mit auf die Wache. Ich muss deine Zeugenaussage rapportieren, damit alles seine Ordnung hat.«
Während er auf Okkinga und den Arzt wartete, schaute sich Boysen die Umgebung näher an. Das Blut war weit gespritzt. Unvorstellbar, dass die Kleidung des Mörders nichts abbekommen haben sollte. Boysen wettete mit sich selbst, dass das Opfer eine Hure war. Darauf deutete jedenfalls ihre aufreizende Aufmachung hin. Das von Todesangst verzerrte Gesicht war grell geschminkt, das konnte man trotz der Leichenblässe noch gut erkennen. Die Freudenmädchen vom Hafen pflegten ihre Wangen mit billigem Talkumpuder aufzuhellen, die Lippen wurden mit Färberdistel rot angemalt. Die Augenpartie hatte die Frau sich mit Kohlestift nachgedunkelt. Der Offiziant entdeckte die Handtasche des Opfers. Sie war achtlos zur Seite geschleudert worden. Boysen öffnete das Behältnis. Er fand die Quittung eines Pfandhauses, ausgestellt für ein Fräulein Marie Stevens aus dem Bäckerbreitergang. Nun hatte Boysen immerhin Namen und Anschrift des Opfers. Neben dem üblichen Huren-Krimskrams wie Puderdose und den neumodischen Gummi-Kondomen fand er fünf Reichsmark und 30 Pfennige. Ein Raubmord konnte es also wohl kaum gewesen sein.
Aber vielleicht ein Racheakt?
So mancher Schauermann oder Matrose hatte sich bei einem Freudenmädchen schon die Syphilis geholt. Ob die Kleine geschlechtskrank gewesen war? Das würde sich bei der späteren Untersuchung im gerichtsmedizinischen Institut zeigen.
Boysen schaute sich das Kopfsteinpflaster genauer an. Doch es war unmöglich, hier Fußspuren zu entdecken. Die stetige steife Brise vom Norden her wehte Staub und Sägespäne sofort in die Fleete. Der Offiziant nahm seinen hohen Helm ab und kratzte sich nachdenklich am Nacken. Wenn der Mörder seinem Opfer aufgelauert hatte, war er vielleicht zuvor gesehen worden. Ob es möglich war, einen weiteren Zeugen zu finden? Lüders’ Aussage war nicht gerade wertlos, aber der Kreis der Verdächtigen war bisher riesig. Es gab tausende von Schauermännern mit durchschnittlicher Statur in Hamburg.
Boysen wurde von seinen Betrachtungen abgelenkt, denn Okkinga kehrte nun in Begleitung von Dr. Ahler zurück. Der Mediziner trug einen verschossenen Bratenrock und einen Zylinder. Auf seinen krummen Säbelbeinen bewegte sich Dr. Ahler schneller, als man es ihm in seinem hohen Alter zugetraut hätte. Sein weißer Vollbart war unter der Nase vom Nikotin gelb gefärbt. Auch zu dieser Nachtstunde hatte er eine glimmende Sumatra-Zigarre zwischen den Zähnen.
»Was gibt es, Boysen?«, bellte Dr. Ahler zur Begrüßung. »Ihr Constabler sagte etwas von einer toten Frau. Mehr habe ich aus diesem friesischen Sturkopf nicht herausgekriegt.«
Der Offiziant schilderte dem Arzt den bisherigen Stand der Dinge. Auch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Cover: Olivia Prodesign, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3039-7
Alle Rechte vorbehalten