Cover

Vorbemerkung

Dies ist ein Roman. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sowie tatsächlichen Ereignissen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt. Nur den Schauplatz Hamburg gibt es wirklich ;-)

 

Inhalt:

In einem leer stehenden Hamburger Hochbunker schwimmt eine Leiche in ihrem Blut: Sina wurde grausam ermordet. Wie hat das tote Mädchen so viel gnadenlosen Hass auf sich gezogen? Ist ein Serienkiller am Werk, der sein erstes Opfer gefunden hat? Fängt die Mordserie jetzt erst an? Ist ein Psycho mit einem scharfen Messer in der Hansestadt unterwegs?

Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf, und schon bald kann Hauptkommissarin Isa Boysen einen Täter präsentieren. Der Obdachlose hatte zwar die Mordwaffe bei sich, verstrickt sich bei seinem Geständnis aber in Widersprüche.

Doch die beste Freundin des Opfers glaubt nicht an die Schuld des vermeintlichen Sündenbocks. Kea Brecht beginnt auf eigene Faust zu ermitteln – auf St. Pauli erfährt sie unangenehme Wahrheiten über Sina.

War Keas Freundin eine sexbesessene und berechnende Bitch? Und verliebt sich Kea gerade in Sinas Mörder? Die Spannung steigt, denn als die Wahrheit ans Tageslicht kommt, hat Kea plötzlich selbst eine Messerspitze an der Kehle …

 

 

1

Aber jetzt lasse ich sie bezahlen. Nun ist endlich die Stunde der Abrechnung gekommen. Und Sina scheint endlich zu kapieren, dass ich es ernst meine. Muss erst ihr Blut in Strömen über ihr ach so schönes Gesicht laufen, bevor sie den Ernst der Lage erkennt? Es scheint so. Denn nun dreht sie sich von mir weg und versucht, zu entkommen.

Ich lasse ihr die Illusion, dass eine Flucht möglich wäre. In Wirklichkeit ist Sina mir wehrlos ausgeliefert. Ich kenne diesen alten Bunker, als ob er mein Zuhause wäre. Mir ist jeder dieser düsteren Räume vertraut, die unter den niedrigen grauen Betondecken einst Schutz vor feindlichen Bomben boten.

Heutzutage bietet der Bunker keine Sicherheit mehr. Er ist zu einer Todesfalle geworden, jedenfalls für Sina. Die blöde Kuh schreit und weint, während sie vorwärts stolpert. Aus dem Schutt und dem Abfall, der überall herumliegt, ragen auch einige verrostete Eisenstangen heraus. Wenn ich an Sinas Stelle wäre, dann würde ich mir eine davon schnappen und um mein Leben kämpfen. Aber das tut sie nicht.

Hofft Sina auf einen Ritter in schimmernder Rüstung? Auf die Polizei? Oder auf ihre ach so tolle Freundin Kea Brecht, von der sie immer schwärmt?

Fehlanzeige, Bitch.

Dir wird niemand mehr helfen. Und wenn du dein Leben nicht selbst verteidigst, dann verdienst du auch nichts anderes als den Tod. Jetzt habe ich Sina dort, wo ich sie haben will. Hier schreibe ich das Schlusskapitel, und zwar mit ihrem eigenen Blut. Sina hat den Ausgang erreicht, aber den habe ich wohlweislich schon zuvor verrammelt. Und obwohl wir uns mitten in einem Wohngebiet befinden, schlucken die dicken Bunkerwände hervorragend den Schall. Sina hebt nun doch abwehrend die Hände.

Aber sie kann nicht verhindern, dass ich mein scharfes langes Messer in ihre Brust ramme. Wieder und wieder und wieder …

 

2



Kea Brecht war noch nicht wirklich beunruhigt, als ihre Freundin Sina sie nicht vom Zug abholte. Gewiss war ihr etwas dazwischengekommen. Kea stand auf dem Hamburger Hauptbahnhof, auf dem sie soeben nach einer mehrstündigen Reise eingetroffen war. Wenn es nach ihr ging, würde sie nie wieder in ihren Heimatort Lingen zurückkehren. Sie rief Sina auf ihrem Smartphone an, aber dort meldete sich nur die Mailbox. Also beschloss Kea, mit der U-Bahn zu ihrer Freundin zu fahren. Die Adresse der WG hatte sie ja.

Schnell merkte sie, dass Hamburg wirklich eine große und unübersichtliche Stadt war. Es gab viele Möglichkeiten, in die falsche U-Bahn zu steigen oder einfach nicht in die richtige Richtung zu fahren. Doch irgendwann schleifte Kea erschöpft ihre beiden Reisetaschen aus der Station Borgweg. Nach der langen Zeit in den stickigen überfüllten Waggons war ihr nicht mehr kalt, ganz im Gegenteil. Der Schweiß rann ihr über den Rücken. Ihr Gesicht war knallrot, wie sie im Vorbeigehen an einer Schaufensterscheibe erkannte. Keas Spiegelbild sah genervt und abgekämpft aus.

Sie stolperte die Barmbeker Straße hinunter südwärts, überquerte den Goldbekkanal. Jetzt konnte es laut ihrem Smartphone-Navi nicht mehr weit sein. Kea schaute sich die ihr entgegenkommenden jungen Hamburger unauffällig an. Ob man ihr ansehen konnte, dass sie direkt aus der tiefsten Provinz kam? Auf jeden Fall wollte sie sich möglichst bald neu einkleiden, obwohl sie kaum Geld besaß.

Sina hatte Kea erzählt, dass man auf den hier regelmäßig stattfindenden Flohmärkten die coolsten Sachen finden konnte. Momentan wollte Kea allerdings nur noch eins, nämlich ihre Freundin treffen. Kea bog ins Goldbekufer ab, wo Sina lebte.

Keas Herz krampfte sich zusammen, als sie den Streifenwagen erblickte. Er parkte auf dem Bürgersteig. War hier ein Verbrechen geschehen? Das üble Gefühl verstärkte sich, als Kea näher kam. Das Polizeiauto stand wirklich vor dem Haus, in dem sie einziehen wollte.

Der Eingang wurde von einem uniformierten Polizisten bewacht. Er schaute Kea ins Gesicht, als sie ratlos vor dem Gebäude stehenblieb. Einen Moment lang wusste sie wirklich nicht, was sie tun sollte. So einsam und verloren hatte sie sich noch nie im Leben gefühlt.

„Bitte gehen Sie weiter, junge Frau“, sagte der Beamte freundlich. Er konnte nicht viel älter sein als sie. „Hier gibt es nichts zu sehen.“

„Ich wohne aber hier.“ Kea war geschockt, weil sich ihre Stimme plötzlich so dünn und brüchig anhörte. „Das heißt, ich werde ab heute hier wohnen. Meine Freundin wollte mich vom Bahnhof abholen, aber sie ist nicht gekommen.“

Der Polizist hob seine Augenbrauen so weit, dass sie beinahe den Rand seines Mützenschirms berührten. Er zögerte etwas mit seiner Antwort, was Kea sofort auffiel. Ihre Nerven lagen blank.

„Ihre Freundin – meinen Sie Sina Drechsler?“

„Ja, Sina.“ Kea wurde beinahe hysterisch. „Was ist mit ihr? Ist ihr etwas zugestoßen?“

Der Polizist trat zur Seite und gab den Weg frei.

„Am besten reden Sie mit Hauptkommissarin Boysen. Ich nehme Ihr Gepäck.“

Kea ließ die Reisetaschen auf der Straße stehen und rannte ins Haus. Sie stand kurz vor einem Kreislaufkollaps, ihr wurde schwindlig. Der Flur war schmal, eine steile Treppe führte ins erste Stockwerk. Dort oben war es ruhig, während aus einem Raum am Ende des Ganges Stimmen drangen. Kea eilte dorthin und riss die Tür auf, ohne anzuklopfen.

In der Küche saßen drei Menschen am Tisch. Eine Frau um die vierzig, eine junge Frau Anfang zwanzig sowie ein weiterer uniformierter Polizist. Die ältere Frau war blond, hatte einen Schreibblock vor sich und blickte ungnädig an Kea vorbei. Hinter ihrem Rücken war nämlich der andere Polizist erschienen, der zuvor draußen gestanden hatte.

„Obermeister Becker, ich wollte nicht gestört werden. Das habe ich durchaus ernst gemeint.“

„Entschuldigung, Frau Hauptkommissarin. Aber das hier ist eine Freundin des – Opfers.“

„Des Opfers?“ Keas Stimme hatte noch nie zuvor so schrill geklungen. „Ich will sofort wissen, was hier los ist!“

Die blonde Frau stand auf.

„Ich bin Hauptkommissarin Isa Boysen von der Kripo Hamburg. Leider wurde Ihre Freundin Sina Drechsler am gestrigen Abend ermordet, und zwar nur einen Steinwurf weit von hier entfernt. Es tut mir Leid, Ihnen das sagen zu müssen.“

Keas Beinen knickten weg. Wenn der Polizist sie nicht gehalten hätte, wäre sie zu Boden gegangen. Irgendwie gelang es den Leuten in der Küche, sie auf einen Stuhl zu setzen. Die junge Frau holte ein Kreislaufmittel aus der Hausapotheke. Sie war eine schlanke unscheinbare Brünette mit sehr ausdrucksvollen Augen und blassen Lippen.

„Hier, Kea. Trink das. Ich bin Eva, Sinas Mitbewohnerin. Du darfst nicht zusammenklappen, das hätte Sina nicht gewollt.“

Kea schluckte die Kreislauftropfen. Wenige Minuten später ging es ihr wirklich schon etwas besser. Aber – was hieß das schon? Sina war tot. Wie sollte Kea nun weiterleben? Ihre Freundin war ein fester Teil ihres Daseins gewesen, seit dem Kindergarten. Es war, als wäre ein Teil von Kea selbst ermordet worden.

Die Tränen kamen mit Zeitverzögerung. Doch als Kea erst einmal angefangen hatte mit dem Weinen, schien es für immer so weiterzugehen. Eva legte schwesterlich den Arm um ihre Schultern, aber das nutzte nicht viel.

Die Hauptkommissarin war eine resolute Frau, die an eine strenge Lehrerin erinnerte. Dazu passte auch der konservative Hosenanzug, den sie trug. Isa Boysen war eine Frau von spröder Schönheit, die ihre Attraktivität hinter äußerer Härte verbarg. Hauptkommissarin Boysen sprach Kea nun an.

„Sie müssen Kea Brecht sein. Eva Tanner hat uns mitgeteilt, dass Sina Drechsler Sie heute erwartet hat. In der Aufregung hat leider niemand daran gedacht, Sie zu benachrichtigen. Sie sind jetzt sehr aufgebracht, Frau Brecht. Ich werde morgen wiederkommen, um Sie zu befragen. Allerdings sind die ersten 48 Stunden nach einem Mord entscheidend, um den Täter zu fassen. Je mehr Zeit vergeht, desto größer sind die Chancen des Mörders, sich der Festnahme zu entziehen.“

Kea biss die Zähne aufeinander und trocknete ihre Tränen. Der Mörder durfte nicht entkommen, das sollte auf keinen Fall geschehen. Sie schnaubte ihre Nase.

„Fragen Sie, Frau Hauptkommissarin. Fragen Sie, was Sie wissen müssen. Ich will mithelfen, diesen Mistkerl zu fangen.“

„Okay, Frau Brecht. Sie sind sehr tapfer. – Hatte sich Sina Drechsler in letzter Zeit verändert? Wirkte sie bedrückt? Fühlte sie sich verfolgt?“

Kea schüttelte den Kopf.

„Nein, überhaupt nicht. Sie war meine beste Freundin. Wir haben uns immer gegenseitig alles erzählt. Wenn da etwas gewesen wäre, hätte ich es gewusst. Allerdings haben wir seit einigen Monaten nur telefoniert und gechattet, weil ich bis heute Morgen noch in Lingen war. Aus dieser Stadt stammen Sina und ich.“

„Ich habe auch eine beste Freundin, so wie die meisten Frauen. Und doch gibt es Dinge, die ich noch nicht einmal meiner besten Freundin erzählen würde.“

„Wenn Sie das sagen, Frau Hauptkommissarin -- aber ich würde spüren, wenn Sina mir etwas verheimlicht hätte. Das wäre mir sofort aufgefallen.“

Noch während Kea diese Sätze von sich gab, kamen bei ihr selbst Zweifel auf. Eigentlich stimmte ihre Aussage nämlich nicht. Kea hatte Sina eine Schwindelei nur dann angemerkt, wenn sie ihr dabei ins Gesicht sah. So wie damals, als Sina damit geprahlt hatte, dass der Mädchenschwarm Ben Wagner sie geküsst hätte. Am Telefon hatte Kea ihr jedes Wort geglaubt. Doch als sie sich dann trafen, konnte Kea die Lüge sofort durchschauen. Gewiss, damals waren sie beide vierzehn gewesen. Das war Kinderkram. Aber Kea hoffte einfach darauf, dass Sina ihr in letzter Zeit nichts verschwiegen hatte.

„Wir haben von der Mitbewohnerin erfahren, dass Sina Drechsler gestern Abend an einer Stadtführung über Hamburgs kriminelle Vergangenheit teilnehmen wollte. Mehr wusste die Mitbewohnerin nicht. – Ist Ihnen bekannt, ob das Opfer dort mit jemandem verabredet war? Oder wollte sie allein hingehen?“

Kea war sprachlos. Eine Krimi-Stadt-Tour? Wie abgefahren war das denn? Sina hatte am Telefon angedeutet, etwas „Besonderes“ vorzuhaben. Damit konnte diese Tour gemeint gewesen sein. Aber sie hatte nicht gesagt, dass sie dort jemanden treffen wollte.

„Sina sagte am Telefon, dass sie noch etwas unternehmen wollte. Aber sie wüsste nicht, ob sie sich trauen würde.“

Hauptkommissarin Boysen nickte und warf ihren uniformierten Kollegen einen vielsagenden Blick zu.

„Sina Drechsler hat Ihnen also nicht konkret gesagt, was sie vorhat.“

„Nein, das nicht.“

„Sie hatte also sehr wohl Geheimnisse vor Ihnen, Frau Brecht.“

„Hey, was soll das denn? Sie kannten Sina nicht. Sie war ein totaler Fan von mysteriösen Geschichten, genau wie ich. Sie stand auf Thriller und Kriminalromane. Wahrscheinlich wollte sie nur zu dieser Hamburg-Krimi-Tour, um das Angebot zu testen. – Ja, genau! Und später hätte sie dann den Rundgang mit mir zusammen gemacht, als Überraschung sozusagen.“

Kea kamen bereits wieder die Tränen. Ihr wurde noch einmal bewusst, dass sie nie wieder etwas mit ihrer besten Freundin unternehmen konnte.

Die Hauptkommissarin erhob sich und legte eine Visitenkarte auf den Tisch.

„Ich schätze, das reicht für heute. Sie können mich jederzeit anrufen, falls Ihnen noch etwas einfällt, Frau Brecht. Jede Kleinigkeit kann wichtig sein.“

Kea nickte. Doch als Isa Boysen schon gehen wollte, öffnete Kea noch einmal den Mund.

„Wie wird der Mörder eigentlich bestraft, Hauptkommissarin?“

„Nun, die Höhe der Strafe entscheidet das Gericht. Darauf hat die Polizei keinen Einfluss.“

„Er verdient den Tod!“

Kea stieß diesen Satz hasserfüllt hervor. Sie kannte sich selbst nicht mehr. Sie hatte noch niemals zuvor einem Menschen den Tod gewünscht. Aber das war, bevor ihre beste Freundin umgebracht wurde.

„Die Todesstrafe wurde in Deutschland schon vor Jahren abgeschafft“, sagte die Kriminalistin. „Ich schlage vor, Sie beruhigen sich erst einmal. – Tschüss, Frau Brecht.“

Kea erwiderte nichts. Isa Boysen nahm Eva Tanner beiseite. Obwohl sie leise sprach, konnte Kea hören, was die Hauptkommissarin zu Sinas Mitbewohnerin sagte.

„Kea Brecht ist jetzt sehr aufgebracht. Versprechen Sie mir, dass Sie sie im Auge behalten? Ich möchte nicht, dass sie Dummheiten macht.“

Eva nickte. Die Polizei verließ das Haus. Gleich darauf hörte Kea, wie der Streifenwagen wegfuhr. Kea saß am Küchentisch. Sie kam sich vor wie gelähmt.

„Soll ich uns einen Tee machen?“, fragte Eva. „Und du kannst natürlich hier wohnen, so wie Sina es geplant hatte.“

„Klar, dann kannst du mich ja besser kontrollieren. Oder glaubst du, ich habe nicht gehört, was diese Polizei-Tante mit dir zu tuscheln hatte?“

Kaum hatte Kea diese Worte ausgesprochen, als sie es zutiefst bereute. Eva konnte schließlich nichts dafür. Sie litt gewiss ebenfalls unter Sinas Tod, wenn auch nicht so stark wie Kea. Und die Hauptkommissarin machte letztlich nur ihren Job. Isa Boysen durfte nicht zulassen, dass Leute durch die Gegend liefen und ihre Rachefantasien in die Tat umsetzten.

Aber – wollte Kea das denn überhaupt?

Sie konnte nicht mehr klar denken. Immerhin schaffte sie es, Eva zuzulächeln.

„Tut mir Leid, es war nicht so gemeint. – Ein Tee wäre wirklich toll.“

Eva kochte einen starken Ostfriesentee, der Kea guttat, zumindest körperlich. Seelisch hingegen war sie in einem tiefen schwarzen Abgrund verschwunden. Und sie fragte sich, ob sie jemals wieder daraus hervorkommen würde.

Eva war sehr freundlich. Sie versuchte, Kea abzulenken.

„Diese Wohnung ist wie geschaffen für eine WG. Es hat drei kleine Zimmer, außerdem einen großen Wohnraum mit Glotze und W-LAN. Es gibt es außer der Küche natürlich noch ein Bad. Wir besitzen sogar eine Waschmaschine. Bella, unsere frühere Mitbewohnerin, ist schon vor einer Woche ausgezogen. Wenn du willst, kannst du das Zimmer nachher sofort haben.“

„Wer, Eva?“

„Bella, so heißt die frühere Mitbewohnerin. Hat Sina dir nichts von ihr erzählt?“

„Doch, natürlich. Aber das meinte ich nicht. Ich frage mich, wer Sina auf dem Gewissen hat. Wurde sie wirklich hier ganz in der Nähe umgebracht? Warum hat ihr niemand geholfen?“

„Das weiß ich doch auch nicht, Kea. Die Polizei sucht immer noch nach Zeugen. Sina wurde in einem Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg getötet. Der ist eigentlich verschlossen, aber der Mörder muss den Zugang geöffnet haben. Eigentlich sollte das Gebäude schon vor Jahren gesprengt werden, um Platz für Wohnungen zu schaffen. Aber es gab wohl juristischen Streit. Es wäre natürlich gut, wenn jemand Sina in Begleitung ihres späteren Mörders gesehen hätte.“

Kea nickte düster. Vielleicht existierten ja gar keine Zeugen. Aber es gab gewiss einen Täter. Und den wollte sie sich vorknöpfen. Er sollte für das büßen, was er ihr angetan hatte. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, Eva besser zu erklären, was für ein besonderes Verhältnis sie zu Sina gehabt hatte.

„Blutschwester.“

„Wie bitte, Kea?“

„So haben Sina und ich uns genannt, Eva. Wir waren mehr als Freundinnen. Wir waren Blutschwestern. Als Kinder haben wir uns mit einer Stecknadel in den Finger gepiekst und unser Blut ausgetauscht. So wie es die Indianer machen, kapierst du? Wir hatten einen Western gesehen, der muss uns mächtig beeindruckt haben. Es tat ein bisschen weh, sich mit der Nadel zu stechen. Aber es war einer der aufregendsten Momente in meinem Leben.“

„Sina muss wirklich eine gute Freundin für dich gewesen sein.“

„Die beste.“

Keas Tränen begannen wieder zu fließen. Eva nahm ihre Hand.

„Komm, ich zeige dir dein Zimmer. Ich könnte mir vorstellen, dass du Ruhe brauchst.“

„Danke, du bist lieb.“

Der Polizist hatte die beiden Reisetaschen auf dem Flur stehen gelassen. Kea und Eva gingen mit dem Gepäck den Korridor entlang. Kea lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie an einer Zimmertür Polizeisiegel erblickte.

„Das war Sinas Zimmer. Wir dürfen es nicht betreten. Die Hauptkommissarin sagte, dass der Raum kriminaltechnisch untersucht werden muss.“

„Hauptsache, der Mörder wird gefasst“, knurrte Kea.

Eva rubbelte Keas Oberarm und lächelte ihr aufmunternd zu.

„Die Polizei wird ihn schon erwischen. Ich habe mal gehört, dass die meisten Morde aufgeklärt werden. Und diese Isa Boysen hat echt Ahnung von ihrem Job, glaube ich.“

Kea nickte mechanisch. Sie konnte jetzt kaum noch einen klaren Gedanken auf die Reihe kriegen. Ihr wurde alles zu viel. Sinas völlig unerwarteter Tod hatte sie aus der Bahn geworfen. Bisher hatte Kea nur einmal in ihrem Leben so etwas erlebt, als nämlich ihr Opa gestorben war. Aber der Vater ihrer Mama war sehr alt und auch lange krank gewesen, daher konnte sich die Familie innerlich auf sein Ende vorbereiten. Aber Sina? Das war für Kea immer noch unbegreiflich.

Gewiss, Hamburg war eine Metropole. Dort gab es viel mehr Kriminalität als im beschaulichen Lingen. Aber das musste doch nicht bedeuten, dass jeder zu einem Opfer wurde, der in die Hansestadt zog!

Eva führte sie in das Zimmer unmittelbar neben dem Raum, den Sina bewohnt hatte. Bis auf wenige Einrichtungsgegenstände war das Zimmer kahl, wirkte aber sauber und aufgeräumt. Durch das Fenster fiel genügend Licht hinein. Wenn die Sonne schien, war es hier gewiss schön. Obwohl sich Kea in diesem Moment nicht vorstellen konnte, sich noch einmal über so etwas Einfaches wie Sonnenstrahlen freuen zu können.

„Das Bett, der Schrank und die Kommode waren schon hier, als wir eingezogen sind“, erklärte Eva. „Bella hat die Sachen nicht mitgenommen, wie du siehst. Du könntest sie also übernehmen.“

Kea erwiderte nichts. Es war ein unheimliches Gefühl, direkt neben dem Zimmer ihrer ermordeten Freundin zu wohnen. Aber was sollte sie tun? Nach Lingen zurückkehren? Tatsächlich hatte sie schon daran gedacht. Aber was sollte dann aus ihrem Studium werden? Sie war so stolz darauf, endlich einen Studienplatz für Informatik ergattert zu haben. Mit dem Umzug nach Hamburg hatte Kea sich einen Traum erfüllt. Wenn sie jetzt aufgab, dann waren nicht nur Sina tot, sondern auch alle ihre eigenen Zukunftspläne.

Dann hatte der unbekannte Täter nicht nur Sina umgebracht, sondern auch einen Teil von Keas eigenem Leben beendet. Und das durfte nicht geschehen. Das wollte sie nicht zulassen.

„Du willst jetzt bestimmt lieber allein sein. Ich lasse dich einfach in Ruhe, okay? Aber du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du etwas brauchst. Und in der Küche bedienst du dich einfach selbst.“

Eva umarmte Kea noch einmal und schlich sich dann leise hinaus. Kea ging zum einzigen Fenster des Raums. Sie schaute hinaus. Draußen erblickte sie keine gegenüberliegende Häuserfront, sondern das glitzernde Wasser des Goldbekkanals. Die Gegend erschien wirklich ruhig. Es begann zu regnen.

Und dann entdeckte Kea noch etwas. Wenn sie den Kopf drehte, hatte sie auf der linken Seite den grauen Klotz des Weltkriegs-Hochbunkers vor sich. Hinter seinen dicken Mauern war ihre

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Feronia Petri
Bildmaterialien: Vikiana; unter Verwendung des gemeinfreien Fotos crime-515923_1280.jpg, www.pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2015
ISBN: 978-3-7396-1085-6

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /