Cover

Vorbemerkung

Dies ist ein Roman. Alle vorkommenden Figuren sind rein fiktiv. Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig. Nur die Kunsthochschule Lerchenfeld gibt es in Hamburg tatsächlich.

 

Inhalt

Eine junge Studentin liegt tot in ihrem Blut. Hat ihre größte Feindin sie erstochen? Pia Kramer weiß selbst nicht, ob sie gemordet hat. In der Tatnacht hatte sie nämlich ein paar Cocktails zu viel intus. Die Suche nach der Wahrheit wird zu einer alptraumhaften Odyssee durch ein düsteres Hamburg, in dem brutale Straßengangs und ein eiskalter Psychopath ihr Unwesen treiben. Wird Pia ihre Unschuld beweisen können? Oder – ist sie vielleicht doch die Mörderin?

 

1


„Hier spricht die Polizei!“

Die Worte drangen nicht wirklich zu mir durch. Der pochende Kopfschmerz brachte mich beinahe um. Blitze schienen durch mein Schädelinneres zu zucken. Es konnte auch ein Drillbohrer sein, der durch mein Hirn getrieben wurde.

Ich lag ganz ruhig auf einer weichen Unterlage, vermutlich meiner Matratze. Schnüffelnd steckte ich meine Nase in den weichen Frotteestoff. Ja, es roch nach dem Weichspüler, den ich immer verwende. Wahrscheinlich lag ich in meinem eigenen Bett. So genau wusste ich das nicht. Ich hatte nämlich keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen war. Und noch wollte ich es nicht riskieren, die Augen zu öffnen. Bleigewichte schienen auf meinen Lidern zu liegen. Mein Brummschädel musste gewaltig groß sein.

Das Pochen hörte nicht auf, wurde zu einem lauten Klopfen. Ein irres Hämmern.

Erst allmählich begriff ich, dass dieses verflixte Geräusch nicht aus meinem Schädelinneren kam. Sondern von der Wohnungstür.

„Machen Sie sofort auf, Frau Kramer! Wir haben einen Haftbefehl!“

Ich hielt das für einen blöden Witz, ehrlich gesagt. Was hatte ich mit der Polizei zu schaffen? Ich bin keine Taschendiebin und keine Drogenkurierin, sondern Kunststudentin. Sicher, gelegentlich hat die Polizei schon mal meine Personalien kontrolliert. Aber das ist völlig normal, wenn man mit einer feierwütigen Partymeute am Wochenende auf dem Kiez unterwegs ist, oder? Und da kam nie was nach, denn ich bin ein braves Mädchen. Oder ich lasse mich wenigstens nicht erwischen.

Die Davidwache auf der Reeperbahn habe ich nur einmal von innen gesehen, als mir nämlich mein Handy geklaut wurde. Noch nicht mal einen Strafzettel für Falschparken kann ich vorweisen – allein schon, weil ich mir überhaupt kein Auto leisten kann.

Deshalb glaubte ich nicht wirklich, dass echte Ordnungshüter vor meiner Wohnungstür stehen würden. Ich meine, jeder Dummkopf kann doch rufen, dass er von der Polizei wäre. Leider kenne ich einige selbsternannte Stimmungskanonen, die zu jedem Blödsinn fähig sind. Also blieb ich einfach liegen und hoffte darauf, dass sie wieder weggehen würden.

Das war ein Fehler.

Wenig später vernahm ich ein lautes Krachen, Holz splitterte. Dann ertönten schwere schnelle Stiefeltritte. Nun öffnete ich endlich die Augen. Aber es kam mir vor, als würde ich gerade einen Alptraum erleben.

Schwarze Gestalten drangen in meine Wohnung ein. Es waren Polizisten in Kampfausrüstung, wie ich nun erst bemerkte. MEK – Mobiles Einsatzkommando. Die rücken in Hamburg sonst nur an, wenn schwerbewaffnete Drogengangster auf PCP überwältigt werden müssen.

Sie trugen Helme, schusssichere Westen und Handschuhe. Und sie hielten Maschinenpistolen in den Händen. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte einer von ihnen mir die Arme auf den Rücken gedreht und mir Handschellen angelegt. Der Beamte verströmte den Geruch eines Billig-Parfüms, wie man es bei Budni kriegt. Ich drehte den Kopf und sah, dass mich eine Polizistin verhaftet hatte. Ihr Griff war verflixt hart. Beim Armdrücken mit Arnold Schwarzenegger hätte sie bestimmt nicht den Kürzeren gezogen.

„Aua! Ey, was soll das? Verflixt, was läuft hier eigentlich?“

Die raue Stimme, mit der diese Fragen gestellt wurden, drang aus meinem Mund. Ich musste wirklich in der vergangenen Nacht heftigst gebechert haben. Ob ich etwa auch geraucht hatte? Oder gekifft? Mein Mund fühlte sich jedenfalls an, als ob ich in einen Pferdeapfel gebissen hätte. Das sprach wirklich für Nikotinmissbrauch oder Marihuana-Nirvana. Eigentlich hatte ich mir vor drei Monaten ja geschworen, für immer die Finger von den Kippen zu lassen.


Aber offenbar war einiges geschehen, woran ich mich nicht mehr erinnern konnte. Die Beamten hatten ja gewiss nicht grundlos meine Bude gestürmt. Es musste etwas passiert sein, von dem ich momentan keine Ahnung hatte. Was hatte ich nur angestellt? Ob sie bei mir Gras finden würden? Aber wegen ein paar Gramm Spaßkraut rückt doch nicht gleich das Mobile Einsatzkommando an. Oder?

Während mir diese Gedankenfetzen durch den Kopf schwirrten, stellten die Uniformierten alles auf den Kopf. Ich bin noch nie eine Ordnungsfanatikerin gewesen, aber nun wurden sämtliche Schubladen durchwühlt und alle Schränke geöffnet.

Ein breitschultriger Beamter mit Reibeisenstimme hielt mir ein sehr offiziell aussehendes Dokument vor die Nase.

„Frau Pia Kramer, wir haben einen Durchsuchungsbeschluss für Ihre Wohnung. Ein Haftbefehl liegt auch vor. Ich muss Sie darüber informieren, dass Sie Beschuldigte in einer Morduntersuchung sind. Wir haben uns gewaltsam Zugang verschafft, weil Gefahr im Verzug war. Wenn Sie noch weitere Messer haben, dann sagen Sie das besser gleich.“

Nur ganz allmählich drangen die Worte des Polizisten in mein Bewusstsein. Ich kriegte einen Panikflash, meine Hände begannen zu zittern. Zum Glück lag ich immer noch, sonst hätte ich jetzt den Klappmann gemacht.

Morduntersuchung? Ich wusste ja noch nicht einmal, wen ich umgebracht haben sollte. Was war eigentlich in der vergangenen Nacht passiert? Was, zum Henker, hatte ich getan?

Ich wollte mich erinnern – und musste zu meinem Schrecken feststellen, dass ich einen Filmriss hatte. Verfluchte Cocktails!

Ob ich wirklich jemanden getötet hatte? Aber wen?

Momentan war ich einfach nur sprachlos, obwohl ich normalerweise nicht auf den Mund gefallen bin. Da können Sie fragen, wen Sie wollen. Für meine große Klappe bin ich berüchtigt. Der Polizist schaute mich immer noch an, als ob er eine Antwort von mir erwartete.

„Ja, natürlich habe ich Messer. In der Küche, in der Besteckschublade.“

Das war vielleicht nicht die cleverste Aussage, die ich hätte machen können. Aber ich bemerkte nun, dass die MEK-Beamten mein Essbesteck ohnehin schon beschlagnahmt hatten. Die Messer landeten in Beweismitteltüten, wie ich sie bisher nur aus Fernsehkrimis kannte. Aber die Dinger sehen in Wirklichkeit genauso aus, das weiß ich nun. Doch auf diese Erfahrung hätte ich gern verzichten können.

„Ziehen Sie sich bitte etwas an, Frau Kramer. Wir nehmen Sie zum Verhör mit auf das Präsidium. Sie haben das Recht, einen Anwalt hinzuzuziehen.“

Ich schaute an mir herab. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich nur mit einem Slip und einem lila Tanktop bekleidet war. Wie peinlich! Ich wollte den Polizisten fragen, wie ich mich mit Handschellen an den Gelenken anziehen sollte. Aber er nickte seiner Kollegin schon zu, die mir daraufhin die Fessel wieder löste. Doch sie blieb neben mir stehen und ließ mich nicht aus den Augen, während ich schnell in eine Jeans, einen Baumwollpullover und eine Windjacke schlüpfte. Naja, auf Socken und Tennisschuhe verzichtete ich ebenfalls nicht.

Während des hastigen Ankleidens erhaschte ich schnell einen Blick in meinen großen Wandspiegel.

Ich sah furchtbar aus. Meine Haare standen punkmäßig vom Kopf ab, mein Gesicht wirkte fahl und grau. Ich brauchte dringend Make-up, einen starken Kaffee und ungefähr dreißig Stunden Schlaf. Aber an nichts davon war momentan zu denken. Nachdem ich angezogen war, legte die Polizistin mir die Handschellen schnell wieder an. Zuvor waren natürlich auch noch die Taschen meiner Hose und Jacke durchsucht worden. Die Beamten überließen nichts dem Zufall. Verständlich, denn sie glaubten ja, eine Mörderin gefangen zu haben.

Ob das sogar stimmte?

Erst ganz allmählich begriff ich den Ernst meiner Lage. Noch nie zuvor in meinem zweiundzwanzigjährigen Leben hatte ich mich in so einer miserablen Situation befunden. Ich hätte vor Verzweiflung heulen können. Immerhin wirkte diese Erkenntnis ungeheuer ernüchternd auf mich. Die Mordanklage schraubte meinen Restalkoholgehalt im Blut schneller herunter als ein großes Glas Tomatensaft mit Tabasco. Oder ein saurer Hering oder was es sonst für Ausnüchterungs-Geheimrezepte gibt.

Wir verließen die Wohnung. Der Breitschultrige ging voran, während mich die Polizistin und einer ihrer Kollegen in die Mitte nahmen. Die übrigen Polizisten blieben in meiner Wohnung, weil sie vermutlich mit der Durchsuchung weitermachen wollten.

Auf der Straße standen jede Menge Gaffer, die von uniformierten Beamten zurückgehalten wurden. Einige Typen fotografierten oder filmten mich mit ihren Handykameras. Ich musste auf dem Rücksitz eines Streifenwagens Platz nehmen, eingerahmt von meinen beiden neuen MEK-Freunden.

Ich wohne nicht im schlimmsten Stadtteil von Hamburg. Uhlenhorst ist eigentlich eine ganz beschauliche Ecke. Verhaftungen gehören hier jedenfalls nicht zum täglichen Einerlei. Meine Eltern hatten großen Wert darauf gelegt, dass ich eine Studentenbude in einer halbwegs zivilisierten Gegend beziehe. Schließlich komme ich aus der behüteten Welt eines emsländischen Kuhdorfs. Aber auch dort ist bekannt, was für üble Gegenden es in Hamburg gibt.

Für einen Moment dachte ich daran, Mama oder Papa anrufen zu lassen. Aber ich verwarf diesen Einfall sofort wieder. Falls ich das tat, konnte ich mein Studium endgültig knicken. Meinen Eltern war es sowieso nicht recht gewesen, dass ihr einziges Kind in einem „Sündenpfuhl“ wie Hamburg auf die Kunstakademie wollte. Deshalb hatte ich ihnen wohlweislich nicht erzählt, dass wir Studenten die Kunsthochschule Lerchenfeld unter uns nur Leichenfeld nannten. Das war nicht die Art von Humor, den meine Eltern schätzten.

Wenn sie jetzt auch noch erfuhren, dass ich unter Mordanklage stand, würden sie völlig ausrasten. Und dann konnte ich die monatliche Geldspritze von Zuhause vergessen. Zwar fiel sie nicht allzu üppig aus, aber wenigstens musste ich nicht jobben und konnte mich auf mein Studium konzentrieren. Aber damit war es jetzt wohl vorbei, wie mir nun klar wurde. Dieser Gedanke schockte mich.

Ich war doch unschuldig! Oder?

Sobald die Polizei den wahren Mörder verhaftet hatte, ließen sie mich gewiss wieder gehen. Dann würden die Stadt Hamburg mir auch meine kaputte Wohnungstür ersetzen müssen. Mit dieser Vorstellung beruhigte ich mich selbst auf dem Weg zum Präsidium. Das Gebäude in Alsterdorf sah aus wie eine futuristische Trutzburg.

Noch wusste ich ja gar nicht, wen ich um die Ecke gebracht haben sollte. Ich schaute in die verschlossenen Mienen der beiden Uniformierten links und rechts von mir. Sie sahen nicht so aus, als ob sie in Plauderlaune wären. Wer will sich auch schon mit einer Mörderin unterhalten?

Bevor ich mir weiter den Kopf über mein Schicksal zerbrechen konnte, hatten wir das Fahrtziel bereits erreicht. Die Uniformierten brachten mich danach in einen Verhörraum, dessen Einrichtung nur aus einem Kunststofftisch und einigen Stühlen bestand. Dort wurden mir immerhin die Handschellen wieder abgenommen.

„Die Ermittlungsbeamten kommen gleich“, sagte die Polizistin mit dem penetranten Parfüm. „Ich bringe Ihnen inzwischen einen Kaffee.“

Wenig später setzte sie ihr Versprechen in die Tat um. Als ich einige Schlucke von der heißen aromatischen Flüssigkeit genommen hatte, ging es mir sofort etwas besser. Ich zermarterte mir immer noch das Gehirn darüber, was in der vergangenen Nacht geschehen sein musste. Ich erinnerte mich vage daran, dass ich mit meinen Freundinnen Rike und Svenja Party machen wollte. Das war doch immerhin schon mal etwas! Wenn die beiden Mädels bestätigten, dass ich die ganze Zeit mit ihnen zusammen gewesen war, konnte ich ja niemanden umgebracht haben. Meiner Meinung nach war das ein sehr gutes Alibi.

Nun betraten ein Mann und eine junge Frau in Zivil den Verhörraum. Der Mann war mittelgroß und erinnerte mich irgendwie an einen Uhu. Seine Begleiterin hingegen hatte ein sehr schmales Gesicht und sah unscheinbar aus, was zu ihrem mausgrauen Kostüm passte. Und sie war so blass, als ob sie seit Monaten kein Sonnenlicht gesehen hätte.

„Ich bin Hauptkommissar Walter Bergmann, das ist Kommissarin Andrea Lüder. – Sie sind Frau Pia Kramer?“

Bevor ich antworten konnte, ergriff die uniformierte Polizistin das Wort. Sie stand wie eine Leibwächterin einen Schritt hinter mir. Ich hockte am Tisch und hielt meinen Kaffeebecher umklammert.

„Das ist die Beschuldigte, Herr Bergmann. Wir haben ihre Personalpapiere bei ihr gefunden.“

Mit diesen Worten legte sie meinen Personalausweis auf den Tisch. Ich bemerkte erst jetzt, dass er beschlagnahmt worden war. Der Kriminalist bedankte sich mit einem Kopfnicken bei der Polizistin, dann war ich mit den beiden Zivilisten allein. Nur ein Hauch von dem penetranten Parfüm blieb zurück, nachdem die Uniformierte die Tür von außen hinter sich geschlossen hatte.

Bergmann richtete nun seine großen unergründlichen Eulenaugen auf mich.

„Sie wissen, dass Sie des Mordes angeklagt werden, Frau Kramer?“

„Ja, Herr Hauptkommissar. Allerdings hat man mir noch nicht gesagt, wen ich überhaupt umgebracht haben soll.“

„Das Opfer hieß Verena Prinz.“

Dieser einfache Satz brachte mich innerlich völlig durcheinander. Unbewusst hatte ich immer noch geglaubt, dass die ganze Geschichte nur ein fürchterlicher Irrtum wäre. Aber Verena kannte ich, schließlich war ich mit dieser arroganten Zimtzicke an der Kunstakademie immer wieder aneinander geraten. Und sie sollte nun tot sein? Obwohl ich Verena nie hatte ausstehen können, schockte mich diese Information.

Ein Mensch, den ich kannte, war ermordet worden. Das gönnte ich niemandem, noch nicht einmal dieser eingebildeten Pute. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass ich Verena niemals hatte ausstehen können. Trotzdem traf mich die Nachricht von ihrem Tod – und das nicht nur, weil ich selbst unter Mordverdacht stand. Wie hatte es nur so weit kommen können?

„Frau Kramer, war Ihnen Verena Prinz bekannt?“

Die Frage des Hauptkommissars riss mich aus meinen depressiven Grübeleien. Ich durfte jetzt keinen Fehler machen. Wenn ich meinen Hals aus der Schlinge ziehen wollte, musste ich bei der Wahrheit bleiben. Jedenfalls durfte ich Verena nicht als meine beste Freundin darstellen, sonst würde ich mich nur noch verdächtiger machen. Es gab einfach zu viele Zeugen an der Uni, die mehr als einmal den Zoff zwischen Verena und mir miterlebt hatten.

„Ja, Verena Prinz und ich haben zusammen studiert. Aber ich kannte sie nur oberflächlich.“

„Wirklich?“

Andrea Lüder hakte nach. Die Kommissarin mochte klein und unauffällig sein. Aber ihre Worte waren hart und schneidend wie ein Butterfly-Messer. Falls Bergmann und sie das alte Spiel „good cop, bad cop“ aufführen wollten, dann hatte Andrea Lüder zweifellos die Schurkinnen-Rolle übernommen. Und das schien ihr auch zu gefallen. Ich musste die ganze Zeit daran denken, dass ihr Nachname ohne Umlaut Luder lautete. Das hätte ich unter anderen Umständen lustig gefunden, aber bei Andrea Lüders Worten blieb mir das Lachen im Hals stecken.

„Dafür, dass Sie das Opfer nur flüchtig gekannt haben wollen, sind Sie aber sehr oft mit Verena Prinz aneinander geraten. Oder wollen Sie das leugnen?“

Ich verteidigte mich, so gut es ging.

„Na ja, wir hatten ein paar Meinungsverschiedenheiten …“

„Meinungsverschiedenheiten nennen Sie das? Eine Woche vor Verena Prinz‘ Ermordung haben Sie vor Zeugen wörtlich zu ihr gesagt: ‚Ich mache dich platt‘. So war es doch, oder?“


Ich presste die Lippen aufeinander. Offenbar hatte die Polizei schon mit einigen Leuten am Leichenfeld gesprochen. Naja, der Streit zwischen Verena und mir war ja auch nicht zu überhören gewesen. Immerhin hatten wir uns im Treppenhaus der Kunsthochschule angeschrien. Um ein Haar wären wir auch handgreiflich geworden. Diese Kuh hatte absichtlich meinen Modellentwurf für das City-Development-Projekt zerstört, an dem ich drei Monate lang gearbeitet hatte. Natürlich konnte ich es ihr nicht beweisen, aber sie war die Schuldige. Verena hatte es nie ertragen können, dass meine künstlerischen Ideen besser waren als ihre. Ich hielt sie für krankhaft ehrgeizig. Sie musste immer die Beste sein, und sie musste stets im Mittelpunkt stehen. Aber jetzt war sie tot.

„Hören Sie, Frau Kommissarin – ich war stinksauer, okay? Das wären Sie auch gewesen, wenn jemand Ihr mühevolles Werk von mehreren Monaten einfach zerstört hätte.“

„Mag sein. Für mich klingen Ihre an Verena Prinz gerichteten Worte jedenfalls nach einer direkten Morddrohung, Frau Kramer. Und ich bin nicht die einzige, die das so sieht.“


Bevor ich protestieren konnte, ergriff Walter Bergmann wieder das Wort. Irgendwie fand ich den Hauptkommissar sympathischer als seine junge Kollegin. Oder war das nur eine Taktik, um mich zu einem Geständnis zu bringen? Ich glaubte, bei Andrea Lüder eine gewisse Stutenbissigkeit mir gegenüber zu entdecken. Aber vielleicht bildete ich mir das nur ein.

Ich stand schließlich unter einem Wahnsinnsstress und war außerdem noch völlig verkatert. In einer solchen Zwickmühle hatte ich mich noch niemals befunden, selbst bei den härtesten Uni-Klausuren nicht. Denn hier ging es ja nicht um eine verpatzte Note, sondern um meine Zukunft hinter Gittern.

„Frau Kramer, sagt Ihnen die Adresse Kroosweg 8 etwas?“

„Nein, Herr Hauptkommissar. Warum fragen Sie?“

„Das ist eine Straße in Harburg, dort befindet sich die Pension einer gewissen Fatma Özcan. Pia Kramer wurde in einem Zimmer dieses Gästehauses tot aufgefunden. Sie sind also niemals dort gewesen?“

„Nein, bestimmt nicht“, rief ich eifrig. „Und es passte auch überhaupt nicht zu Verena, sich in einer Arbeitergegend wie Harburg herumzutreiben. Sie benahm sich immer wie ein It-Girl, dem nichts gut genug sein konnte. Verena war in Harburg ungefähr so passend wie ein Pinguin am Äquator!“

„Sie kannten die Ermordete ja offenbar wirklich gut“, meinte Kommissarin Lüder giftig und machte sich eine Notiz. Ich hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Hatte ich mich gerade um Kopf und Kragen geredet? Aber dann führte ich mir vor Augen, wie viele Kriminelle es in Harburg gab. Es war doch gewiss nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei den wahren Mörder dingfest machte.

Jedenfalls hoffte ich darauf, dass die Killersuche weiterging. Bis dahin musste ich es eben noch in diesem Verhörraum aushalten. Spätestens, wenn meine Freundinnen mir ein Alibi gaben, mussten die Polizisten mich gehen lassen.

Bergmann schaute in seine Unterlagen.

„Sie bleiben also bei Ihrer Aussage, noch nie in der Pension am Kroosweg gewesen zu sein?“

Ich nickte heftig, wodurch sich meine Kopfschmerzen noch verstärkten.

„Wir haben allerdings in Verena Prinz‘ Zimmer im Studentenwohnheim ihr Tagebuch gefunden. Darin schreibt sie, dass sie sich von Ihnen verfolgt gefühlt hat, Frau Kramer. Verena Prinz wollte umziehen, damit Sie ihr nicht mehr hinterher spionieren konnten. Das klingt für mich ganz nach Stalking, ehrlich gesagt. Dann verschwindet Verena Prinz spurlos, bis einige Tage später in einer billigen Pension ihre Leiche gefunden wird. Sie werden sicher verstehen, dass Sie unter diesen Umständen unsere Hauptverdächtige sind.“

„Ich habe Verena Prinz jedenfalls nicht getötet“, beharrte ich. Das mussten diese Kriminalisten doch endlich einsehen!

„Na schön, Frau Kramer. – Wo waren Sie gestern zwischen 22 Uhr und Mitternacht? Das ist nämlich der Zeitraum, in dem laut ersten gerichtsmedizinischen Erkenntnissen Ihre Feindin ermordet wurde. Eine genauere Obduktion wird im Lauf des Tages vorgenommen werden.“

Feindin? Ja, der Hauptkommissar hatte recht. Irgendwie war Verena wirklich meine Feindin gewesen. Sie hatte mir seit dem ersten Tag am Leichenfeld das Leben unnötig schwer gemacht. Ich weiß nicht, ob es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gibt. Abscheu auf den ersten Blick existierte auf jeden Fall, und zwar zwischen Verena und mir. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt, und eigentlich war ich sogar über meine eigenen Gefühle erschrocken gewesen.

Normalerweise komme ich mit den meisten Menschen gut aus, selbst wenn sie nicht zu meinem Fanclub gehören. Aber mit Verena Prinz war das einfach nicht möglich. Ich konnte nur versuchen, ihr aus dem Weg zu gehen. Aber das gelingt eben nicht immer, wenn man an der gleichen Uni studiert. Nachvollziehbar, oder?

„Ich bin gestern Abend feiern gegangen, und zwar mit meinen Freundinnen Ulrike Saalbach und Svenja Drechsler. Ich war die ganze Zeit mit ihnen zusammen.“

Eigentlich wusste ich gar nicht mehr genau, was in der vergangenen Nacht alles passiert war. Aber das musste ich ja den Polizisten nicht auf die Nase binden. Ich versuchte, mein Alibi so selbstsicher und überzeugend wie möglich zu präsentieren. Insgeheim hoffte ich, dass Rike und Svenja genauere Angaben machen konnten. Ich musste jedenfalls passen, als der Hauptkommissar mich nach den Bars und Discos fragte, in denen wir gewesen waren. Immerhin hatte er sich die Telefonnummern meiner Freundinnen notiert.

„Wir werden Ihre Angaben überprüfen, Frau Kramer. Während das geschieht, wird Frau Lüder Sie zur erkennungsdienstlichen Behandlung begleiten. Das ist in solchen Fällen üblich.“


Ich war immer noch überzeugt davon, niemals in Verenas merkwürdigem Pensionszimmer gewesen zu sein. Was sie wohl in Harburg gewollt hatte? Das ergab für mich überhaupt keinen Sinn. Aber wenn sich dort nirgendwo meine Fingerabdrücke fanden, konnte das für mich ja nur gut sein.

Also ließ ich es geduldig über mich ergehen, dass meine Fingerabdrücke genommen und Fotos von mir gemacht wurden. Außerdem wurden meine Größe und mein Gewicht gemessen. Auch eine Blutprobe wurde mir entnommen. Eine DNA-Speichelprobe war freiwillig, aber auch die gab ich ab. Die Polizei sollte sehen, dass ich nichts zu verbergen hatte. Ich wollte kooperativ sein und spielte das brave Mädchen. Dann durfte ich auch eine Pause machen und bekam sogar einen Kaffee und ein vertrocknetes Mettwurstbrötchen. Ich konnte mir ein schöneres Frühstück vorstellen, aber ich fühlte mich nun etwas besser.

Doch als ich eine Stunde später mit Andrea Lüder in den Verhörraum zurückkehrte, spürte ich sofort, dass etwas Entscheidendes geschehen war.

Der Hauptkommissar zog unheilverkündend die Augenbrauen zusammen, als er mir direkt ins Gesicht schaute. Zuvor hatte ich noch geglaubt, dass er mir positiv gegenüberstand. Aber diese Hoffnung löste sich nun in Nichts auf.

„Sie haben uns angelogen, Frau Kramer. Ihre Freundinnen sagen übereinstimmend aus, dass Sie gestern nicht mit Ihnen zusammen gewesen sind.“









2


Ich fühlte mich, als ob Bergmann mir mit einer Schaufel vor die Stirn geschlagen hätte. Aber das war nicht geschehen. Er hatte mir auch nicht den Boden unter den Füßen weggezogen, obwohl es mir so vorkam. Die Worte des Kriminalbeamten hatten völlig ausgereicht, um mich aus der Bahn zu werfen. Mir blieb der Mund vor Entsetzen und Verblüffung offen stehen. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich die Sprache wiederfand.


„Aber – das kann doch nicht sein! Sind Sie sicher, dass Sie mit den richtigen Frauen gesprochen haben? Rike, äh, Ulrike Saalbach und Svenja Drechsler lauten die Namen. Sie studieren beide hier in Hamburg Kunst, und zwar am Leichen-, äh, Lerchenfeld.“

Ich kam mir kreuzdämlich vor, weil ich versehentlich beinahe den Spitznamen der Uni genannt hätte. Bergmann musste doch denken, ich würde die Mordanklage überhaupt nicht ernst nehmen.

Aber er nickte nur bedeutungsschwanger.

„Wir haben die Personalien der Zeuginnen überprüft, die Angaben stimmen überein. Aber sowohl Frau Saalbach als auch Frau Drechsler sagen aus, dass sie in der vorigen Nacht nicht mit Ihnen zusammen gewesen sind.“

„Dann müssen diese Knalltüten sich irren! Lassen Sie mich mit ihnen reden, ich …“

Der Hauptkommissar unterbrach mich mit einer abrupten Handbewegung. Ich spürte, dass

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Feronia Petri
Bildmaterialien: Vikiana, unter Verwendung des gemeinfreien Fotos self-portrait-599020.jpg, www.pixabay.com
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2015
ISBN: 978-3-7396-0824-2

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /