Der Mann sah sogar als Leiche noch gut aus.
Er war neben dem Schminktisch zu Boden gefallen. Der Tote lag auf dem Rücken.
Seine Beine, die in ausgewaschenen Jeans steckten, waren angewinkelt. Der Oberkörper war vollkommen nackt, wenn man von einem indianischen Halsschmuck und einigen indisch aussehenden Armreifen an den Handgelenken absah.
Daher konnte man auch die tödliche Schusswunde nicht übersehen. Sie befand sich in der Nähe des Herzens. Die rechte Hand des Mannes war um einen Revolver gekrampft.
Doch am beeindruckendsten fand Kriminalhauptkommissarin Heike Stein sein Gesicht. Nicht nur deshalb, weil es eine männliche Schönheit aufwies, wie man sie selten sah. Sicher, der Tote war zu Lebzeiten ein Schauspieler gewesen. Ein Musicalstar, den man aus Amerika an die Elbe locken konnte. Seine Mimik zeigte jedenfalls grenzenloses Erstaunen, wie Heike Stein fand. So, als könne er es nicht glauben, dass er überhaupt sterblich sei ...
»Eine entsetzliche Katastrophe! Was sollen wir denn jetzt nur tun?«
Diese Sätze wurden von einem kleinen glatzköpfigen Anzugträger hervorgestoßen. Er stand unmittelbar neben der Kripo-Beamtin und wischte sich pausenlos den Schweiß von der Stirn. Heike vermutete, dass er der Direktor oder Leiter dieses Musicaltheaters war. Jedenfalls kannte sie ihn nicht.
»Ich weiß nicht, was Sie tun müssen«, sagte die Hauptkommissarin. »Aber ich habe die Pflicht und den Willen, den Mörder zu fassen.«
»Mörder?!« Der Glatzkopf schaute Heike an, als hätte sie den Verstand verloren. »Das ist ja wohl eindeutig ein Selbstmord!«
»Wollen Sie das bitte mir überlassen«, entgegnete die Kriminalistin. Arroganz gehörte eigentlich nicht zu ihren herausragenden Charakterzügen. Aber Heike konnte es nicht ausstehen, wenn Amateure ihr ins Handwerk pfuschten. Hier war ein Mensch auf unnatürlichem Weg vom Leben in den Tod befördert worden. Ihr Job bestand darin, den Schuldigen zu finden. Nicht umsonst arbeitete Heike Stein seit Jahren bei der Sonderkommission Mord des Landeskriminalamtes Hamburg.
»Wer sind Sie überhaupt?«
Der Glatzkopf begehrte auf. Heike konnte seine Nervosität sogar verstehen. Es waren noch zwanzig Minuten bis zur Weltpremiere des neuen Musicals Love & Peace. Und der Hauptdarsteller lag tot zu ihren Füßen. Da konnte ein Theaterleiter – oder was immer dieser Mensch auch war – schon unruhig werden.
Sie hielt ihm ihren Dienstausweis unter die Nase. Und damit sie sich nicht dauernd legitimieren musste, hängte Heike sich das in Plastik eingeschweißte Dokument gleich an ihr Revers.
Die Kriminalistin trug an diesem Abend einen dunkelblauen zweireihigen Blazer mit rotem Halstuch und dem Hamburger Wappen auf der Brusttasche. Dazu einen grauen knielangen Rock mit Gehschlitz, schwarze Strumpfhosen und Lackpumps in der gleichen Farbe.
Hinten am Rockbund hatte sie außerdem ein Clipholster befestigt. Darin befand sich ihre Pistole.
Und eigentlich war Heike überhaupt nicht im Dienst. Doch ihr Vorgesetzter hatte Anweisung gegeben, dass wegen der zunehmenden Gewaltkriminalität seine Leute auch in ihrer Freizeit ihre Waffe mit sich führen sollten.
Der Glatzkopf hatte inzwischen kapiert, wen er vor sich hatte.
»K-Kriminalpolizei? Wieso sind Sie so schnell hier? Es sind doch keine zehn Minuten seit dem Schuss vergangen!«
»Acht Minuten, um genau zu sein. Deshalb haben wir auch eine gute Chance, den Täter noch zu fassen. – Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Ach so, Entschuldigung. Ich bin Herbert Grote, der Direktor des Musicaltheaters.«
Der Glatzkopf wischte sich wieder die Schweißperlen aus dem Gesicht. Heike griff nach ihrem Handy.
»Niemand darf die Insel verlassen, Herr Grote. Ich werde jetzt meine Kollegen verständigen. Um den Toten kümmere ich mich.«
»S-selbstverständlich. Aber mir ist immer noch nicht klar, wie Sie so schnell ...«
Heike rollte ungeduldig mit den Augen.
»Ich habe eine Einladung zur Weltpremiere Ihres Musicals bekommen. Ich bin also ein ganz normaler Gast. Aber als der Schuss fiel, hat mich Ihr Sicherheitschef offenbar erkannt. Jedenfalls lotste er mich aus dem Foyer hierher in die Garderobe des Opfers.«
»Ja, unser Sicherheitschef. Herr Borchert hat bei der Hamburger Polizei gearbeitet, bevor er zu uns kam.«
Wie ein Schauspieler, der auf sein Stichwort gewartet hat, erschien in diesem Moment der Security-Chef.
»Das Shuttle-Boot fährt nicht mehr ab, Heike. Niemand kann von der Insel entwischen.«
»Sehr gut, Thomas.«
Heike atmete tief durch. Während sie ihr Handy betätigte, ordnete sie ihre Gedanken.
Eigentlich hatte sie sich wirklich nur einen schönen Abend machen wollen. Wann hatte eine gestresste Hauptkommissarin schon einmal Gelegenheit, die Weltpremiere eines neuen Musicals anzusehen?
Um Love & Peace hatte es einen mächtigen Medienrummel gegeben. Für das Stück war extra ein neues Musicaltheater gebaut worden, im Herzen Hamburgs.
Und zwar auf einer Elbinsel!
Die Insel Buntesand war so klein, dass nur das Musicalhaus und eine kleine Anlegestation darauf Platz fanden. Die Gäste wurden von den St. Pauli Landungsbrücken mit Shuttle-Booten abgeholt. Die Fahrt dauerte nicht länger als sieben oder acht Minuten und war eine zusätzliche Attraktion.
Als der Schuss gefallen war, hatte Heike nichts Böses geahnt. Im Theater wird ja öfter mal geschossen – selbst dann, wenn das Stück Love & Peace heißt. Doch dann war ihr ehemaliger Polizeikollege in seiner Wachmann-Uniform auf sie losgestürmt und hatte sie hinter die Bühne gezerrt.
Und hier stand sie nun, mit der attraktivsten Männerleiche aller Zeiten zu ihren Füßen.
Während ihr diese Überlegungen durch den Kopf zischten, telefonierte Heike. Zunächst einmal mit dem Polizeipräsidium.
»Wer hat heute Tatortdienst? Lutz Perchau? Er soll kommen, ich bin schon vor Ort. – Nein, ich war zufälligerweise privat hier. Straße? Hier gibt es keine Straße, er muss mit dem Boot kommen. Nein, ich habe nichts getrunken. Ich bin hier auf Buntesand. Meinetwegen kann er auch einen Hubschrauber nehmen. Hier liegt ein gewaltsamer Todesfall vor. Ich brauche auch das Spurensicherungsteam. Und später noch zwanzig oder dreißig Beamte von der Einsatzhundertschaft.«
Die Kriminalistin beendete das Gespräch und rief dann sofort die Wasserschutzpolizei an.
»Hier spricht Kriminalhauptkommissarin Stein von der Sonderkommission Mord, LKA. Ich bin auf Buntesand. Könnt ihr mir ein Boot schicken, um die Gewässer um die Insel herum zu bewachen? Ich habe wahrscheinlich einen Mörder hier auf Buntesand. Falls er schwimmend entkommen will ...«
Die Kollegen von der Wasserschutzpolizei versprachen, sofort eine Polizeibarkasse zu schicken. Heike bedankte sich und beendete das Gespräch. Dann wandte sie sich wieder an den Sicherheitschef des Musicaltheaters.
»Thomas, wie viele Leute hast du hier?«
»Fünf, mich selbst eingeschlossen. Wir sollen hauptsächlich darauf achten, dass sich keine Schnorrer ohne Eintrittskarten hereinschleichen. Aber ich habe meine Männer jetzt an allen Ausgängen postiert. Und natürlich am Anleger des Shuttles.«
»Gut gemacht«, sagte Heike. Allerdings dachte sie, dass der Mörder genügend Zeit zum Verschwinden gehabt hätte, ohne die Insel zu verlassen. Er musste sich nur unter die anderen Gäste mischen.
Herr Grote, der zwischenzeitlich verschwunden war, kam wieder herangekeucht.
»Ich hoffe, wir können die Premiere trotz dieses ... Vorfalls starten? Die Zweitbesetzung ist gerade noch ›in der Maske‹ ...«
»Sicher«, sagte Heike. »Unsere Ermittlungsarbeiten werden dadurch nicht behindert. Wir müssen allerdings die Personalien sämtlicher Premierengäste aufnehmen. Aber das tun wir ohnehin am besten, wenn nach Schluss der Vorstellung alle zu den Shuttle-Booten strömen.«
»Vielen Dank, Frau Hauptkommissarin!«
Der Direktor des Musicaltheaters hetzte schon wieder davon. Heike fuhr sich mit der rechten Hand durch ihre blonde Kurzhaarfrisur. Sie wandte sich an den Sicherheitschef.
»Ich werde mich draußen mal etwas umsehen.«
Heike verließ die Garderobe. Das ganze Gebäude war so neu, dass es überall noch nach frischer Farbe roch. Licht und hell waren die Räumlichkeiten hinter der Bühne. Keine dunklen Winkel oder Ecken, in denen sich ein Bösewicht verkriechen konnte. Später, wenn die Kollegen von der Einsatzhundertschaft gekommen waren, wollte Heike die ganze Insel durchkämmen lassen.
Die Kommissarin strebte auf den Hinterausgang zu. Dort stand mit vor der Brust verschränkten Armen ein Wachmann. Er trug die Fantasieuniform der Musical-Security: Schwarze Hose, dunkelblaues Hemd, breites Lederkoppel. Bewaffnet waren die Wachmänner nicht, was Heike sehr löblich fand.
Der Wachtposten nickte ihr zu, nachdem er ihren Kripo-Ausweis am Revers gesehen hatte.
»War der Hinterausgang abgeschlossen, als Sie hier mit der Wache begonnen haben?«
»Ja, Frau Hauptkommissarin.«
»Das ist aber seltsam, oder? Dort oben steht dieses Leuchtschild mit dem Notausgang-Symbol. Seit wann dürfen Notausgänge abgeschlossen sein?«
Der Mann errötete wie ein Schuljunge.
»Das ist wirklich ein Versäumnis.«
»Haben Sie den Ausgang abgeschlossen?«
»Nein. Er ist jetzt abgeschlossen. So habe ich ihn vorgefunden.«
»Sollte der Ausgang überhaupt abgeschlossen sein?«
»Natürlich nicht! Es ist schließlich ein Fluchtweg bei Brandgefahr oder Ähnlichem, wie Sie selbst bemerkt haben.«
»Wenn Sie ihn nicht abgeschlossen haben, wer dann?«
»Ich weiß es nicht, Frau Hauptkommissarin.«
Der Mörder, dachte Heike spontan. Er erschießt Marc Degner, läuft die paar Meter zum Notausgang und schließt diesen hinter sich ab. Mögliche Verfolger werden dadurch aufgehalten. Sie müssen erst jemanden holen, der einen Schlüssel hat.
Aber woher hatte der Killer einen Schlüssel? Das musste Heike herausfinden.
»Könnten Sie mir jetzt bitte aufschließen? Ich will mich draußen mal umsehen.«
»Selbstverständlich.«
Der Wachmann holte ein Schlüsselbund heraus und sperrte die Tür auf. Heike trat hinaus. Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen. Es war ein schöner Abend im April. Man konnte den Frühling eher erahnen als spüren. Jedenfalls war es noch ziemlich kalt.
Die Kriminalistin entfernte sich ein paar Schritte vom Musicalgebäude. Sie hörte den Applaus aufbranden. Und die ersten Takte des Titelsongs Love & Peace, der seit einigen Tagen auf allen Hamburger Radiostationen dudelte. Die Investoren taten ihr Bestes, damit das Musical ein Erfolg wurde. Da war die Ermordung des männlichen Hauptdarstellers natürlich ein herber Rückschlag.
Wer konnte ein Interesse an Marc Degners Tod haben? Das war eine Frage, mit der Heike sich am nächsten Tag ausführlich beschäftigen wollte. An diesem Abend suchte sie erst einmal nach Spuren, die der Mörder hinterlassen haben konnte.
Leichter Nieselregen setzte ein. Die kleine Insel war immerhin gut ausgeleuchtet. Heike musste nur ein paar Schritte gehen, um zum steinigen Strand zu gelangen.
Träge leckten die Wellen der Elbe gegen das kleine Eiland. Weiter östlich konnte Heike die Lichter des Hamburger Hafens sehen. Ein Frachter glitt wie ein riesiges schwarzes Ungetüm durch die Fahrrinne. Die grünen Leuchten der Steuerbord-Seite blinkten in der Nacht. Die starken Motoren der Hafenschlepper dröhnten. Die kleinen Boote bugsierten den Riesen zu seinem Verladekai.
Ansonsten hörte Heike neben dem Kreischen der aufgescheuchten Möwen hauptsächlich das regelmäßige Tuckern der beiden Polizei-Barkassen, die Buntesand umkreisten. Die Lichtkegel ihrer Suchscheinwerfer glitten über das ölige Elbwasser. Wenn jetzt noch jemand von der Insel zu entkommen versuchte, würden die Kollegen von der Wasserschutzpolizei ihn mit Sicherheit aus dem Bach fischen.
Doch Heike hatte das dumme Gefühl, dass diese Maßnahmen zu spät kamen. Sie konnte ihre Zweifel nicht begründen und ärgerte sich über sich selbst. Doch schon oft genug hatte sich im Dienstalltag gezeigt, dass solche Vorahnungen zutrafen. Sie machte allerdings nicht den Fehler, mit jemandem darüber zu reden. Am allerwenigsten mit ihrem Vorgesetzten Dr. Clemens Magnussen. Der Kriminaloberrat war sowieso der Meinung, dass Frauen nicht in den Polizeidienst gehörten. Oder allerhöchstens in die Vermisstenabteilung, um vorübergehend verwaiste Kinder zu bemuttern ...
Heike konzentrierte sich wieder auf den aktuellen Fall, um ihre aufsteigende schlechte Laune zu bekämpfen. Wie war der Mörder entkommen?
Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder durch die Hintertür oder nach vorn, Richtung Bühne und Zuschauerraum beziehungsweise Foyer. Falls die zweite Möglichkeit zutraf, war der Mörder noch auf der Insel. Und wenn er mit einem Boot gekommen war?
Heike trat vorsichtig auf die glitschigen Kiesel des steinigen Strandes. Hier war die Beleuchtung durch die Halogenlampen von Buntesand nicht mehr gut. Es roch nach Fisch, Maschinenöl und Salzwasser.
Wenn man ein Boot auf den Strand gezogen hatte, würden das die Männer von der Spurensicherung feststellen. Einen Anleger gab es auf dieser Seite der Insel nicht.
Mit einem Boot hätte der Mörder auch entkommen können, bevor die Fahrzeuge von der Wasserschutzpolizei aufgekreuzt waren. Dann war er jedenfalls über alle Berge. Oder über alle Wellen, in diesem Fall.
Heike kehrte zum Musicalgebäude zurück. Die Stimmung schien ausgezeichnet zu sein. Vermutlich hatte man dem Publikum den unnatürlichen Tod des Hauptdarstellers einstweilen verschwiegen. Heike kannte sich im Musicalgeschäft nicht aus. Aber scheinbar ging es um Millionen. Da konnte man sich eine verpatzte Premiere einfach nicht leisten.
Die Maschinerie musste sich weiter drehen. Ob möglicherweise sogar die Konkurrenz hinter der Bluttat steckte? Wenn es eine Möglichkeit gab, eine Musicalpremiere platzen zu lassen, dann lag diese zweifellos im Tod des Hauptdarstellers ...
Heike musste über sich selbst schmunzeln, obwohl die Situation eigentlich nicht zum Lachen war. Das Musicalgeschäft war hart, soviel hatte sie schon gehört. Es wurde ohne Bandagen gekämpft, wenn die Produktionsfirmen sich gegenseitig Zuschauer abjagen wollten. Das Geschäft mit den auswärtigen Musicalgästen wurde ein immer bedeutenderer Wirtschaftszweig für das »Hoch im Norden«, wie die Hansestadt von Marketingstrategen genannt worden war. Aber Mord als Instrument der Marktbereinigung? Das erschien Heike selbst in Zeiten der Finanzkrise ein zu abenteuerlicher Gedanke. Gleichwohl würde sie alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen.
Auch auf die Phantasie der Journalisten konnte die Hauptkommissarin sich verlassen. Die Zeitungen würden am nächsten Morgen gewiss voll sein mit Berichten und Spekulationen über den Mord an dem Musical-Star.
Die Kriminalistin ließ ihren Blick von der Halbinsel Finkenwerder am Südufer hinüberschweifen zu den Lichtern von Övelgönne auf der Nordseite. Weiter Richtung Elbmündung lag die unbewohnte Insel Nesssand sowie Hannöfersand mit der Jugend- und Frauenstrafanstalt.
Im Umkreis von fünf Kilometern konnte man mit einem Boot jedenfalls problemlos einen unauffälligen Liegeplatz ansteuern. Besonders nachts.
Heike seufzte und kehrte zum Musicalgebäude zurück. Der Wachmann war nervös. Er entspannte sich etwas, als er sah, dass nur die Hauptkommissarin durch den Notausgang hereinkam. Und nicht ein schwer bewaffneter Mörder, der zurückgekehrt war.
»Mir ist noch etwas eingefallen«, sagte Heike. Der Sicherheitsmensch schaute sie fragend an.
»Dieser Ausgang muss doch eigentlich immer offen bleiben, um bei Notfällen als Fluchtweg zu dienen, oder?«
»Genau, Frau Kommissarin.«
»Aber dann könnten doch irgendwelche Schnorrer, die das Stück gratis sehen wollen, einfach durch diese Tür kommen.«
»Theoretisch schon. Aber es gibt einen kleinen Zaun zwischen der Anlegestelle und dem hinteren Inselteil. Wenn Sie zu Fuß das Gebäude umrunden wollen, um von hinten hereinzugehen, stoßen Sie auf diesen Zaun.«
»Und wenn ich nicht mit dem Shuttle-Boot komme, sondern mit einem Schlauchboot gleich auf der Rückseite anlege? Der Strand ist flach, da könnte man ein Boot problemlos hochziehen.«
Der Wachtposten grinste.
»Schon recht, das geht. Aber weit kommen Sie dann trotzdem nicht. Erstens gelangen Sie durch diese Tür in den Bühnenbereich, wo Außenstehende sofort auffallen würden. Und zweitens kommen Sie ohne Eintrittskarte nicht in den eigentlichen Zuschauerraum.«
Heike nickte.
»Aber wenn ich Marc Degner hätte ermorden wollen, dann wäre ich auf diese Art ins Gebäude gelangt.«
»Ja, falls die Tür vor dem Mord nicht abgeschlossen war. Beschwören könnte ich das jedenfalls nicht.«
»Das wird auch nicht nötig sein.« Heike lächelte dem Wächter zu. »Halten Sie weiterhin die Augen auf.«
Sie ging zum Tatort, wo inzwischen die Hölle los war. Nicht nur ihr Kollege Oberkommissar Lutz Perchau und der Gerichtsmediziner Dr. Lehmann waren eingetroffen. Es wimmelte inzwischen auch von Pressegeiern. Einige uniformierte Polizisten hielten die Meute zurück.
Heike drängte sich rücksichtslos zwischen den Zeitungs- und Fernsehfritzen hindurch.
»He, das ist die Stein vom Morddezernat!«
»Hat sich der Degner doch nicht selbst umgebracht, Frau Kommissarin?«
Die Kriminalistin ignorierte die Stimmen. Sie wurde von ihren Kollegen in die Garderobe gelassen. Dort waren die Männer von der Technischen Abteilung bereits vollauf beschäftigt. Lutz Perchau und Dr. Lehmann standen in einer Ecke und sprachen miteinander. Heike ging zu ihnen und begrüßte beide mit Handschlag.
»Wieso warst du denn so schnell hier, Heike?«, wollte Lutz Perchau wissen. »Eigentlich habe ich doch allein Bereitschaftsdienst in unserer Abteilung.«
»Ich bin auch eigentlich nicht im Dienst, Lutz. Ich wollte mir nur ein Musical anschauen, stell’ dir vor!«
»Du hast aber auch immer ein Pech, Heike.«
Der Gerichtsmediziner schaltete sich in das Gespräch ein.
»Ich kann Ihnen nach einer ersten oberflächlichen Untersuchung jedenfalls sagen, dass kein Selbstmord vorliegt.«
»Warum nicht?«
»Weil kein Mensch sich selbst in die Brust schießen kann. Jedenfalls nicht mit einem solchen Einfallswinkel. Dafür müsste man die Hand mit der Schusswaffe ungefähr so halten.«
Der Pathologe zeigte es, indem er sein Handgelenk so weit wie möglich nach innen bog.
»Wenn Sie mich fragen, war der Revolver in der Hand des Opfers ein stümperhafter Versuch des Täters, einen Freitod vorzutäuschen.«
Das hatte Heike sich selbst schon gedacht. Aber Dr. Lehmann schätzte keine neunmalklugen Kriminalbeamten. Daher lächelte sie so wohlerzogen wie in einem Vorstellungsgespräch.
»Vielen Dank, Herr Dr. Lehmann.«
»Oh, dafür sind wir Experten ja da«, sagte der Gerichtsmediziner selbstgefällig.
Das Musical neigte sich inzwischen dem Ende zu. Das rhythmische Klatschen und das Füßetrampeln des begeisterten Publikums war sogar in der Garderobe des Opfers zu hören.
»Und da soll noch mal einer behaupten, die Norddeutschen wären kühl«, meinte Lutz Perchau mit einem verkniffenen Grinsen.
»Die Zweitbesetzung hat Marc Degner offenbar würdig vertreten«, sagte Heike. »Schön für die Musicalbetreiber, dass das neue Stück auch ohne Marc Degner gut ankommt. Nur uns steht mal wieder jede Menge Ärger ins Haus.«
Und mit dieser Einschätzung sollte die Kriminalistin Recht behalten.
Am nächsten Morgen war Heike unausgeschlafen und schlecht gelaunt. Sie hatte am Vorabend mitgeholfen, die Personalien der Premierengäste festzustellen. Die meisten von ihnen waren geschockt, als sie von der Tat erfuhren. Entsprechend groß war die Bereitschaft, die Polizei zu unterstützen. Aber es blieb natürlich trotzdem ein großer Haufen Arbeit, so viele Menschen zu registrieren.
Nach der Dusche zog sie einen taillierten beigen Hosenanzug an, dazu eine vanillefarbene Bluse. Mit dem Schminken brauchte sie besonders lange, um ihre dunklen Ränder unter den Augen zu tarnen. Sie fuhr zwar nur zur Arbeit und nicht zu einem Modelwettbewerb, aber Heike schätzte es trotzdem nicht, wie eine Nachteule auszusehen.
Die kurze Fahrt zum Polizeipräsidium auf ihrem Mountainbike machte sie endgültig wach. Allzu weit war es nicht von ihrer Wohnung in der Isestraße bis zum Polizeipräsidium in Alsterdorf.
Trotzdem kam sie einige Minuten zu spät. Die morgendliche Dienstbesprechung hatte bereits begonnen. Die Kollegen von der Mordbereitschaft des Landeskriminalamtes Hamburg saßen vollzählig in dem modernen Besprechungsraum.
Heike nahm schnell neben Ben Wilken Platz. Der hoch gewachsene und dunkelhaarige Hauptkommissar war ihr Dienstpartner, mit dem sie gemeinsam ihre meisten Fälle löste. Privat lief zwischen ihnen nichts, in beiderseitigem Einvernehmen. Ben war glücklich verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Heike hatte sich noch niemals zwischen Eheleute gedrängt, weil das ihren Prinzipien widersprach. Abgesehen davon, dass sie genügend Verehrer hatte, die ungebunden waren ...
Trotzdem wurden
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Martin Barkawitz
Bildmaterialien: www.klauddesign.com
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3041-0
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