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Lynn Blake spürte die Kälte nicht, diesen eisigen Wind einer fremden Stadt.

Dabei war sie ein echtes California Girl, geboren und aufgewachsen an der sonnigen amerikanischen Westküste. Lynn wohnte in Los Angeles, verbrachte ihre Sommer beim Surfen und kannte die edelsten Shopping Adressen von Beverly Hills wie ihre Westentasche. Doch nun stand sie auf dem Markusplatz von Venedig und kam sich vor wie in einem Traum. Die mächtigen Gebäude aus längst vergangenen Jahrhunderten verzauberten sie.

Der nasskalte Wind von der Lagune her zauste ihre rotblonde Fransenfrisur. Es war ein ungemütlicher Februartag. Lynns Chef hatte vor der Abreise darauf bestanden, dass sie Winterkleidung anzog. Da verstand Arno Leonardi keinen Spaß, wenn er auch sonst eher unkonventionell war.

„Du warst noch niemals in Europa, Lynn. Die dunkle Jahreszeit kann dort richtig eisig sein. Wenn dich dein eigenes Zähneklappern nicht von der Arbeit abhalten soll, dann brauchst du warme Kleidung.”

Lynn trug einen dreiviertellangen modischen Mantel und einen kuscheligen roten Wollschal. Doch es lag nicht an ihrem Outfit, dass ihr die frostigen Temperaturen nichts ausmachten. Vielmehr hatte dieser magische Ort sie in seinen Bann geschlagen.

Lynns Begegnung mit Venedig war Liebe auf den ersten Blick.

Konnte man sich einen größeren Gegensatz vorstellen als die charmant-altmodische Lagunenstadt und das fiebrig-hypermoderne Los Angeles? Natürlich hatte Lynn schon im Fernsehen und in Büchern Eindrücke von Venedig gewonnen. Aber die fremdartigen Gerüche aus den Restaurants, die Lieder der Gondoliere, das leise Glucksen des Wassers in den Kanälen und die geheimnisvolle Atmosphäre der prunkvollen Gebäude konnte man nicht auf den Bildschirm bannen. Das musste man hautnah selbst erleben. Und genau das tat Lynn in diesem Moment.

„‘Wer nicht sein Herz stärker klopfen fühlt, wenn er auf dem Markusplatze steht, der lasse sich begraben, denn er ist tot, unwiederbringlich tot.‘ – Das hat Franz Grillparzer gesagt, und zwar vor fast 200 Jahren. Wenn ich dich so anschaue, Lynn, dann hat sich daran bis heute nichts geändert.”

Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen sprach Arno Leonardi diese Sätze aus. Lynn drehte sich langsam zu ihrem Chef, der eine Armeslänge von ihr entfernt stand. Sie befanden sich inmitten von Reisenden aus aller Welt, die den Markusplatz bevölkerten. Der Platz war so weitläufig, dass trotzdem kein Gedränge entstand.

„Wer war Franz Grillparzer?”

„Ein österreichischer Dichter. – Dort vor uns siehst du übrigens den Dogenpalast. Der Doge war der Herrscher von Venedig, als diese Stadt noch eine unabhängige Republik war. Die Macht und den Reichtum vergangener Jahrhunderte findest du hier überall in Form von imposanten Bauwerken. Aber du weißt doch, warum wir überhaupt hierhergekommen sind?”

Lynn nickte. Sie erinnerte sich an einen Ausspruch ihres Chefs.

„Nicht wegen der Gebäude, sondern wegen der Menschen, nicht wahr? – Okay, Mr. Leonardi. Mir ist klar, dass wir lebendige Models für unsere Modeaufnahmen brauchen. Und die Stadt ist wie eine Bühne, auf der Sie die Frauen agieren lassen. Inzwischen begreife ich, warum Sie sich von allen europäischen Städten gerade für Venedig entschieden haben.”

„Venedig während des Karnevals”, betonte der Star-Fotograf. „Und der Ort soll eben wirklich nur eine Kulisse sein, der Hintergrund für unsere Fotoserien. Ich will mit Amateur-Models arbeiten. Junge Frauen, die einfach nur zum Feiern hergekommen sind – frische Gesichter, unverbrauchte Posen.”

„Das ist mir schon klar.” Lynn hatte nur mit einem Ohr zugehört. Zwar mochte sie ihren Chef, hatte auch schon unheimlich viel von ihm gelernt. Seit sie vor Jahren als Praktikantin ohne Vorkenntnisse bei ihm angefangen hatte, war sie einer unersetzlichen Assistentin geworden. Ihr Job war vielseitig und forderte sie, denn kein Tag war wie der andere. Sie musste für Mr. Leonardi die unterschiedlichsten Dinge erledigen. Doch momentan fiel es ihr schwer, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Lynn war noch niemals zuvor an einem Ort wie Venedig gewesen.

Sie kam sich vor, als würde sie plötzlich in einem Märchen mitspielen.

Arno Leonardi lächelte verständnisvoll.

„So geht es den meisten Leuten, wenn sie zum ersten Mal Venedig betreten. Obwohl – betreten ist wohl der falsche Ausdruck. Man bewegt sich hier hauptsächlich auf dem Wasser fort. Aber das dürfte dir ja bekannt sein.”

„Warum eigentlich, Mr. Leonardi? Ich meine, warum wurde Venedig eigentlich überhaupt als eine Stadt auf Inseln und Pfählen mitten in einer Lagune errichtet?”

„Gute Frage. Ich bin kein gebürtiger Venezianer. Ursprünglich stamme ich aus Mailand, auch wenn ich mein halbes Leben in den Staaten verbracht habe. Aber soweit ich weiß, sind diese Inseln hier seit der Römerzeit besiedelt. Damals, als das Imperium unterging, haben sich Menschen vom Festland vor den angreifenden Goten auf diese unzugänglichen Inseln gerettet. Und daraus ist nach und nach Venedig entstanden.”

Lynn nickte wortlos. Sie blickte hinauf zum Dogenpalast. Sie entdeckte in den Erkern und zwischen den Säulen des Prachtgebäudes steinerne Tierköpfe und Fabelwesen, die sie düster und drohend anzustarren schienen. Nun lief der jungen Frau doch ein kalter Schauer über den Rücken. Normalerweise war Lynn nicht so leicht zu beeindrucken. Aber die Skulpturen wirkten beinahe, als wären sie lebendig.

„Ich wollte mir nicht den ganzen Tag auf dem Markusplatz die Beine in den Bauch stehen.”

 

Arno Leonardis Stimme verriet nun eine leichte Ungeduld. Lynn riss sich schweren Herzens von dem imposanten Bauwerk los. Sie wollte keinen Stress mit ihrem Chef, der sie in diese beeindruckende Stadt mitgenommen hatte. Außerdem liebte Lynn ihren Job. Viele Frauen träumten von einer Arbeit im Dunstkreis der Modezaren und ihrer Glamourwelt. Lynn hatte als Assistentin des Star-Fotografen Arno Leonardi Zugang zu diesen Kreisen von Geld und Schönheit. Dafür musste sie stets und ständig absolute Leistung beweisen.

Sie wandte sich dem Fotografen zu.

„Was haben Sie geplant?”

„Wir checken jetzt in unserem Hotel ein. Ich habe dich als erstes zum Markusplatz geführt, damit du ein Gefühl für Venedig kriegst. Aber auf uns wartet viel Arbeit. Bevor wir uns auf die Suche nach Amateur-Models machen, möchte ich noch ein paar Accessoires einkaufen.”

„Was für Accessoires meinen Sie?”

Arno Leonardi drehte sich um. Er zeigte wortlos auf einige Feiernde in bunten Kostümen. Eine Frau in einem bodenlangen Taftkleid und einem Webpelz hatte eine schwarze Halbmaske vor ihren Augen. Ein Mann war in ein weißes Kostüm gekleidet, das an einen altertümlichen Clown erinnerte. Er hatte einen spitzen Hut auf dem Kopf, sein Gesicht war völlig hinter einer Maske verborgen.

„Masken, Fächer und andere Dinge, die für den Karneval typisch sind. Wir fangen erst einmal mit dem Suchen an, dann werden wir schon etwas finden.”

Tatendurstig machte sich Arno Leonardi auf den Weg zur Anlegestelle. Lynn folgte ihm. Der Fotograf hätte vom Alter her ihr Vater sein können. Obwohl er ihr öfter Komplimente wegen ihrer Schönheit machte, hatte er noch niemals einen Annäherungsversuch gestartet.

„Ich suche keine Geliebte, sondern eine fähige Assistentin.”

Mit diesen Worten hatte Arno Leonardi schon vor zwei Jahren klargestellt, wie er sich sein Verhältnis zu Lynn vorstellte. Das war ihr nur recht, denn sie stand nicht auf graue Schläfen. Sie interessierte sich normalerweise nur für Typen in ihrer eigenen Altersklasse. Doch in letzter Zeit herrschte in Lynns Liebesleben absolute Flaute. Ob es nun an ihrem hektischen Job oder an ihren hohen Ansprüchen lag – zwischen ihr und ihren Verehrern brach meistens schon nach wenigen Tagen das pure Chaos aus. Dann beendete Lynn sehr schnell ihre aktuelle Beziehung, notfalls per SMS. Doch es gab nur wenige Stunden, in denen sie sich allein oder gar einsam fühlte. Meist gab es nämlich mehr als genug zu tun für sie.

Lynn und Leonardi gingen an Bord eines Schiffes.

„Diese Linienschiffe sind so etwas wie Wasserbusse. Man nennt sie Vaporetti. Mit ihnen erreicht man jeden Teil von Venedig. Für mich sind sie das beste Verkehrsmittel hier. Gondeln sind romantisch, aber nichts für den Alltag. Und Wassertaxis sind meistens nicht in der Nähe, wenn man eins braucht.”

Lynn lauschte unkonzentriert den Erklärungen ihres Chefs. Sie blickte hinüber zur kleinen Insel San Giorgio. Irgendwie kamen ihr die altertümlichen Gebäude dort vertraut vor. Aber das konnte nicht sein, denn sie war zum ersten Mal in der Lagunenstadt. Das Schiff legte ab und fuhr langsam an dem kleinen Eiland vorbei. Lynn war in einer seltsamen Stimmung. Einerseits war sie total neugierig auf diese Stadt, die für sie eine unbekannte Welt darstellte. Doch andererseits fühlte sie sich fremd und ausgeliefert. Venedig barg vielleicht Geheimnisse, von denen sie besser nichts erfahren sollte.

Nun flipp mal nicht gleich aus, sagte Lynn innerlich zu sich selbst. Sie ärgerte sich, weil sie sich durch den bloßen Anblick von ein paar alten Gemäuern so aus der Bahn werfen ließ. Doch Lynn war nun einmal gefühlsbetont, das wusste sie selbst am besten. Andere Leute, vor allem Typen, hielten sie oft für kühl und unnahbar. Das war Unsinn. Wer sich wirklich für Lynn interessierte, dem öffnete sie auch ihr Herz. Aber ihre Verehrer mussten Geduld mitbringen, denn sie zeigte nicht jedem sofort, wie es emotional um sie stand. Und diesen Langmut hatte bisher kaum jemand bei ihr aufbringen können.

Lynn verdrängte ihr innerliches Gefühlswirrwarr. Sie versuchte, sich ganz auf ihren Job zu konzentrieren. Sie nahm sich ein Beispiel an Arno Leonardi, der mit seiner hochmodernen Mini-Kamera ein Foto nach dem anderen schoss. Allerdings richtete er seine Linse nicht auf die Gondeln, an denen das Linienschiff vorbei fuhr. Auch nicht auf die prunkvollen Wohngebäude, die in Venedig Palazzi genannt wurden. Das hatte Lynn in ihrem Reiseführer gelesen. Nein, ihr Chef fotografierte junge Frauen, die sich für sein Mode-Shooting eigneten. Meist drückte er ihnen mit einer kurzen Erklärung seine Visitenkarte in die Hand.

Viele von ihnen reagierten begeistert. Aber Lynn wusste aus leidvoller Erfahrung, wie schwierig es war, mit Amateuren zu arbeiten. Das richtige Posieren vor der Kamera war Knochenarbeit. Und nach mehreren Stunden Model-Arbeit ging bei den meisten dieser Mädchen die gute Laune flöten. Doch für die Kamera mussten sie immer noch locker und begeistert wirken...

Nach der kurzen Überfahrt zum Anleger Rialto hatte der Star-Fotograf bereits Kontakt zu einem halben Dutzend möglicher Amateur-Models geknüpft. Lynn war immer wieder erstaunt, wie schnell er mit Menschen in Kontakt kommen konnte. Sie selbst war da gehemmter, obwohl sie durch die Zusammenarbeit mit ihrem Boss schon viel von ihrer Scheu verloren hatte. Aber vielleicht lag das auch daran, dass Lynn erst 22 Jahre alt war. Leonardi hatte einfach mehr als doppelt so viel Lebenserfahrung wie sie.

Der Fotograf sprach gerade mit einer jungen Frau. Er winkte Lynn heran.

„Darf ich vorstellen: Meine Assistentin Lynn Blake. Ohne sie wäre ich verloren, sie hält mir bei der Arbeit den Rücken frei, kümmert sich um alles. Und das hier ist Sophia Martino, wenn ich es richtig verstanden habe. Sie ist in dieser Stadt eine absolute Ausnahme, denn sie ist eine geborene Venezianerin.”

Sophia lachte. Lynn fand sie auf Anhieb sympathisch. Die dunkelhaarige Italienerin war von Natur aus hübsch, aber nicht übertrieben gestylt. Lynn schätzte, dass sie ungefähr im gleichen Alter war wie sie selbst.

„Venedig wird von Touristen überrannt, besonders jetzt im Karneval”, sagte Sophia. „Aber darüber wollen wir uns nicht beklagen, denn schließlich leben die meisten Venezianer vom Fremdenverkehr.” Sie wandte sich an Lynn. „Und dein Boss ist echt Fotograf?”

Lynn nickte.

„Du kannst ja mal seinen Namen im Internet durch die Suchmaschinen jagen. Dann siehst du, welche Cover von Hochglanz-Illustrierten von ihm stammen.”

„Ich wäre schon interessiert. Momentan warte ich auf meinen Studienplatz in Rom, aber dort geht es erst im April los. In Venedig gibt es im Winter nicht viel zu tun, außer wenn man im Gastgewerbe arbeitet.”

„Rufen Sie uns morgen an, Sophia, dann machen wir einen Termin für ein Probe-Shooting”, sagte Arno Leonardi. Er sprach Englisch mit seiner Landsmännin, denn sonst hätte Lynn kein Wort verstanden. Sie konnte kein Italienisch.

„Super, das mache ich auf jeden Fall. – Ciao, bis morgen.”

Sophia verabschiedete sich von den Beiden.

„Die hat ein interessantes Gesicht”, meinte der Fotograf. “Es erinnert mich an die Damen in ihren kostbaren Brokatgewändern, die von berühmten Malern wie Bellini oder Tintoretto portraitiert wurden. Nur dass Sophia modern ist, eine Frau von heute.”

„Ist in dieser Stadt überhaupt irgendetwas von heute, Chef? Ich meine, unser Venedig-Trip kommt mir vor wie eine Reise in die Vergangenheit.”

Leonardi lächelte.

„Gefällt dir das nicht?”

„Doch, irgendwie schon. – Es ist nur total ungewohnt.”

Lynns Chef seufzte, während sie die Anlegerstelle verließen und langsam auf die berühmte Rialto-Brücke zu gingen.

„Leider haben die Probleme des 21. Jahrhunderts auch Venedig erreicht.”

Mit diesen Worten deutete Leonardi auf die Schlagzeilen einer Tageszeitung an einem Kiosk. Er bemerkte Lynns verständnislosen Blick und fuhr fort: „Sorry, ich hatte gerade vergessen, dass du kein Italienisch verstehst. Dort steht, dass der Serienmörder immer noch auf freiem Fuß ist.”

„Serienmörder?” Lynn lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.

„Die Polizei wird ihn schon erwischen. Du bist doch an Kriminalität gewöhnt. Los Angeles ist eine sehr gefährliche Stadt.”

Das stimmte natürlich. Aber Lynn fühlte sich plötzlich trotzdem nicht mehr wohl in ihrer Haut. In L.A. wusste sie genau, um welche Stadtteile sie einen weiten Bogen machen musste. Doch hier in Venedig konnte die Gefahr überall lauern. Unwillkürlich warf sie einen Blick über die Schulter nach hinten. Leonardi legte freundschaftlich einen Arm um ihre Schultern.

 

„Ich wollte dir keine Angst einjagen. Ich wollte einfach nur sagen, dass Venedig auch eine Stadt von heute ist. Internet und Handys findest du hier genau wie überall auf der Welt. – So, und dort ist unser Hotel.”

Leonardi deutete auf ein restauriertes Gebäude, das Lynn auf den ersten Blick für ein Museum gehalten hätte. Ihre Koffer hatte der Fotograf bereits durch den Abholservice des Hotels vom Flughafen auf ihre Zimmer schaffen lassen. Lynn und Leonardi hatten nur ihr Handgepäck dabei. Sie wurden respektvoll begrüßt, denn der Ruhm des Top-Fotografen hatte sich weltweit verbreitet. Manchmal wunderte Lynn sich selbst darüber, dass sie für so eine Berühmtheit arbeitete. Leonardi war ihr gegenüber niemals arrogant und legte auch keine Star-Allüren an den Tag. Lediglich seine chaotische Art war gewöhnungsbedürftig. Aber zum Glück hatte er bei der Hotelreservierung keine Fehler gemacht, so wie es aussah.

Auch im Hotel liefen einige Gäste in schrillen Karnevalskostümen herum. Leonardi bemerkte Lynns erstaunte Blicke, während sie zu ihren Zimmern hinauf gingen.

„Der venezianische Karneval zieht Menschen aus aller Welt an. Sie lieben es, sich hinter einer Maske zu verbergen. Für ein paar Tage können sie in eine völlig fremde Rolle schlüpfen. Sie können eine Verführerin sein, ein Schurke, ein Heiliger oder ein Rächer.”

Oder ein Mörder, dachte Lynn. Die ganze Stadt war voll von maskierten Feiernden. In der Partymeute konnte der Serientäter perfekt untertauchen. Noch während ihr diese Gedanken kamen, war sie wieder von sich selbst genervt. Lynn fand ihre eigene Nervosität irritierend. Ihr war doch noch gar nichts Schlimmes passiert. Mit ihrer nächsten Frage wollte sie sich selbst ablenken.

„Woher kommt eigentlich der Karneval von Venedig?”

„Wahrscheinlich hat es Maskenfeste zur Jahreswende schon bei den alten Römern gegeben. Der Karneval hat eine lange Geschichte. Zwischendurch war er immer wieder verboten, weil die Herrscher hinter den Masken Attentäter und Revolutionäre vermuteten. Heute gehört er zu den größten Attraktionen von Venedig. – Hier ist übrigens dein Zimmer. Ich schlage vor, wir treffen uns in einer Stunde unten im Foyer. Dann machen wir gemeinsam die Stadt unsicher.”

 

Lynn war einverstanden. Eine Pause konnte sie gut gebrauchen. Von ihren bisherigen Eindrücken war sie förmlich erschlagen worden. Ein Page hatte ihre Koffer bereits herein gebracht. Sie ging sofort zu einem der hohen Fenster und öffnete es. Unter ihr glitzerte das Wasser eines Kanals. Eine Gondel fuhr langsam vorbei. Lynn schloss das Fenster wieder. Plötzlich wurde sie von einer bleiernen Müdigkeit befallen.

In ihrem Hotelzimmer stand ein großes antikes Himmelbett mit hell violetten Vorhängen. Sie wollte nur einen Moment lang entspannen. Lynn hatte ein Hörbuch auf ihren MP-3 Player geladen, einen historischen Liebesroman, der in Venedig spielte. Sie schaltete das Gerät ein, weil sie nicht einschlafen wollte. Doch sobald sie auf die weiche Matratze sank, fielen ihr sofort die Augen zu.

Erschrocken fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Es war schon mehr als eine Stunde vergangen! Schnell wusch sie sich im Bad das Gesicht mit kaltem Wasser und eilte nach unten. Ihr Chef wartete bereits, schien aber nicht sauer zu sein. Lynn hatte noch nie erlebt, dass Leonardi richtig wütend geworden war. Er schien meistens gut gelaunt zu sein. Und wenn er doch mal schlechte Laune hatte, dann ließ er sie nicht an seiner Assistentin aus.

„Gut mir leid, Chef. Ich bin irgendwie eingeschlafen, und...”

„Schon gut, das macht nichts. Lass uns einfach schauen, was die Stadt uns zu bieten hat.”

Der Fotograf und seine Assistentin verließen das Hotel und überquerten den Campo S. Bartolomeo.

„Kennen Sie sich hier eigentlich aus?”

„Nein, ich stürze mich lieber ins Unbekannte. Ich weiß noch nicht einmal, wer der alte Knabe auf dem Denkmalsockel dort sein soll.”

„Carlo Goldoni. Jedenfalls steht das auf dem Stein.”

„So? Was kümmern uns die Männer aus Bronze. Dieser junge Gentleman dort drüben jedenfalls ist aus Fleisch und Blut. Und er scheint sich für dich zu interessieren.”

Leonardi deutete unauffällig auf einen Mann, der vor einem Restaurant stand und scheinbar die Speisekarte studierte. Doch zwischendurch versuchte er immer wieder, einen Augenflirt mit Lynn zu beginnen. Sie musste zugeben, dass der Fremde nicht uninteressant aussah. Er war groß und athletisch, wirkte aber nicht wie ein Angeber und Aufreißer. Trotzdem wich Lynn seinen Blicken zunächst kühl aus. Sie konnte ja schlecht in Gegenwart ihres Chefs einen Flirt beginnen. Außerdem war sie nicht zu ihrem Vergnügen nach Venedig gekommen, sondern zum Arbeiten.

Seite an Seite mit Leonardi überquerte sie den belebten Platz und betrat eine der schmalen Gasse an der Westseite des Campo.

„Genau das, was ich gesucht habe.”

Mit diesen Worten stürzte sich der Fotograf in ein Geschäft mit antikem Trödel und Krimskrams. Lynn fand den Laden furchtbar. Der Inhaber musste ihrer Meinung nach ein chronischer Messie sein. Bis unter die Deckenbalken war der schlauchförmige Antiquitätenhandel mit allerlei Gegenständen aus vergangener Zeit vollgestellt. Von Seemannstruhen über Korbsessel und Säbel bis zu nautischen Instrumenten fand man alles Mögliche und Unmögliche. Lynn schaute sich unschlüssig um. Sie hatte nur ungenaue Vorstellungen davon, was für Sachen ihr Chef als Requisiten für die Fotoaufnahmen kaufen wollte. Sie hörte, dass Leonardi den Inhaber oder einen Angestellten in ein lautstarkes Gespräch verwickelte. Worum es ging, verstand sie nicht, denn es lief auf Italienisch ab. Ohnehin wollte sie sich nicht an den Mantelzipfel ihres Chefs hängen, denn sie war an eigenständiges Arbeiten gewöhnt.

Also beäugte sie sich das dargebotene Chaos genauer. Nach einiger Zeit entschied sie sich für einen Spiegelsextanten, ein Instrument zur Positionsbestimmung auf hoher See. So ein Ding hatte sie schon öfter in Piratenfilmen gesehen. Wenn man es auf Hochglanz polierte, würde es auf Fotos in den Händen eines Models bestimmt spannend aussehen.

Lynn kaufte den Sextanten bei dem Händler. Ob ihr Chef auch etwas gefunden hatte, wusste sie nicht. Leonardi wirkte etwas zerstreut. Das kannte sie schon von ihm. Offenbar hatte er gerade eine gute Fotoidee.

„Mir schwebt da etwas vor, Lynn”, sagte Leonardi beim Hinausgehen. “Wir könnten von Süden her mit dem Goldoni-Denkmal im Hintergrund...nein, da muss ein anderer Blickwinkel her...du schaust in den Laden dort, ich gehe hier drüben zu dem Kostümhändler. Wir treffen uns gleich wieder.”

Wenn Leonardi seine kreativen fünf Minuten hatte, wurde er sprunghaft. Daher widersprach Lynn nicht, sondern stöberte in dem Geschäft, auf das ihr Chef gezeigt hatte. Der Laden führte ausschließlich exklusive Glaswaren. Aber es war nichts dabei, was Lynn für ein Fotomotiv geeignet erschien.

Sie verließ den Laden – und wäre beinahe mit dem jungen Fremden zusammengeprallt.

„Was soll das?”, zischte sie. Lynn war mehr überrascht als erschrocken. “Steigst du mir nach?”

Nun schaute sie sich den Typen genauer an. Wie ein Italiener sah er nicht aus. Wahrscheinlich war er nur wegen des Karnevals in Venedig. Doch wie ein Klischee-Tourist wirkte er ebenfalls nicht. Seine haselnussbraunen Augen waren faszinierend. Ob ihm das bewusst war? Würde er jetzt sofort seinen Charme spielen lassen, um Lynn einzuseifen? Zu diesem Spiel gehören immer zwei, dachte sie. Lynn wusste immer noch nicht, ob sie empört oder geschmeichelt sein sollte.

„Nein, so ist das nicht”, beteuerte der Fremde. Seine Stimme hörte sich dunkel und angenehm an. “Es geht mir um Arno Leonardi. Bist du seine Tochter? Oder seine Freundin?”

„Weder noch. Ich bin seine Assistentin, wenn du es unbedingt wissen musst. Und woher kennst du meinen Chef?”

Lynn war enttäuscht. Der Mann interessierte sich gar nicht für sie, sondern für den berühmten Star-Fotografen.

„Ich fotografiere selbst, allerdings nur als Hobby. Ich hätte niemals gedacht, dass ich einmal Arno Leonardi treffen würde. Meinst du, er gibt mir ein Autogramm? Mein Name ist übrigens Andrew Warren.”

„Und ich bin Lynn Blake, falls dich das interessiert”, gab Lynn spitz zurück. „Nach einem Autogramm musst du den großen Meister schon selbst fragen. Er ist da drin.”

Sie deutete auf den Kostümladen, in dem ihr Chef verschwunden war.

„Ach so. Ich hatte euch beide aus den Augen verloren, nachdem ich euch vorhin gesehen habe. Ich wusste nicht, ob ich dich ansprechen sollte.”

„Besonders schüchtern scheinst du mir ja nicht zu sein”, meinte Lynn ironisch. Andrew grinste entschuldigend. Sein Lächeln ist ziemlich süß, musste sich die junge Frau widerwillig eingestehen. Was war eigentlich so schlimm daran, dass Andrew ein Fan ihres berühmten Chefs war? Eigentlich nichts. Aber es hätte ihr besser gefallen, wenn Andrew nur an ihr interessiert gewesen wäre.

„Ich habe mich in letzter Zeit wohl zu viel hinter meinen Büchern verschanzt. Da verlernt man schnell, wie man mit Menschen umgeht. – Ich wollte dir nicht blöd kommen, Lynn.”

Bei dem letzten Satz legte Andrew sehr viel Wärme in seine Stimme. Lynn mochte es, wie er ihren Namen aussprach. Aber das ließ sie sich natürlich nicht anmerken, denn nach außen hin hatte sie sich vollkommen im Griff. Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln und deutete auf den Laden.

„Dort findest du den Meister.”

Andrew nickte ihr freundlich zu und ging in die Richtung davon. Schnell wandte Lynn ihren Blick ab. Er sollte nicht glauben, dass sie ihm hinterher starrte. Plötzlich stieß die junge Frau mit ihrer Fußspitze gegen eine Perlenkette.

„Hey, wo kommt die denn her?”

Lynn stellte sich diese Frage selbst. Sie bückte sich und nahm das Schmuckstück näher in Augenschein. Sie war keine Expertin für Geschmeide. Aber Lynn glaubte, eine echte Perlenkette vor sich zu haben. Der Verschluss sah irgendwie altmodisch aus. Das Kleinod war gewiss schon fast antik. Wie alt genau, konnte sie nicht sagen. Suchend schaute Lynn sich um. Wer konnte diese Kette verloren haben?

Einige Frauen in bunten Kostümen waren durch die Gasse geeilt, aber keine hatte sich direkt in Lynns Nähe aufgehalten. Sie schaute sich suchend um. Die Stadt war bevölkert mit Touristen in Feierlaune. Irgendjemand würde das Schmuckstück früher oder später vermissen. Lynn ließ die Kette in ihre Manteltasche gleiten. Sie wollte sich später im Hotel nach einem Fundbüro erkundigen.

Als sie aufblickte, eilte Andrew wieder auf sie zu.

„Arno Leonardi ist nicht mehr in dem Geschäft dort.”

„Was soll das heißen?”

„Ich habe nach ihm gefragt, ihn auch kurz beschrieben. Eine Verkäuferin sagte, sie hätte ihn gesehen. Er hat aber nichts gekauft. Dann war er wieder fort. Sie hat nicht auf ihn geachtet, weil der Laden voller Menschen war.”

Lynn warf Andrew einen misstrauischen Blick zu. Aber warum sollte er ihr Unsinn erzählen? Sie konnte schließlich nachprüfen, ob er die Wahrheit gesagt hatte. Und das tat sie auch. Lynn wusste ja, dass ihr Chef manchmal zerstreut und in Gedanken war. Aber er würde sie doch nicht einfach in einer ihr völlig fremden Stadt stehen lassen. Oder?

Lynn sprach die Angestellte in

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Tina Berg
Bildmaterialien: Germancreative, www.fiverr.com
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0599-9

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