Der weiße Alsterdampfer »Wandsbek« verließ pünktlich um 10.45 Uhr an einem schönen Septembertag die Anlegestelle am Jungfernstieg. Als das Ausflugsboot zwei Stunden später wieder festmachte, hatte es eine Leiche an Bord.
Zunächst bemerkte allerdings niemand, dass ein Toter in der letzten Sitzreihe links im Innenraum saß. Die Fahrgäste waren noch völlig begeistert von ihrer kleinen Reise auf den Fleeten. So werden in Hamburg die zahlreichen Kanäle und Gräben genannt, die bereits seit dem 9. Jahrhundert die Stadt durchziehen. In früheren Zeiten dienten die Gewässer hauptsächlich als Transportwege und als Trinkwasserquelle. Heute gehören sie zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt mit den meisten Brücken Europas.
Die Touristen waren von Bord gegangen. Kapitän Peter Nissen warf einen skeptischen Blick auf die Wetterlage. Auf der anderen Alsterseite, bei den Mundsburg-Türmen, zog eine Regenfront herauf. Gewiss würde es bald einen Schauer geben. Der Sommer war wohl bald endgültig vorbei, für dieses Jahr.
Da erst fiel dem Kapitän der Mann auf, der zusammengesunken ganz hinten im Boot saß, und zwar unmittelbar vor der Tür zum offenen Achterdeck. Er schien zu schlafen. Nissen ging etwas unwillig zu ihm hin, berührte ihn dann aber sanft an der Schulter, um ihn zu wecken. Als dieser sich nicht rührte, sprach der Kapitän ihn an.
»Die Reise ist zu Ende, mein Herr! Sie haben wohl die Fleete größtenteils versäumt, wenn Sie … Dammich noch mal!«
Der Kapitän fluchte, und das konnte man verstehen. In seinem Alsterdampfer saß eine Leiche! Der Tote starrte mit gebrochenen Augen ins Leere.
Zum Glück war Nissen ein Mensch, der nicht so schnell die Nerven verlor. Er wählte geistesgegenwärtig mit seinem Handy die Notrufzentrale 112, um Hilfe herbeizuholen. Innerhalb von sieben Minuten kam ein Rettungswagen mit heulenden Sirenen den Jungfernstieg entlanggebrettert. Ein Notarzt und zwei Sanitäter stürmten an Bord der »Wandsbek«.
Der Mediziner begann damit, den Leichnam zu untersuchen.
»Herzinfarkt?«, fragte Nissen.
Der Arzt schüttelte den Kopf.
»Mir fehlen hier die Apparate, um eine genaue Analyse geben zu können. Aber bisher deutet alles auf einen Gifttod hin.«
Kriminalhauptkommissarin Heike Stein von der Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes Hamburg hatte an diesem Tag Tatortdienst. Die attraktive Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur traf zweiunddreißig Minuten nach dem Notarztwagen am Tatort ein. Aber – war das Alsterschiff überhaupt der Tatort? Das würde sich zeigen.
Heike präsentierte ihren neuen Dienstausweis. Er ähnelte einem fälschungssicheren Personalausweis und hatte als Grundfarbe blau – passend zu der Entscheidung, in Hamburg endlich wieder blaue Polizeiuniformen einzuführen. Obwohl Heike stets in Zivil auftrat, begrüßte sie das trotzdem.
Sie stammte aus einer alten Polizistenfamilie. Seit zweihundert Jahren hatten die Steins das Blau der Hamburger Polizei getragen. Schon beim Constabler Corps, wie die Polizeikräfte in der Kaiserzeit genannt wurden. Die Pickelhaube war durch den preußischen Tschako ersetzt worden, aber das Blau des Uniformstoffs war geblieben, auch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, wo das weiße Koppelzeug mit der dunklen Uniform kontrastierte. Erst in den Siebzigerjahren hatte die Hansestadt die bundesweit übliche »grün-senffarbene« Kombination eingeführt, wie Heike die Uniform spöttisch nannte. Die Polizistin war der Meinung, dass ein Hamburger Udel nicht wie ein Oberförster aussehen musste.
Sie begrüßte zunächst den Notarzt.
»Nach Ihrer vorläufigen Diagnose wird die Leiche jetzt gewiss für genauere Untersuchungen ins gerichtsmedizinische Institut geschafft.«
Der Mediziner nickte.
»Es gibt den dringenden Verdacht auf eine Vergiftung mit tödlichem Ausgang. Diese Verkrampfungen der Gliedmaßen sowie der Geruch seiner Lippen deuten darauf hin …«
»Können Sie mir in etwa sagen, wann der Tod eingetreten ist?«
»Schätzungsweise vor einer Stunde.«
»Wie schnell wirkt das Gift, das dem Mann verabreicht wurde?«
»Das kann ich hier unmöglich feststellen, Frau Kommissarin. Aber im gerichtsmedizinischen Institut müsste sich das gewiss innerhalb eines Tages herausfinden lassen.«
Heike bedankte sich und widmete sich nun dem Kapitän.
»Hauptkommissarin Stein von der Hamburger Kripo. – Waren Sie vor einer Stunde noch unterwegs?«
Nissen bejahte.
»Dann muss der Tod also während der Fahrt eingetreten sein?«
»Ja, Frau Kommissarin. Aber anscheinend hat niemand an Bord etwas bemerkt. Ich selbst habe ja auch nichts davon mitgekriegt.«
»Der Mann saß allein dort hinten in der Ecke. Wahrscheinlich ist man davon ausgegangen, dass er eingenickt wäre.«
»Das habe ich auch erst geglaubt, ehrlich gesagt. Aber als ich direkt neben ihm stand und ihn dann berührte, sah ich, dass er tot war.«
»Können Sie sich erinnern, wie er an Bord kam, Herr Kapitän? War er in Begleitung?«
Nissen schüttelte den Kopf.
»Darüber kann ich keine zuverlässige Aussage machen, Frau Kommissarin. Verstehen Sie, Zehntausende Menschen nehmen jedes Jahr an unseren Fahrten teil, da kann ich mir nicht jedes einzelne Gesicht merken und auch nicht, ob die Leute allein oder in Begleitung kommen.«
»Aber Sie können auch nicht ausschließen, dass jemand bei ihm war?«
Der Kapitän hob die Schultern.
»Wie gesagt, ich weiß es nicht. Während der Fahrt stehe ich ja am Ruder und kriege von den Passagieren kaum etwas mit. Vielleicht wäre es besser, welche von denen zu befragen.«
»Das werde ich tun, keine Sorge.« Heike schlenderte gedankenverloren den Mittelgang des Alsterdampfers entlang. Obwohl sie zerstreut wirkte, war sie absolut konzentriert. Sie registrierte auch noch die kleinsten Details auf dem Boot. Jede Kleinigkeit konnte dazu beitragen, einen Mord aufzuklären. Heike öffnete die Tür zum Achterdeck. Draußen gab es nicht annähernd so viele Sitzplätze wie in der überdachten Kabine. An einer Heckstange flatterte die rot-weiße Hamburger Fahne in den Regenböen. Innerhalb weniger Minuten hatte es sich merklich abgekühlt. Dicke Regentropfen fielen.
Die Hauptkommissarin fröstelte. Sie war zu leicht bekleidet für dieses Wetter. An dem Tag trug Heike nur ein leichtes, beiges Leinenkostüm, darunter eine ärmellose hochgeschlossene Bluse aus Rohseide. An den Füßen hatte sie zweifarbige Sneakers. Auf eine Strumpfhose oder Strümpfe hatte sie verzichtet. Nicht jedoch auf ihre Dienstpistole, die sie vorschriftsmäßig in einem Clipholster hinten am Rockgürtel trug.
Schnell ging Heike wieder in die Kabine. Die »Wandsbek« hatte den typischen Schiffsgeruch nach Motorenöl und frischer Farbe. Sämtliche Alsterdampfer waren bestens gepflegt und gewartet sowie von geradezu peinlicher Sauberkeit. Kein Wunder, schließlich behielten Tausende von Touristen aus aller Welt ihre Alsterdampferfahrt als Erinnerung im Gedächtnis. Da war es wichtig, die Hansestadt von ihrer Schokoladenseite zu präsentieren.
Als im Jahr 1857 die »Alina« als erstes Alsterdampfschiff in Dienst gestellt wurde, waren die kleinen weißen Wasserfahrzeuge sofort als billiges Nahverkehrsmittel bei den Hamburgern beliebt. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hatte der Schiffsverkehr auf der Alster seine goldenen Zeiten gehabt. Später wurden Straßenbahn, U- und S-Bahn zu ernstzunehmenden Konkurrenten, und die Fahrt mit einem Alsterschiff entwickelte sich weg von einer Alltäglichkeit und hin zu einer Touristenattraktion.
Der Kapitän knetete seine großen, kräftigen Hände.
»Ich will ja nicht pietätlos sein, Frau Kommissarin. – Aber … könnten Sie das Schiff wohl freigeben? Ich habe bald die nächste Fleetenfahrt, und …«
»Völlig unmöglich.« Heike schüttelte resolut den Kopf. »Erst muss das Spurensicherungsteam seine Arbeit aufnehmen und beendet haben. Das kann ein paar Stunden dauern. Ich empfehle Ihnen, für einen Ersatz zu sorgen. Außerdem habe ich noch ein paar Fragen an Sie.«
Inzwischen war ein Mann von der Betreibergesellschaft auf der Bildfläche erschienen. Nissen palaverte kurz mit ihm, dann kehrte er zu Heike zurück. Die Kriminalistin war neben der Sitzbank, wo sich immer noch der Tote befand, in die Knie gegangen. Sie musterte den Fußboden, konnte aber nichts Wichtiges feststellen.
»Wir haben umgeplant«, sagte der Kapitän erleichtert. »Die ›Eilbek‹ samt ihrem Skipper springen für uns ein. Wenn ich vielleicht das Schiff nur ein Stück weit umparken dürfte, sozusagen? Bald kommen die nächsten Fahrgäste, und …«
»Schon kapiert«, sagte Heike. »Die Touristen müssen nicht mitkriegen, dass hier Polizei und Gerichtsmedizin beschäftigt sind, stimmt’s?«
»So in etwa.« Nissen wirkte verlegen.
»Wir sind ja flexibel, Herr Kapitän. Es kommt auch nicht so oft vor, dass wir einen Tatort einfach verschieben können. – Falls das Schiff überhaupt der Tatort war.«
»Das verstehe ich nicht, ehrlich gesagt.«
»Damit meine ich, ob das Opfer während der Fahrt vergiftet wurde oder vorher. Offensichtlich ist der Mann an Bord verstorben. Aber wir wissen ja nicht, ob ihm das Gift hier verabreicht wurde oder zu einem früheren Zeitpunkt. Dazu müssen die Gerichtsmediziner feststellen, wie lange das Gift braucht, um seine Wirkung zu entfalten.«
Während Heike mit Nissen redete, ließ dieser die Leinen loswerfen und schlug das Ruder leicht nach Backbord. Die »Wandsbek« kam vom Anleger frei, glitt ein Stück weiter vorwärts. Dann legte der Kapitän neben einem anderen Alsterdampfer an, der gerade nicht im Dienst war. Kaum waren die Leinen wieder festgezurrt und die Laufplanke gelegt, als auch schon die Kollegen von der Technischen Abteilung und die Männer von der Gerichtsmedizin an Bord kamen.
Heike schaute nach achtern. Arglos stieg dort bereits die nächste Touristengruppe in das Ersatzschiff. Niemand ahnte etwas von dem Verbrechen. Nun, das würde sich ändern, wenn am nächsten Morgen die Zeitungen erschienen.
»Ich möchte noch einmal Punkt für Punkt die Fahrt mit Ihnen durchgehen«, sagte Heike zu Nissen. Inzwischen nahm die Technische Abteilung ihre Arbeit auf. Die Mitarbeiter der Gerichtsmedizin hoben den Toten in einen mitgebrachten Zinksarg.
Heike warf noch einen Blick auf den Ermordeten. Er war mittelgroß und schlank, sehr gut gekleidet. Er wirkte eher wie ein Börsianer und weniger wie ein Tourist. Sein Anzug war aus englischem Tuch, mit Weste, vermutlich alles maßgeschneidert. Seine Füße steckten in Schuhen der Nobelmarke Budapester. Für so etwas hatte Heike einen Blick. Sie war selbst modischer Kleidung nicht gerade abgeneigt, wie ihr Kontostand leider ebenfalls bewies …
Der Tote hatte einen blonden Oberlippenbart, sein schütteres Haar war ebenfalls blond. Als sich der Sargdeckel geschlossen hatte, wandte Heike sich wieder dem Kapitän zu. Dessen Gesicht hatte einen fragenden Ausdruck angenommen.
»Was für eine Tour haben Sie heute gefahren, Herr Kapitän?«
»Die normale Fleettour. Zwei Stunden durch die Fleete … Alsterfleet, Bleichenfleet, Nicolaifleet und so weiter. Das dauert in etwa zwei Stunden.«
»Ist Ihnen heute etwas Außergewöhnliches aufgefallen?«
»Was meinen Sie, Frau Kommissarin?«
»Zum Beispiel die Passagiere. Waren unter Ihren Passagieren Leute, die sich irgendwie verdächtig benommen haben?«
Der Kapitän machte eine unbestimmte Handbewegung.
»Ich weiß nicht, was Sie unter verdächtig verstehen. Wie so ein richtiger Mafia-Gangster aus dem Fernsehen sah jedenfalls keiner aus.«
Heike musste grinsen.
»Das habe ich auch nicht gemeint. Es war nur so ein Gedanke. Ist es eigentlich möglich, dass jemand während der Fahrt von Bord springt?«
»Möglich schon. Aber das ist bei dieser Fahrt nicht passiert.«
»Wie können Sie das wissen?«
»Wir haben hier so ein automatisches Zählwerk am Kabineneingang, für die Statistikzahlen. Daran kann ich erkennen, dass ich 32 Passagiere aufgenommen habe. 31 haben die ›Wandsbek‹ wieder verlassen. Plus das Opfer macht 32.«
Da hatte der Kapitän zweifellos Recht. Nun blieben nur noch zwei Möglichkeiten übrig. Das Opfer war von einem der Mitpassagiere während der Fahrt vergiftet worden. Oder es hatte bereits vor der Alsterfahrt die tödliche Substanz in sich aufgenommen. Das würde sich spätestens bei der Obduktion klären.
»Gab es Passagiere, die Ihnen persönlich bekannt waren?«, wollte Heike wissen. Der Kapitän schaute sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Die Kriminalistin machte eine abwehrende Handbewegung.
»Schon gut, schon gut! Ich weiß, Sie schippern jedes Jahr Zehntausende von Menschen über die Alster und können sich nicht an jeden einzelnen erinnern. Aber es hätte zumindest sein können, oder?«
Nissen schmunzelte.
»Sie haben Recht, Frau Kommissarin. Es gibt ja auch durchaus Stammgäste. Zum Beispiel eine alte Dame, die jeden Mittwoch die Fleetenfahrt mitmacht. Die kenne ich natürlich schon vom Sehen, nach all den Jahren. Aber heute war sie nicht hier. Allein schon, weil heute Dienstag ist.«
»Ich verstehe.« Heike schrieb in Blockbuchstaben das Wort STAMMGÄSTE in ihr Notizbuch. In diesem Moment kam Kriminalhauptkommissar Ben Wilken an Bord der »Wandsbek«. Heike blickte auf und lächelte ihm zu.
Ben war ihr Dienstpartner bei der Mordbereitschaft. Sie lösten ihre meisten Fälle zusammen. Heike fand den hoch gewachsenen, dunkelhaarigen und gut aussehenden Mann sympathisch, hatte aber kein Verhältnis mit ihm. Doch genau das wurde den beiden hinter vorgehaltener Hand unterstellt. Böse Zungen im Präsidium nannten sie »das Traumpaar vom LKA« (Landeskriminalamt). Davon war kein Wort wahr. Es wäre Heike niemals eingefallen, mit ihrem glücklich verheirateten Kollegen etwas anzufangen. Es gehörte zu ihren Grundsätzen, sich niemals in eine Ehe zu drängen. Außerdem gab es genügend attraktive männliche Singles, die ein Auge auf die Hauptkommissarin geworfen hatten …
Ben lächelte ebenfalls. Er nickte Heike und dem Kapitän zu.
»Dr. Magnussen schickt mich zur Unterstützung.«
Kriminaloberrat Dr. Clemens Magnussen war der gemeinsame Vorgesetzte von Heike und Ben.
»Es wartet wirklich eine Menge Arbeit auf uns. Aber hier bin ich vorerst fertig.« Heike wandte sich nun noch einmal an Kapitän Nissen. »Hier ist meine Visitenkarte. Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte. Es kann auch sein, dass wir Sie noch einmal befragen müssen.«
»Nur zu«, brummte Nissen. »Ich will ja auch, dass der Mörder gefasst wird.«
Heike und Ben verließen die »Wandsbek«. Die Kriminalistin brachte ihren Kollegen im Telegrammstil auf den neuesten Stand. Ben hob überrascht die Augenbrauen.
»Kann man denn Selbstmord ausschließen?«
Heike ärgerte sich über sich selbst, weil ihr diese Möglichkeit noch nicht eingefallen war.
»An einen Freitod hatte ich wirklich noch nicht gedacht, zugegeben.«
»Bisher ist die Identität des Toten aber auch noch nicht bekannt, oder?«
»Nein, aber er hatte wohl eine Brieftasche mit Papieren bei sich. Wir bekommen sie umgehend von der Technischen Abteilung, sobald die Kollegen den Inhalt untersucht haben.«
»Dann sollten wir die Selbstmord-Theorie zurückstellen«, schlug Ben vor. »Falls er wirklich durch Gift freiwillig in den Tod gegangen ist, muss der Mann ja ein Motiv gehabt haben.«
»Ich erhoffe mir etwas von der Befragung der anderen Alsterdampfer-Passagiere, Ben. Irgendjemand von denen muss doch gesehen haben, ob er während der ganzen Fahrt alleine in der Ecke gesessen hat.«
»Es wird nicht ganz einfach sein, solche Zeugen aufzutreiben. Viele Alsterdampfer-Passagiere sind doch ausländische oder auf jeden Fall auswärtige Touristen, die vielleicht schon morgen gar nicht mehr in Hamburg sind. Oder die es nicht mitkriegen, wenn wir über die Medien nach Zeugen suchen.«
»Du kannst einem richtig Mut machen«, stichelte Heike.
Sie fuhr gemeinsam mit Ben ins Präsidium zurück. Einen eigenen Privat-PKW hatte Heike nicht. Zum Tatort hatte sie sich von einem Streifenwagen mitnehmen lassen, der gerade vom Präsidium in Richtung Innenstadt abfuhr.
Der nächste Regenschauer kam schon wieder herunter. Heike liefen kalte Schauer über den Rücken. Sie schaute neidvoll auf Ben, der für das beginnende Herbstwetter passender als sie selbst angezogen war. Der Hauptkommissar trug eine Cordhose, ein Flanellhemd und eine Wildlederjacke. Ihm entging nicht die Gänsehaut auf den nackten Beinen seiner Kollegin. Galant drehte er die Heizung im Auto höher.
»Ich trauere dem Sommer auch hinterher, Heike. Aber für dieses Jahr können wir da wohl nichts mehr erwarten.«
»Ja, ist wohl so.« Die Kriminalistin schaute durch das Seitenfenster gedankenverloren auf die Passanten, die den Jungfernstieg entlangeilten, von den Regenböen gehetzt. »Der eine oder andere ist schon clever genug, sich mit einem Regenschirm zu bewaffnen.«
Im Präsidium wartete bereits neue Arbeit auf die beiden Kriminalisten.
»Die Brieftasche des Opfers!«, sagte Heike zufrieden, als sie diese auf ihrem Schreibtisch liegen sah.
Sie und ihr Kollege machten sich gleich daran, den Inhalt auszuwerten. Auch alle anderen Mitarbeiter in dem Großraumbüro der Sonderkommission Mord waren bienenfleißig mit ihren jeweiligen Fällen beschäftigt. Über Mangel an Gewaltverbrechen schien sich die Hansestadt momentan nicht beklagen zu können.
Ben schaltete seinen Computer ein, um eine Bestandsaufnahme zu tippen. Heike griff nach einem Dokument. Es war ein österreichischer Personalausweis. Auf dem Foto erkannte sie sofort den Toten wieder.
»Unser Mann hieß Dr. Josef Lindinger, Ben. Geboren in Wien.«
»Österreichischer Staatsbürger?«
»Exakt. Hier steht natürlich auch seine Anschrift. Da muss ich sehen, ob ich eventuelle Angehörige benachrichtigen kann. – Außerdem habe ich hier eine EC-Karte, eine American-Express-Kreditkarte, einen Ausweis vom Österreichischen Automobilklub – und einen Zimmerausweis vom Hotel Goldbek.«
»Dort wird er während seines Hamburg-Aufenthaltes abgestiegen sein.«
»Davon gehe ich auch aus. Könntest du gleich mal dort hinfahren und sein Zimmer checken, Ben?«
»Aber immer doch.« Der Hauptkommissar nahm den Zimmerausweis an sich und eilte davon.
Heike hängte sich inzwischen ans Telefon. Nach einigen Anrufen in dem Nachbarland hatte sie in Erfahrung gebracht, dass Dr. Josef Lindinger ein Junggeselle gewesen war. Er hatte keine Familie, keine näheren Verwandten. Hingegen besaß er eine kleine Import-Export-Firma mit drei Angestellten. Den Grund für seine Hamburg-Reise konnte oder wollte aber keiner der Leute benennen. Immerhin schien Dr. Lindingers Tod sie betroffen zu machen, soweit Heike das am Telefon beurteilen konnte. Aber vielleicht lag es auch nur daran, dass die Angestellten nach dem Tod ihres Chefs vermutlich ihre Jobs verlieren würden …
Heike hatte sich eifrig Notizen gemacht. Nun ging es doch schon etwas voran. Es blieb allerdings die Frage, was Dr. Lindinger in Hamburg gewollt hatte. Aber die Kriminalistin hatte ja auch eben gerade erst mit ihrer Recherche angefangen.
Eine Stunde später kehrte Ben zurück.
»Ich habe veranlasst, dass sich ein Spurensicherungsteam das Hotelzimmer vornimmt. Mir selbst ist dort erst mal nichts aufgefallen. Das Gepäck besteht nur aus einem weiteren Anzug, Wäsche und Hygieneartikeln. Ach ja, und eine österreichische Tageszeitung lag auch noch herum.«
»Klingt nicht sehr persönlich«, meinte Heike.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Bildmaterialien: www.klauddesign.com
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3461-6
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