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Was ich noch sagen wollte

„Denn sonst, so würd` ich rechtlos“ ist ein Roman, der eine Auseinandersetzung im Rat der heutigen Stadt Schwäbisch Hall im 16. Jahrhundert aufnimmt, in der der Machtkampf zwischen dem altem Stadtadel und aufstrebenden Bürgern offenbar wird.

Herrmann Büschler war dort tatsächlich der erste nicht stadtadelige Bürgermeister und seine Amtszeit hat dazu geführt, dass der Stadtadel vermittels aller ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel, durch eine Verfassungsänderung die Vorherrschaft des Adels wieder restaurierte.

Gerd Wunder hat die historischen Abläufe sorgfältig zusammengetragen im Jahrbuch des historischen Vereins für Württembergisch Franken. S. 57 – 68. „Die Haller Ratsverschwörung von 1509 bis 1512“

Der eigenen Phantasie entsprang die Beschreibung der Charaktere aller Personen und die über die historischen Grundlagen hinausgehenden Ereignisse. Bei Personen, die eine wesentliche Rolle spielten, wurden zwar die Namen beibehalten, ihre Eigenschaften und Handlungsweise sind frei erfunden.

Die Kapitelüberschriften sind willkürlich Friedrich Schillers „Das Lied von der Glocke“ entnommen und zwar ausschließlich unter dem Aspekt des Kapitelinhalts.

Das Gedicht ist in Gänze jedermann zugänglich, unter anderem verfügbar im Internet z.B. unter dem Stichwort „Friedrich Schiller Archiv“ oder www.wthum.de/Zitate u.a.

Kapitel 1

„Von dem Dome schwer und bang tönt die Glocke...“

Kinderspiele

„Vorder mir und hinter mir da giltet‘s nicht, ich komme.“ Agathe drehte sich um und spähte über den Hof. Blitzschnell suchten ihre Augen jede Ecke ab. Wo hatten sich die anderen versteckt? Sie machte zwei Schritte nach rechts, kontrollierte den Winkel am Holzstapel vor der Mauer. Nirgends verriet ihr ein Stofffetzen oder eine Schuhspitze eine Person. Zögerlich setzte sie einen Fuß nach vorn, dann noch einen weiter in den Hof hinein. Sie konzentrierte sich auf die linke Seite, wo das Fuhrwerk stand. Agathe hüpfte ein paarmal in die Höhe. Lag vielleicht Paul auf der Wagenfläche? Dann suchte sie die rechte Seite ab, vorbei an den aufgestapelten Fässern, doch weder Schatten noch das leiseste Geräusch gaben ihr einen winzigen Hinweis. Weil ihr nichts anderes übrig blieb, verließ sie jetzt das Hoftor, wohl wissend, dass sie gerade die nächste Runde verlor. Alle anderen konnten schneller laufen als sie.

„Ihr seid gemein, immer geht ihr so weit weg.“

„Frei“, trompetete schon die erste Stimme. Philipp, ihr Bruder, mit seinen sechs Jahren gerade ein Jahr älter als sie, war hinter dem Fässerstapel hervor gekrochen und blitz-schnell die wenigen Meter zum Anschlagpunkt geflitzt.

„Ätsch“, genüsslich streckte er seiner Schwester die Zunge raus.

„Bin schneller gewesen als du. Maul' nicht. War ganz in deiner Nähe!“

„Frei, ... frei, ... frei“, jubelte es mehrstimmig. Wieder war Agathe überlistet worden. Die zog eine Schnute, hob die Nase, drehte sich um und verkündete.

„Spiel' nicht mehr mit.“ Langsam marschierte sie zum Eingang ihres Elternhauses.

Man schrieb das Jahr 1508. Es war ein stolzes Anwesen, in dem dieses kleine Mädchen wohnte. Es gehörte dem wohlhabenden Weinhändler Hermann Büschler, lag an der Schuppach mitten im Herzen der Stadt am Marktplatz, dort, wo traditionell die alten ehrbaren stadtadeligen Familien residierten: die von Rinderbachs, Nagels, Berlers, um nur drei Adelsgeschlechter zu nennen.

Erwähnenswert wäre noch die Adelstrinkstube im Haus der Witwe Sibilla Egen. Nur männlichen Vertretern der ehrbaren Geschlechter wurden Zutritt zu ihrem Keller gewährt. Dort genoss man regelmäßig ein gemütliches Maß Wein zusammen. Ein gemütliches Maß? Es durften ruhig mehrere sein. Die Auswahl war groß, die Turmuhr schlug Stunde um Stunde, man leerte Becher um Becher.

Für die gemeinen[1] Bewohner des Städtchens blieb die Tür der Adelstrinkstube verschlossen. Ein großes Ärgernis für alle nichtadeligen angesehenen Männer. Das galt besonders für Hermann Büschler,der Tor an Tor mit den Edlen den ehemaligen Königshof bewohnte.

In alten Zeiten war der Königshof Sitz des Reichsschultheißen, der im Auftrag des Königs Recht sprach und die Interessen des Herrschers vertrat. Der König als Stadtherr bezog natürlich im Königshof Quartier, wenn er in der Stadt weilte.

Hermann Büschlers Großmutter hatte den geschichtsträchtigen Grund erworben. Seit langer Zeit betrieb die Familie einen Weinausschank in der Gelbinger Vorstadt und besaß inzwischen ein ansehnliches Vermögen, so ansehnlich, dass sich die alten stadtadeligen Familien im Stadtkern in ihrer standesbewussten Geschlossenheit gestört fühlten.

Wie bei den Adelsgeschlechtern hatten sich die Vorfahren der Familie Büschler aktiv an der Stadtpolitik beteiligt. Als Ratsherren, Reichsschultheißen, Spital- und Kirchenpfleger oder Ausgebherren dienten sie dem Wohl der Stadt und setzten sich auf wichtigen Posten für die Belange des Allergnädigsten Herrn und Römischen Kaisers ein. Derartige Leistungen mussten anerkannt werden, das wurde Eurer Hochwohlgeborenen Durchlaucht zugetragen und von ihr schließlich im Jahre 1471 wohlwollend mit einem kaiserlichen Wappenbrief belohnt. Fortan durfte sich die Familie Büschler mit eigenem Wappen schmücken.

Leider war, sehr zu ihrem Verdruss, der Adelstitel damit nicht verbunden.

Inzwischen standen fünf Kinder ratlos am Tor. Nicht, dass sie Agathes wegen verstört gewesen wären. Solche Sperenzchen war man von ihr gewöhnt. Doch sie fühlten sich tatsächlich ein bisschen schuldig. Als Kleinste war sie im Grunde chancenlos. Deshalb wunderten sich die Kinder nicht, dass sie dieser frustrierenden Situation selbständig und "hochnäsig" ein Ende bereitete und von dannen stolziert war. Was sie aber im Moment ernsthaft irritierte war die Tatsache, dass Agathes große Schwester Anna noch nicht aufgetaucht war.

„He, was ist denn mit euch los?“, fragte in diesem Augenblick Sebald, der gerade in den Hof kam.

„Habt ihr was ausgefressen?“

Philipp protestierte empört. „Ham' nix ausgefressen!“

Sebald Büschler war Philipps zweitältester Bruder, in kindlichen Ausreden sehr erfahren und nun erst recht misstrauisch.

„Tu' nicht so unschuldig. Was ist los?“

„Och, wir vermissen Anna. Hat sich versteckt und kommt nicht wieder.“ Sebald, gerade erst zwölf Jahre alt, runzelte in Männermanier unmutig die Stirn. Anna, das kannte er aus gemeinsamen Ausflügen, streifte zu gern außerhalb der Stadtmauer herum und vergaß Ort und Zeit. Damit verstieß sie gegen ein striktes Verbot: Kein Kind durfte sich ohne Begleitung vor die schützenden Stadtmauern begeben. Das war viel zu gefährlich. Erst ein paar Tage zuvor waren am Fuß der Burg wieder drei Tote gefunden worden, übel zugerichtet und ausgeraubt.

Während sich Sebalds Gedanken überschlugen, rannte er in den Stall, wo er seinen ältesten Bruder Hermann jun. vermutete. Ganz hinten in der Ecke, kaum einsehbar, wo sich ordentlich Geräte und Sättel aufreihten, übte sich Hermann gern in der Kunst des ritterlichen Schwertkampfs. Heimlich versteht sich, denn der Vater hatte es verboten.

„Hermann, Hermann, komm' schnell, die Anna is' weg. Is' schon lang verschwunden“,riss Sebald seinen Bruder unsanft aus seiner Lieblingsbeschäftigung. Der und sein Freund Anton grummelten missmutig und senkten umgehend ihre Holzschwerter.

„Wir suchen zuerst am Schuppach“, ordnete der Älteste kurzerhand an und ohne weiteren Aufschub flitzten die drei davon, nicht ohne ihre kurzen Schwerter in der Scheide mitzuführen. Sie suchten die nähere Umgebung ab, liefen an der Stadtmauer entlang bis zum Stätt-Tor hinunter. Zwei Kinder durchkämmten vor der Mauer jeden Winkel, die anderen suchten auf der anderen Seite. Meter um Meter durchforsteten sie alle Nischen, Ecke um Ecke. Sogar in die Kapelle warfen sie einen Blick. Sie trauten Anna alles zu. Doch die Schwester blieb verschwunden.

Gerade beratschlagten die Jungen, ob sie noch zum Gal-genberg hinauf laufen oder lieber gleich Fomann Bescheid sagen sollten. Dieser war der erste Knecht des büschler-schen Hauses und würde sofort die Suche in seine bewährten Hände nehmen. Während sie noch unschlüssig beieinander standen, kamen ihnen drei Jungen entgegen. Jeder grinste auffallend hämisch.

„Sucht ihr was, ihr Schlappschwänze?“ forderte sie der Größte und mit vierzehn Jahren der Älteste heraus. Es war Peter, der erstgeborene Sohn des stadtadeligen Herrn Veit von Rinderbach. Über seine rechte Wange zog sich eine Kratzspur von der Nase bis zum Ohr. Lachend fuhr er fort.

„Womöglich Anna? Da könnt ihr lange su ...“

Peters Satz fand ein abruptes Ende. Hermann, nur um ein Jahr jünger, sprang ihm geradewegs an die Gurgel. Und schon war eine Prügelei in Gange, in der die kleineren Büschler-Kinder genauso kräftig austeilten und empfingen wie die drei Kinder der maßgebenden Geschlechter von Rinderbach und Nagel. Endlich neigte sich das Glück Hermann zu.

Sein Gegner Peter wollte sich aus der Rückenlage befreien. Er spannte die Beine für einen kräftigen Hüftschwung, bog den Rücken, damit Hermann aus dem Gleichgewicht käme. Aber der hielt ihn wie eine Spinne eisern mit seinen Beinen umklammert. Die Hände umschlossen Peters Hals und in dessen Augen flimmerte es rot. Die Umgebung verlor die Konturen, die Personen verschwammen. Rotgoldene Blitze wirbelten vor seinen Augen. Die Klammer um seine Rippen zog sich enger. Seine Kräfte verließen ihn. Unbarmherzig wurde der Ring um seinen Brustkorb erneut nachgezogen.

„Sag' wo sie ist!“, durchdrang Hermanns Stimme das flirrende Treiben in seinem Kopf. Der Druck ließ nach.

„Was habt ihr mit ihr gemacht? Sag's endlich!“

„Am Galgenberg oben“, resignierte Peter krächzend.

Hermann holte kräftig aus und schlug dem nach Atem ringenden Peter mit voller Wucht ins Gesicht, während die Kampfhandlungen ein abruptes Ende fanden.

„Mit euch rechnen wir ein andermal ab“,knurrte er drohend, dann sprangen drei Kinder mit einem Satz auf, rannten durchs Stätt-Tor hinaus, hinauf zum Galgenberg.

Dort fanden sie die kleine Anna in jämmerlichen Zustand. Festgebunden am Galgenpfosten mit blutender Unterlippe, das Gesicht mit Dreck verschmiert. Die linke Wange rot geschwollen, so rot, wie ihre Augen vom Weinen. Die Schürze hing zerfetzt an ihr herunter, das Kleid war bis zum Brustansatz aufgerissen.

Man sah die zarten Schwellungen einer kleinen weißen Mädchenbrust, kaum zu unterscheiden von einer Jungen-brust, aber die zarten Rundungen verrieten die kommende Weiblichkeit. Fast elf Jahre war sie alt, wie sie immer stolz zu betonen pflegte. Hermann band sie los. Anna bedeckte den kleinen Busen verschämt mit der Schürze. Aber der Zorn in ihren Augen überdeckte die Verschüchterung. Trotz der Blut- und Tränenspuren zeigte der weiße Ring um die Nase ihre Wut und sie schnauzte die Jungen an.

„Glotzt nicht so blöd. Das werd' ich denen heimzahlen!“

Sie fegte sich mit dem Ärmel die beiden Tränen weg, die ihr aus den Augenwinkeln entwischten. Die Jungen nahmen Annas Ausbruch kommentarlos hin. Hermann fasste seine Schwester schweigend an der Hand und Sebald stützte sie. Und während sie langsam nach Hause zogen, erzählte Anna zögerlich, was passiert war.

Sie hatte sich in einer Maueröffnung versteckt und lag dort, wo die Schuppach in die Stadt hinein floss, auf dem Bauch. Plötzlich umschlossen kräftige Hände ihre Füße und zerrten sie unter dem Gitter hindurch vor die Mauer und ein harter Stiefel in der Seite zwang sie, sich umzudrehen. Von oben grinsten schadenfroh die Herrensöhnchen auf sie herab - so bezeichneten die büschlerschen Kinder die Jungen der stadtadeligen Geschlechter. Sie erstarrte, als sich ihr Bewusstsein der herben Tatsache öffnete, dass es nicht ihre Brüder waren, die sich einen Scherz mit ihr erlaubten.

Zum Schreien blieb ihr keine Zeit. Heftig zerrte Peter sie hoch, drückte seine Hand unbarmherzig auf Mund und Nase. Leichtsinnigerweise rechnete er nicht mit ihrem Widerstand. Sie biss kräftig zu. Ein Schrei, Mund und Nase waren wieder frei. Das Echo kam blitzschnell. Ihre Ohren dröhnten vom kräftigen Schlag einer Jungenhand. Dann schleppten sie Anna weg. Sie machte sich schwer und lief keinen Schritt aus eigener Kraft. Zwei kräftige Tritte von Peter und Rudolf landeten in ihrem Bauch. In ihrem Innern breitete sich heftiger Druck aus, ihre Gedärme wollten platzen. Unerträglich pochten sie in ihrer Körpermitte. Damit sie nicht noch mehr Tritte einstecken musste, quälte sie sich lieber wieder hoch. Der schier unerträgliche Schmerz aktivierte ihren Zorn, sie sah rot und trat Rudolf Nagel jun. kräftig ans Schienbein. Dafür wurde ihr erneut eine schallende Ohrfeige verpasst. Angst und Wut tobten gleichermaßen in ihr. Annas Bewusstsein war getrübt. Diese verfluchten Herrensöhnchen! Geschickt wie eine Katze riss sie den Arm hoch und zog ihre Fingernägel über Rudolfs Wange. Das Echo darauf umnebelte ihre Sinne erneut.

Oben am Galgen banden die Jungen sie fest. Verzweifelt ignorierte sie die Schmerzen und bespuckte ihre Peiniger. Dafür schlug jeder, den es erwischte, wahllos auf sie ein. Annas wütende Tritte landeten keinen Treffer mehr. Alle Mühen verpufften erfolglos. Aber die Herrensöhnchen waren noch nicht fertig mit ihr. Obwohl das Mädchen am Galgen gefesselt zur Wehrlosigkeit verdammt war, schien ihre Grausamkeit nicht zufrieden gestellt. Annas Augen weiteten sich, der letzte Rest von Farbe verschwand aus ihrem Gesicht. Rudolf zückte seine Peitsche, holte aus und schlug auf das wehrlose Mädchen ein. Einmal, ein zweites Mal. Für Anna wurde der Tag schwarz. Sie nahm nur am Rande wahr, dass jemand ihr Kleid aufriss, sie spürte Hände und dann … Anna brach ihre Erzählung mit einer verschämten Handbewegung ab. Die Augen der Jungen schweiften über das zerrissene Kleid. Die blutigen Striemen auf der zarten Brust erzählten von der verheerenden Brutalität der Peitsche. Anna kreuzte die Arme, bedeckte die Brust mit den Händen, zog die Schultern schützend nach vorne, als wolle sie das, was jetzt kommen sollte, nicht hinaus lassen. Keiner der Jungen fragte, wie es denn weiter gegangen sei. Irgendwie bestimmte sie das Gefühl, dass ungehörig sei, was jetzt folgte, und dass es ihrer Schwester peinlich sei, darüber zu reden.

Zuhause in der büschlerschen Küche wurde Anna von der Magd Eufrosine liebevoll verarztet. Zunächst schickte sie die hilflosen Jungen weg und nahm Klein-Anna behutsam in den Arm. Dann wusch sie dem Kind ganz in Ruhe Blut und Schmutz ab und schenkte mit ihren zärtlichen Gesten still-schweigend Trost. Zerdrückte Wegerichblätter und Ringelblumen würden die geschundenen Stellen heilen.

Eufrosine war einst blutjung als Küchenmagd vom alten Herrn Bartholomäus Büschler, dem Vater des jetzigen Hausherrn Hermann sen. ins Haus aufgenommen worden. Neben der Herrin des Hauses war sie längst die wichtigste Weibsperson der Familie. Sie wachte über das Hauswesen als wäre es ihr eigenes und betreute dabei die Kinder mit der ganzen Liebe, die ihrem weiten mütterlichen Herzen innewohnte. Damit war sie voll ausgelastet und die Kinder genossen ihre Zuwendung in vollen Zügen.

Noch während sie Klein-Anna ein neues Kleid überzog, öffnete sich die Kammertür und die Herrin des Hauses, ebenfalls auf den Namen Anna getauft, trat ein. Sie war groß und schlank, die feine Nase gab ihrem Gesicht Vornehmheit, die Lippen waren leicht geschwungen und sehr blass. Sie stand still und wartete, bis Eufrosine die Verletzte versorgt hatte.

Anna Büschler hatte schon vor Stunden gespürt, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Und hätte sie nicht genau gewusst, dass das Kind sich jetzt in zuverlässigen Händen befand, hätte sie in ihrem riesigen Schrecken niemals so verhalten gewartet, bis die erste Magd des Hauses ihre Tätigkeit beendete. Die Herrin Anna war kundig im Umgang mit Verletzten. Diese Gabe hatte sie von ihrer heilkundigen Großmutter geerbt.

Aber Anna drängte sich nicht nach vorne. Sie besah still ihre Tochter und Eufrosine und beschloss, dass ein Eingreifen ihrerseits nicht angebracht sei. Erst als Eufrosine für Klein-Anna als Trostpflaster "Gute-Laune-Kekse"[2] holte und einen Tee zubereitete, erst da setzte sich die Mutter zu ihrer Tochter und schloss sie in die Arme. Die mütterliche Geborgenheit löste erneut die Tränen, die unaufhaltsam über das verschwollene Gesicht kullerten und Schock und überstandene Angst herausspülten.

„Mama, was ist eine Hure?“ Die Frage kam zwischen zwei Schluchzern.

„Sie haben mein Kleid zerrissen und ...“ Die Worte blieben im Hals stecken, ihre Augenlider flatterten. Verschämt zog Anna die Schultern nach vorne und kaum vernehmbar flüsterte sie.

„Sie haben über die Brust gerieben und mit ihren schmierigen Pfoten in die Warze gezwickt. Sie haben laut gelacht und mit ihren Sauklauen zwischen meine Beine gefasst. „Das ist eine Hure, eine Huuure, hat Ulrich geschrien.“

„Ach Kind, das ist dummes Geschwätz. Der Herrgott wird diese ungehörige Tat sühnen und die Buben für ihr lästerliches Verhalten bestrafen.“

„Mama, ich glaub', der Herr hat mich bestraft. Weil ich gestern Agathe gehauen hab'.“

„Jeder Mensch macht Fehler, Kind. Der liebe Gott verzeiht sie und liebt dich trotzdem. Das sind Prüfungen, die er den Sterblichen auferlegt. So wie bei Jesus Christus.“

„Wird er mich ans Kreuz schlagen? Und die Herrensöhne?“

„Nein. Der Herr Jesus Christus hat sich für die Menschen

geopfert.“

„Versteh’ ich nicht“, murmelte Anna.

„Musst Du nicht, Liebes, vertraue Jesus Christus, er liebt dich.“ Zärtlich streichelte Anna ihrer Tochter über den Kopf. Dann wischte sie mit dem Zipfel der Schürze erst Annas Tränen ab, anschließend tupfte sie verstohlen über die eigenen Augen. Sie würde der Trauer über die bittere Erfahrung ihrer Tochter später Raum geben und den Herrgott um Gnade anflehen. Doch jetzt galt es erst einmal, Klein-Anna zu trösten. Also lächelte sie scheinbar unbeschwert und sah sie aufmunternd an.

„Soll ich dir die Geschichte vom Haalgeist erzählen, als der sich im Suff am Galgen verhedderte?“

Ein kaum merkliches Nicken.

Bis alle Kinder im Bett lagen, hatten die Herrin und Eufrosine lange Zeit zu tun. Die Aufregung über den Überfall ließ niemandem Ruhe. Erschöpft fiel Eufrosine auf den Stuhl an Klein-Annas Bett. Sie wollte noch eine Weile über ihren Schlaf wachen und warten, bis der Hausherr nach Hause käme.

Als sich Anna Büschler einen letzten Blick auf ihr Kind gegönnt hatte und Eufrosine einen letzten Abendgruß zunickte, zeigte ihre umwölkte Stirn an, dass sie sich wegen des Vorfalls die größten Sorgen machte. Ein ziehender Schmerz in der Brust nahm ihr fast den Atem, als wenn sie selbst den grausamen Kindern ausgesetzt gewesen wäre. Sie fühlte die Tritte am eigenen Leib, sie krümmte sich unter dem Schmerz der Schläge und japste nach Luft, bei der Vorstellung, wie sie angebunden ungezügelter Brutalität ausgeliefert war. Ihr war regelrecht übel. Sie erbrach sich. Dann richtete sie sich wieder auf, goss Wasser in die Waschschüssel, reinigte das Gesicht und wechselte das Kleid. Dann stand sie da, schaute in den kleinen silbernen Spiegel, atmete einige Male tief durch und verschloss ihre Erregung.

Nun war sie wieder Anna Büschler, Herrin des Hauses, nun war sie wieder Dame, so, wie man es von ihr kannte. Still, zurückhaltend, so, wie ihr Gatte es erwartete.

Die Herrin des Hauses war eine feine Dame, ruhig, doch bestimmt. Dem Gesinde gegenüber war sie höflich und ließ kein zorniges Wort verlauten. Keinem Hausbediensteten hatte sie jemals barsche Befehle erteilt. Das zeichnete sie in diesen Zeiten aus und machte sie zu einer besonderen Herrin. Ihr Gesinde kam sauber und adrett daher, sie führte den Haushalt mit fester Hand, war sparsam, so, wie ihr Gatte es erwartete. Tief verwurzelt im Glauben setzte sie das Gebot des Herrn im Himmel um:

Liebe Deinen Nächsten!

Anna Büschler entstammte dem Stadtadel Rothenburgs. Dort waren ihre Eltern, das Ehepaar Hornberger, lange Zeit in Sorge um sie, ihre jüngste Tochter. Wie konnte der Vater für das schwächliche, oft kränkelnde Kind eine standesgemäße Zukunft sichern?

Mit dem reichen Weinhändler Hermann Büschler nahm diese Zukunft Gestalt an. Der temperamentvolle Mann beeindruckte die zarte Anna auf seine Weise, ebenso wie sie sich in ihrer Zartheit in sein Herz schlich. Die interessierte Spannung war nicht zu übersehen, wenn Herrmann Büschler in Geschäften vorbei kam. Seine Familie gehörte zwar nicht zum Stadtadel, war jedoch bereits im Besitz eines Wappens. Dem würde bald auch der Adelsbrief folgen, so dass Anna dort ein Ihrem Stand gemäßes Leben führen könnte. In Annas Anwesenheit verlor der Mann seine laute, polternde Art, eine warme Freundlichkeit brach sich Bahn, die er ansonsten immer unter der harten Schale des scheinbar dickfelligen Weinhändlers zu verbergen wusste. Im Jahre 1495 führte Hermann Büschler die stadtadelige Anna Hornberger aus ehrbarem alten Geschlecht Rothenburgs als Gemahlin in sein Haus.

Sicherlich war für seine Entscheidung auch jene Tatsache nicht unbedeutend, dass die Adelswürde der Hornbergers bereits viele Generationen lang in ihrem Besitz war. Für ihn und sein Ansehen war eine adelige Ehefrau ein Gewinn und sicherlich würden sich jetzt in seiner eigenen Stadt für ihn die Türen der stadtadeligen Häuser endlich öffnen und die Edlen würden ihn als Ihresgleichen anerkennen.

Doch städtische Gesellschaftsstrukturen waren starr.

Als gesellschaftliche Gruppe völlig abgeschlossen nahmen die Stadtadeligen keinen in ihren erlauchten Kreis auf, dessen Familienstamm nicht mindestens bis ins vierzehnte Jahrhundert hinein die Adelswürde besaß.

Die junge Frau Anna hatte im Laufe ihres Reifeprozesses die Fähigkeit vervollkommnet, an ihrem Mann die liebenswerte Seite zu wecken. Sie übernahm als Ehefrau, Hausherrin und Mutter die Rolle des ruhigen Pols, an dem die Familie ruhte. Bei ihr wurden alle Emotionen abgeladen, zu Herzen gehendes Glück ebenso wie Aufregung und tiefe Trauer.

Die Dame des Hauses wartete also an diesem Abend wie Fomann und Eufrosine nur noch auf die Heimkehr ihres Gatten von der Ratssitzung, um endlich ihrem Körper und ihrer Seele die Ruhe zu gönnen, derer sie nach dem heutigen Schock so dringend bedurfte.

Diese Sitzung schien sich in die Länge zu ziehen. Anna nahm zum Sticken ihren Gobelin zur Hand und verkürzte sich Nadelstich für Nadelstich die Wartezeit. Ganz der schmerzvollen Erfahrung ihrer Tochter verhaftet, weckte die verspätete Ankunft des Hausherrn keine Unruhe in ihr.

Die jedoch sollte sie bald erfassen und für lange Zeit nicht nur ihre gesamte Kraft in Anspruch nehmen, sondern sie bis zur vollständigen Erschöpfung verzehren.

Die heutige Nacht läutete eine sorgenvolle Zeit ein, die zunächst nur damit begann, dass ihr die erholsame Ruhe des nächtlichen Schlafes verweigert wurde.

Fomann

Bereits an der ungeduldigen Heftigkeit des Klopfens erkannte der Knecht, dass sein Herr zornbeladen durch das Tor treten, nein stürmen würde. Er beeilte sich und durch-querte dementsprechend rasch die große Halle, öffnete das schwere Tor geschwind mit einem „guten Abend, gnädiger Herr.“ Hermann Büschler ließ sich weder zu einer Antwort herab, noch wartete er, bis der Durchgang für ihn gänzlich geöffnet war. Mit einem heftigen Schlag entriss er Fomann die Tür, verpasste ihm einen kräftigen Stoß und knurrte.

„Geh' aus dem Weg!“ Mit riesigen Schritten durchmaß er die Halle, stürmte die Treppe hinauf und warf seine dunkelblaue Schaube[3] im Gehen ab.

„Bring' mir noch ein Maß Roten vom Neckar“, fauchte er zornig, bevor eine Sekunde später die Stubentür mit heftigem Knall ins Schloss fiel.

Fomann vergaß die Müdigkeit, humpelte eiligst in den Keller und füllte den Krug mit rotem Neckarwein. Seine Gedanken galten seiner Herrin. Die Arme, was würde sie heute noch aushalten müssen? Sie war ohnehin erschöpft von Klein-Annas Erlebnissen. Jetzt kam auch noch der Hausherr voller Wut aus der Ratssitzung zurück. Nun musste sie wieder der Puffer sein, an dem seine Wut aufprallte, immer wieder, so lange, bis sich die zerstörerische Energie in ihrem Gatten ausgetobt hätte. Vor Fomanns innerem Auge lief das Geschehen in der Stube ab:

Der gnädige Herr würde im Zimmer auf- und abgehen mit riesigen Schritten, als wolle durch die dicke Wand marschieren. Die gnädige Herrin säße in ihrem Stuhl, ließe ihre Stickarbeit im Schoß ruhen, nähme jede Bewegung mit großen Augen wahr, jede einzelne Geste, jedes einzelne Wort.

Auch Fomann vernahm jedes einzelne Wort oder vielleicht besser das lautstarke Gebrüll des Hausherrn, das das Haus durchdrang. Inzwischen stand er mit dem Wein vor der Stubentür. Es brauchte Mut, in diesem Moment zu stören. Er atmete einmal tief ein und aus, fasste sich ein Herz und klopfte.

„Verzeihung, die gnädigen Herrschaften. Der Wein für den gnädigen Herrn!“ Der Herr stand schwer atmend und zitternd am Fenster. Vor Angst, vor Wut?

Der zweite Blick des erfahrenen Knechtes besagte: Dem Zorn war eine gehörige Portion Unruhe beigemischt. Tief sitzende Fassungslosigkeit, panisches Flackern in den Augen als er seinem Herrn den Becher Wein darbot. Hermann übersah Fomanns Geste und reagierte nicht.

In diesem Moment schwappte Hermanns Unsicherheit wie eine Welle über auf Fomann über. Die Erschütterung ließ seine altersschwachen Beine zittern. Was, um Gottes Willen, konnte nur vorgefallen sein, dass der Herr dermaßen verstört aus der Ratssitzung nach Hause kam, überlegte er fieberhaft. Die Herrin erhob sich, nahm den Wein mit einem freundlichen „Danke“. Im Hinausgehen sah er, dass sie ihren Gatten zum Sessel geleitete. Dessen Augen lagen tief in den Höhlen, stumpf blickten sie auf die Gemahlin, die ihm beruhigend über das wachsbleiche Gesicht strich.

Fomanns mitfühlendes Wesen raubte ihm seine sonst so unerschütterliche Ruhe.

Sein Herr, Hermann Büschler, ein fester Fels in der Bran-dung, war völlig aus der Fassung geraten!

Sein Herr war außer sich! Das hatte er in all den Jahren nie erlebt!

Immer war er mit allen Widerständen fertig geworden. Mit eiserner Hand hatte er die väterliche Weinhandlung zum blühenden Unternehmen erweitert, war in der Stadt anerkannt und sogar Stättmeister[4] geworden. Außerdem war er wirklich ein guter Hausherr. Zwar bestrafte er Nach-lässigkeit hart, aber nie gnadenlos. Selbst im Zorn war er, der Knecht, bisher nur einmal geschlagen worden. Manch-mal beschimpfte Büschler ihn als "Idiot" oder donnerte ihm - wenn er ganz und gar ungnädig war - "du dummes Viech" um die Ohren. Im Suff trat er ihm gelegentlich in den Hintern oder wo er ihn sonst gerade traf. In solchen Momenten war Büschler nicht zimperlich und es war halt Pech, wenn er eine Stelle traf, die ein Mann besser vor Angriffen schützte.

Solche Missgriffe ereigneten sich nur, wenn Fomann selbst reichlich Wein intus hatte. Dem Kocherwein konnte er einfach nicht widerstehen. Die anderen Weine im Keller schmeckten ihm nicht, die waren zu süß. Aber die sauren aus dem Kochertal liebte er und musste immer noch einen „allerletzten“ Becher nachfüllen. Dabei überschätzte er leider gelegentlich seine Standfestigkeit mit der Folge, dass er etwas langsam reagierte. Normalerweise machte das nichts. Doch es gab seltene Momente, in denen sein Herr eben nicht nur grinste, sondern sich über die Dusseligkeit seines besäuselten Knechts ärgerte. Und wie gesagt, dann bekam er schon mal Eine ab. Aber was bedeuteten solch' kleine Scharmützel schon?

Wichtig für Fomann war etwas anderes.

Weder hatte Büschler seinen Knecht jemals gezüchtigt, noch war er jemals in der Öffentlichkeit in irgendeiner Form gemaßregelt worden. Nicht wie andere Knechte, die von ihren Herren angebrüllt und geschlagen werden, auch mitten auf dem Marktplatz, wo jeder die Demütigung miterleben konnte. So eine Schmach wäre Fomann unerträglich. Sein eigenes Ansehen in der Stadt hing davon ab. Knechte und Mägde aller herrschaftlichen Häuser brachten dem „Büschlerschen“ nicht zuletzt deswegen einen gewissen Respekt entgegen. Auch er war jemand in der Stadt! Doch, doch, unterbrach der Diener seine Überlegungen und nickte zufrieden mit dem Kopf. Das Büschlersche Haus war ein gutes Haus und er führte ein geordnetes, gutes Leben bei seinen Herrschaften.

Oben in der Stube war Hermanns Stimme schwächer ge-worden mit der Folge, dass Fomann leider nur noch Bruchstücke verstand. Selbst direkt am Treppenabsatz entging seinen guten Ohren zu viel.

„Nagel, ... Senfft, ... Undank, ... Trinkstube, ... von Rinderbach.“ Nur vage konnte er die Zusammenhänge rekonstruieren, die den Hausherrn aus seiner Selbstsicherheit gerissen hatten. Mit Druck sprudelten Zorn und maßlose Enttäuschung in Schimpftiraden aus Hermann heraus wie das Wasser aus einer Fontäne. Zuerst mit der explosiven Kraft der Wut empor schnellend, verströmte sie sich nach allen Seiten. Besonders Rudolf Nagel schien in der Ratssitzung seinem Herrn zugesetzt zu haben.

„Undank und Verleumdung, Dummheit und engstirniges Adelsgeschwätz.“ Engstirniges Adelsgeschwätz, das war eine Formulierung, die im Zusammenhang mit adeligen Geschlechtern der Stadt des Öfteren im Hause fiel. Diese Bemerkung war nicht besonders erwähnenswert. Die Kombination "Nagel und Dummheit" gebrauchte Fomanns Herr jedoch so gut wie nie. Denn bei allem Ärger über die Arroganz des Stadtadeligen brachte er Nagel Respekt entgegen.

Die Beziehung der beiden war nicht zuletzt ihrer geistigen Ebenbürtigkeit entsprungen. Als Nachbarskinder waren sie sich sie sich an der Schuppach beim Spielen begegnet, ebenso häufig wie als Heranwachsende. Seit Jahren gehörten sie als Ratsherren zu den bedeutendsten Männern der Stadt. Als die beiden zur gleichen Zeit das Amt der Ausgebherren inne hatten, war es der in Ratsdingen erfahrenere Nagel gewesen, der Hermann Büschler sorgsam in diesen Arbeitsbereich einführte.

Jeweils zwei Ausgebherren wurden auf zwei Jahre bestellt und sie verwalteten die städtischen Finanzmittel. Sie nahmen Steuern für die Stadtkasse entgegen und gaben sie wieder aus, so wie es der Rat beschlossen hatte.

In der Erfüllung dieser Aufgabe wachte Hermann Büschler über die Zahlungsmoral der Bürger wie über seine eigenen Kinder. Er sorgte dafür, dass auch diejenigen Bürger, die die Stadt für immer verließen, die Gemeinde nicht betrogen. Denn der Stadt entgingen Steuereinnahmen, wenn Bürger wegzogen, sich also „ausbürgerten“. Um den finanziellen Ausfall erträglicher zu gestalten, entrichtete der Bürger „Nachbeet“. Sie betrug zehn Prozent des Vermögenswertes als Entschädigung. Vorteilhaft war, dass der Betroffene die Vermögenshöhe selbst festsetzte. Erfuhr Hermann, dass jemand den Vermögenswert niedriger bezifferte, als er der Wirklichkeit entsprach, sorgte er dafür, dass der Rat sein Recht wahrnahm und das Eigentum für den angegebenen Wert aufkaufte. Niemand sollte der städtischen Gemein-schaft einen einzigen Heller schuldig blieben.

So, wie man es in diesen Fällen vorgesehen hatte. So, wie es immer schon praktiziert worden war.

Es war in finanziellen Dingen wirklich nicht gut Kirschen essen mit Fomanns Herrn. Dem Gemeinwesen und dem städtischen Vermögen bekam das äußerst gut. Die finanziellen Verhältnisse waren glänzend und mit weitsichtiger Planung vermehrte man gemeinschaftliches Eigentum in kleinen Schritten. Man kaufte Gärten und Güter, bewirtschaftete sie und sorgte so fortlaufend für regelmäßige Einnahmen.

Damit gelang, was in der Politik schier unmöglich zu sein scheint. Nicht die Schulden wuchsen Tag für Tag, sondern das Einkommen: Diese Stadt war vermögend! Seine Allergnädigste Majestät nahm diese Tatsache wohlwollend zur Kenntnis.

Hermann Büschler brachte seine Arbeit jedoch nicht nur Freundschaft ein. Seine gnadenlose Konsequenz barg ein hohes Potenzial an Feindschaft, vor allem derjenigen, die von der büschlerschen Durchsetzungskraft betroffen waren. Die Missgunst anderer trat weniger offen zutage.

Andererseits stieg Hermanns Ansehen unaufhörlich. Die Salzsieder und Handwerker achteten ihn sehr.

Aber gerade sein Rückhalt in der gemeinen Bevölkerung vergrößerte auch die Anzahl der Missgünstigen. Die Neider sollten es sein, die ihm das Leben unerträglich schwer machen würden.

Der unterschwellige Neid sollte nicht nur seine Stellung in der Stadt untergraben und seine persönlichen Beziehungen zerstören. Nein, er würde die Menschen innerlich zerfressen und ihr geordnetes Leben beenden. Neid würde das Rad der Geschichte weiter drehen und gnadenlos das spätmittelalterliche Stadtleben in seinen Grundfesten erschüttern.

Missgunst würde dem Veränderungsprozess die Richtung weisen, eine menschliche Schwäche, die bekanntermaßen nicht zum ersten Mal ihre Wirkung entfaltete.

Während der Knecht und erste Diener des Hauses sich also in der Halle im unteren Geschoss zu schaffen gemacht hatte, und zwar so lange, bis er nichts mehr verstand und es nichts mehr abzuwischen, wegzuräumen und umzuräumen gab, hatte Hermann Büschler sich zumindest insoweit beruhigt, dass Fomann seine weitere Pflege getrost der Herrin allein überlassen konnte. Die würde ihrem Mann ein paar Tropfen Baldrian reichen, wie sie das immer tat, wenn sich der Herr über Gebühr erregte. Ihn hingegen benötigten die Herrschaften nicht mehr. Weil die Kirchenglocken gerade dröhnend die mitternächtliche Stunde verkündeten, löschte der getreue Diener die restlichen Kerzenlichter. Schwerfällig stieg er mit dem schlurfenden Gang des alten Knechtes, der sein Tagwerk vollbracht hatte, die Treppe hinauf. Seine Lippen formulierten leise.

„Gute Nacht die edlen Herrschaften.“ In seiner Dachkammer bereitete er sich mit dem Gedanken zur Nachtruhe vor, dass sein Herr schon wieder alles richten werde, wie er immer alles gerichtet hatte. Und er beruhigte sich mit dem Vorsatz, dass er sich am nächsten Morgen frühzeitig auf den Markt begeben werde, wo er sicherlich den Knecht Hanns aus der Keckenburg[5] und die Magd Gesine aus dem Hause Rudolf Nagels träfe. Die beiden fanden sich morgens am Seiteneingang der Michaelskirche ein und versicherten sich regelmäßig ihrer heimlichen Liebe. Ebenso heimlich amüsierte sich das Gesinde hinter vorgehaltener Hand bestens darüber. Bei diesem Pärchen könnte er noch - ganz nebenbei versteht sich - Einiges in Erfahrung bringen. Er selbst gab beim Tratsch natürlich nichts preis, von dem, was sich in seinem Hause abspielte. Zufrieden mit sich, der Welt und seinem Vorsatz beugte er seine geschwollenen Knie vor dem Kruzifix zu seinem allabendlichen Gebet zu Gott und bat am Ende inniglich.

„Bitte vergib´ mir meine Sünden und segne meine Herrschaften und alle in diesem Haus. Herr Jesus im Himmel, ich bitte Dich inständig, nimm‘ das Leid von meinem Herrn. Er ist ein gottesfürchtiger Herr. Beschütze ihn, so wie Du es immer getan hast. Amen.“

Kaum, dass Fomann für sein glückliches Schicksal demütig gedankt und Segen erbeten hatte, fielen seine Augen zu und sein Schnarchen kündigte von tiefem Schlaf.

Während der Knecht seinen müden Körper in nächtlicher Ruhe neue Kraft für die zukünftigen Anforderungen schöpfen ließ, verarbeitete das Ehepaar Büschler gemeinsam den tief sitzenden Schock, mit dem der Ehemann nicht nur seinen Knecht erschreckt hatte. Wenn der Diener auch behaupten konnte, seine Herrschaft gut zu kennen, so hatte er sich in der Beurteilung des weiteren Verlaufs dieses Abends dennoch kräftig getäuscht.

Es war der Gattin Anna zwar gelungen, Hermanns erste Bedrängnis so aufzufangen wie die Wasserfläche die fallen-den Tropfen der Fontäne aufnimmt. Aber die Ernsthaftigkeit der Situation erlaubte es nicht, ihrem Angetrauten einfach vermittels einiger Tropfen Baldrians nächtlichen Schlaf zu verschaffen.

Hermann

Nicht einmal Fomann hätte sich von seiner Zuversicht in den Schlaf geleiten lassen, hätte er allen Ausführungen lauschen können. Der zornigen Erregung machte während des Gespräches zunächst tatsächlich, das hatte er sehr richtig erkannt, innere Unruhe Platz, eine der Angst nahe kommende, tief sitzende Unsicherheit, wie er sie eher gefühlt als gesehen hatte. Am heutigen Abend war Büschler nicht nur gedemütigt nach Hause zurück gekehrt. Nein, man hatte seinen Bemühungen für die Stadt weder Anerkennung gezollt, noch seiner Stellung als einem der reichsten Männer Rechnung getragen.

Schon gar nicht berücksichtigten die Adligen den Respekt, den ihm die Bevölkerung entgegen brachte. Die massiven Drohungen, die zusätzlich angeklungen waren, weckten in ihm Zweifel an sich selbst und ließen ihn fassungslos zurück. Sie stellten den Wert seines persönlichen Einsatzes in Frage. Diese Drohungen rissen ihn wegen ihrer Heftigkeit aus seinem Optimismus, von den Edlen nicht nur als gemeiner Emporkömmling geduldet, sondern als Gleicher anerkannt zu werden.

Hermann schlug mit der Faust auf den schweren Eichen-tisch. Er liebte seine Stadt und er setzte seine ganze Kraft für sie ein, für diese kleine Stadt im engen Tal des Kocher.

300 000 Jahre lang hatte die Urkraft Wasser Tag für Tag die Höhenzüge durchschnitten und die Erdschichten fast 100 Meter tief abgetragen. An der tiefsten Stelle des Tales entließ die Erde aus ihrer warmen Geborgenheit eine Salzquelle in die Kühle der oberirdischen Freiheit.

Und er, Hermann Büschler, gehörte hierher, an den Platz, den die Natur und Gott so reich gesegnet hatten. Er gehörte hierher nachHall.

Seine Familie stammte aus der Gelbinger Gasse und hatte bereits 1471 aus der Hand des Allergnädigsten Herrn mit dem kaiserlichen Wappenbrief eine Auszeichnung erhalten. Hier, an diesem Ort waren sie keine unbedeutenden Leute. Vater, Onkel, die Großväter väterlicher- und mütterlicherseits, alle waren sie mit Leib und Seele als Ratsherren Diener der Stadt und dem Stadtherrn als Untertan treu ergeben gewesen.

Hermann zeigte politisches Geschick seit 1492 und sein Vetter Konrad sogar etwas länger. Sie setzten ihr Können ein und vermehrten das Stadtvermögen, als wäre es ihr eigenes. Vetter Konrad bekleidete seit 1504 das Ehrenamt des Reichsschultheißen und führte nach alter Tradition den Vorsitz bei Gericht.

Trotzdem verhielten sich die alten Adelsgeschlechter so, als wären sie gewöhnliche bedeutungslose Gemeine. Schlimmer noch. Rudolf Nagel hatte ihn mit drohendem Unterton ermahnt, er möge sich nicht in Unwesentlichem verzetteln und solle doch lieber sein Amt pflichtgetreu ausüben. Pflichtgetreu! Er dürfe mit dem Geld der Stadt nicht so verschwenderisch umgehen. Sonst werde man Maßnahmen gegen ihn ergreifen. Erneut kroch der Zorn in Hermann hoch, drückte auf das schmerzende Herz. Er nahm seine Wanderung in der Stube seines Hauses wieder auf.

... Zehn Schritte hin, ... zehn Schritte her. Richtungsänderung, blieb stehen, wollte etwas sagen, schnappte jedoch nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

... Zehn Schritte hin …

„Maßnahmen ergreifen! Anna, stellt' Euch das vor!“ Das tat weh! „Meinen Antrag auf hinterhältige Weise zurück gewiesen! Als wäre ich ein Niemand! Vier Familien bezahlen mehr Beet[6] als wir, nur vier, die ein größeres Vermögen besitzen!“ Zehn Schritte hin, ... zehn Schritte zurück. Vor Erregung wurde jeder Schritt ausgreifender. Neun Schritte hin, ... acht Schritte zurück.

„Als Gast, Anna, ich, der Stättmeister von Hall! Das ist unser nicht würdig! Adelsehre! Ha, was ist das? Das Saufen, das Herumhuren? Der Utz prahlt von lustvollen Stunden. Ach, was soll's! Aber als Gast! Nein, nein und nochmals nein!“

Anna Büschler nahm ihren Gobelin vom Schoss. Sie hatte bisher keinen einzigen Nadelstich getan. Sie musste Hermann wieder zu sich bringen. Er drehte sich im Kreis. Immer wieder formulierten seine Lippen dieselben Sätze, Schlag auf Schlag pulsierte der Zorn durch seinen Körper. „Maßnahmen ergreifen! Gegen mich ... gegen mich!“ Er war wütend, enttäuscht, hilflos. Mit jedem Schlag rissen die Emotionen jeden Ansatz von Denken mit sich, löschten das winzige Flämmchen Sachlichkeit. Unkontrolliertheit sah Hermann normalerweise nicht ähnlich, ihm, der seinen Ärger aussprach - oder manchmal könnte man auch sagen: austobte -, sich dann besann und in dem Moment, wo er ruhiger wurde, über Lösungswege nachdachte.

Doch in dieser Nacht war nichts, gar nichts wie sonst. Die Turmuhr hatte gerade drei Mal ihren dumpfen Glockenton in die Nacht hinaus geschickt und er befand sich noch im selben Zustand wie bei seiner Rückkehr. Der Ärger kam wieder und wieder hoch, schwappte im großen Schwall ärgster Erregung über, drückte ihm so auf Gemüt und Herz, dass er schwankte, stehen blieb, wobei er in einer kreisrunden Bewegung die linke Brust rieb. Wenn er sich setzte, verfiel er in eine Art Starre, die Lippen bläulich, die Gesichtshaut käseweiß. Gerade zeigte er wieder alle Anzeichen einer neuen Panikwelle. Kurzer Atem, schnelle, kleine Schritte, glasige Augen, als habe er zu viel Roten aus dem Neckartal genossen. Aber dem war nicht so.

Seit Stunden schon mischte Anna so reichlich Wasser unter den Wein, dass ihr Gatte sie jedesmal fragend ansah, um wortlos zu klären, ob der Becher in ihren Händen wirklich für ihn bestimmt sei. Dann zog er mit strafendem Blick die Mundwinkel ironisch nach unten, runzelte die Stirn und trank letztlich doch. Die Hand rieb über die linke Brust. Die Schmerzen!

Annas Besorgnis nahm zu. Hermann gönnte sich zu wenig Ruhe. Der Einsatz für die Stadt benötigte seine ganze Kraft. Er hat sich übernommen, dachte sie voller Sorge. Alles wollte er perfekt machen. Das war der Druck, unter den er sich selbst setzte, das war der Druck, der auf seinem Herzen lastete. Anpacken und lösen. Das war seine Devise. Um alles kümmerte er sich, nur nicht um sich selbst.

Diese Aufgabe übernahm Anna, doch war ihr Hermann nicht immer dankbar dafür. Jetzt musste sie seine Wut bremsen, sonst bräche er, der Koloss von einem Mann zusammen. Damit diente man niemandem. Das durfte sie nicht zulassen.

Anna stellte sich genau in Hermanns „Wanderweg“ durchs Zimmer. Zehn Schritte hin, ... vier Schritte zurück. Er war in seine Schimpferei versunken und bemerkte seine Frau mitten im Weg nicht, bis er gegen sie stieß. Überrascht sah er hoch. Liebevoll und bestimmt fasste Anna ihn am Arm. Ausweichen war nicht möglich. Leerer Blick und Schweigen, schier endloses Schweigen. Doch dann kehrte er tatsächlich mit seinen Gedanken in die Stube zurück, erkannte, dass sich Anna ebenfalls in diesem Raum befand. Die gefurchte Stirn glättete sich.

„Ich war mir diesmal so sicher, Anna!“,stöhnte Hermann und schüttelte deprimiert den Kopf.

„Dieses dämliche Adelsvolk.“

Anna unterbrach ihn.

„Aber genau bei diesem dämlichen Adelsvolk buhlt Ihr seit Jahren um Anerkennung. Ihr gebt nicht auf! Dabei ist es nicht wichtig, Hermann. Hört Ihr? Ich brauche keinen Stub-herrn als Gatten. Was wollt Ihr noch beweisen? Ihr seid beliebt bei den Bewohnern in der Stadt, Ihr seid erfolgreich. Lasst' noch etwas Zeit vergehen, der Adel wird Euch irgendwann als Seinesgleichen anerkennen.“ Hermann entzog Anna unwirsch den Arm und wanderte wieder.

„Aber als Gast ...!“, widersprach er trotzig.

„Als Gast, macht Ihr den Anfang. Ein Fürsprecher wird später den Antrag stellen, Euch zum regulären Mitglied ihrer Stubherren-Gemeinschaft zu machen.“

„Als Gast kann man jederzeit verwiesen werden. Ich bin der derzeitige Stättmeister. Wie können sie es wagen und mich wie einen hundsgemeinen Mittelbürger behandeln?“

Es hat nicht geklappt, dachte Anna enttäuscht. Wollte sie den unglückseligen Kreis seiner zerstörerischen Gedanken durchbrechen, musste sie ihn endgültig aufrütteln, selbst wenn auch sie ihn jetzt verletzte. Gott möge ihr helfen! Anna stellte sich erneut in Hermanns Auf und Ab, hielt in stummer Forderung seinen Blick fest und sagte leise, aber umso eindringlicher.

„Ihr ,Hermann, seid in der Trinkstube ein Gemeiner.“

Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. Weiß wie die Wand schossen seine Augen schnelle Pfeile und trafen Anna mitten ins Herz. Wie geschmiedete Eisenringe um-schlossen seine kräftigen Hände ihre Arme. Ihr entfuhr ein Schmerzenslaut.

„Ihr dreht Euch im Kreis!“,setzteAnna hart nach. Durch-dringend hielt sie Hermanns Augen fest, widerstand ihm, einem Gegner, der nicht mehr klaglos wich. Ein kräftiger Ruck mit den Armen. Der eiserne Griff lockerte sich.

„Hermann, Ihr schwelgt in Eurem Zorn.“ Endlich durch den harschen Ton aufgeschreckt, zuckte der Mann zusammen.

„Ich schwelge in meinem Zorn? Zum Donnerwetter, darf ich nicht einmal ...“

„Nein, Ihr dürft nicht! Euer Selbstmitleid bringt Euch nicht weiter!“ Anna wollte keine Schimpftiraden mehr hören.

„Ich sehe Euch wüten, Hermann, wüten gegen Euch selbst. Ihr weidet Euch am Unrecht, das man Euch antut. Euch!“

Emotionen in unerträglicher Dichte. Geräuschlos. Liebe und Wut, Verzweiflung und Angst. Hermann starrte seine Gemahlin mit wacher Intensität an, als sähe er sie zum ersten Mal. Er schwieg. Endlose Stille. Dann riss er sich los, stürmte drei Schritte vorwärts.

„Anna, Ihr fallt mir in den Rü ...“

Nun stockte er, drehte sich, umfasste die zierliche Gestalt, holte Luft, ... schwieg, ... und erfasste seine Frau. Durch-scheinend blass, zitternd, tiefe Schatten um die Augen, durchnächtigt, aber bereit, ihm den Kopf zurecht zu setzen. Ihm! In diesem Zustand! Seine Augen lächelten zuerst, dann sein Mund.

„Anna !“ Hermann legte zart die Arme um seine Frau. Sie lehnte sich erschöpft an ihn. Er hatte die Dämonen im Griff. Er war wieder da!

Hermann setzte sich in seinen Stuhl.

„Ich war mir so sicher dieses Mal“, flüsterte er kleinlaut. Da waren sie, die Anzeichen einer neuen Haltung, des Abstands. Gerade weil er sich seiner Sache so sicher war, verletzte ihn die Zurückweisung umso mehr.

Sein persönlicher Erfolg als Politiker in Hall, das war eine Sache. Seine Herkunft und sein Aufstieg, das war eine zweite. Aber als Stättmeister um Aufnahme in die Adelstrinkstube nachzusuchen, das war die dritte, die gewichtige Sache!

Dennoch bot ihm die Trinkstubengemeinschaft nur an, als Gast unter ihnen zu weilen. Als "Stubherr unter Gleichen", als gleichwertiges Mitglied akzeptieren sie ihn nicht! Schlimmer noch war die Kritik an seiner Arbeit. Selbst in seinen kühnsten Träumen schien es ihm niemals möglich, dass ihm jemand drohte. Da bestand eine Feindschaft, derer er sich nicht bewusst war!

Das war für ihn das Schlimmste!

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[1] Der Begriff „Gemeine“ wird von den Geschlechtern benutzt und bezeichnet Stadtbewohner, die nicht ihrem Stand angehörten. Die Geschlechter nennen sich selbst „Ehrbare“. In Urkunden findet man für die ehrbaren Geschlechter auch die Bezeichnung "Bürger", denen die "Gemeinde" gegenüber steht.

[2] Gute-Laune-Kekse nannten sie Plätzchen aus Dinkelmehl, Butter und Eiern. Sie wurden mit Mandeln, Muskat, Zimt und Nelken gewürzt. Nach alten Überlieferungen der Hildegard-Medizin stärkten diese Zutaten Körper und Seele.

[3] Eine Schaube ist ein Überzieher aus Wolle.

[4] Die Position des Stättmeisters entspricht der Stellung des Bürgermeisters.

[5] turmartiges Wohngebäude einer alten stadtadeligen Familie mit dem Namen Keck

[6] Als Beet bezeichnete man die Vermögenssteuer, die in Hall erhoben wurde.

Kapitel 2

„… Grabgesang “

Von Trinkstubenadel und dessen Ahnen

Die Trinkstube des Adels war eine Einrichtung, die sich nicht nur in der freien Reichsstadt Hall großer adeliger Beliebt-heit erfreute. In diesen Stuben, sie lagen oft in Kellern, pflegte man das Standesbewusstsein als Patriziat und grenzte sich gegen die „gemeinen“ Bürger ab. Hier stöhnte man über schlechten Zeiten, beweinte den Niedergang des Reichsrittertums, beschwerte sich lautstark darüber, dass der Adel heutzutage Steuer zahlen müsse, obwohl man Jahrhunderte lang mit „Blut und Leben“ gesteuert habe.

Die Trinkstube im Keller bei der Witwe Sibylla Egen am Fischmarkt lag nur wenige Häuser vom Büschlerschen entfernt. Beruhigt konnten die alten Adelsgeschlechter sich hier niederlassen, ihren Wein auch in größeren Mengen genießen, ohne dass das gemeine Volk in die Gläser schaute. Man ließ seinem Ärger ungehindert freien Lauf, schimpfte über respektlose Untertanen, beschwerte sich, dass es keinen Anstand mehr gäbe und die bewährte Ordnung in sich zusammen fiele. Unermüdlich schwelgten die Trinkstubenherren in den Ungehörigkeiten, die sie erdulden mussten.

Dazu kam der Verdruss über ihre schwindende Bedeutung im politischen Alltag. Aufsteiger aus dem gemeinen Volk schlichen sich in Ämter, die von alters her den adeligen Geschlechtern zustanden. Jetzt besaß Büschler, ein Mittelbürger mit einem klitzekleinen Wappen, das Seiner Allergnädigsten Majestät in einer schwachen Stunde abgeschwatzt worden war, die Frechheit und suchte um Aufnahme in ihren edlen Kreis nach! Reichte es nicht, dass er der erste nichtadelige Stättmeister war? Selbst Kaiser gaben den Mittelbürgern nach, wenn sie genügend Gulden auf die königliche Tafel zählten.

Seit König Ludwigs Brief von 1340 hatte das Unrecht in Hall seinen Lauf genommen und im Rat standen dem ehrbaren Stadtadel nur noch zwölf Sitze zu. Sechs wurden Mittelbürgern zugewiesen und acht waren Handwerkern vorbehalten. Himmelschreiende Ungerechtigkeit! Man verkannte ihre wichtige Rolle.

Seit die Staufer ihr schwäbisches Herrschaftsgebiet auf die kleine fränkische Stadt Hall ausgeweitet hatten, übten die Adeligen als ihre Ministerialen staufische Hoheitsrechte aus. Als Kaiser Barbarossa Hall das Privileg erteilte, Reichsmünzen zu prägen, war dieser Ort für den gesamten südwestlichen Raum von Bedeutung. Ungefähr um 1180 kamen die ersten Haller Pfennige, die Heller, in Umlauf.

Am Ende des 13. Jahrhunderts hatten die Adligen einen Ort geschaffen, - so lautete ihre unwidersprochene Version - in dem vier Kirchen die Gottesfürchtigkeit seiner Bewohner bezeugten und der das Marktrecht für zwei Märkte besaß. Der Jakobimarkt für die Jakobikirche und seit 1156 kam mit der Einweihung der Michaelskirche das Recht auf den Michaelismarkt hinzu. Kirche, Markt und Stadtmauer erhoben einen Flecken zur Stadt und der königliche Schreiber Gislebert von Mons hatte sie früh mit ihrem Namenselement belegt: Hall in Schwaben“.

Der Adel erinnerte sich stolz an seinen Bericht aus dem Jahr 1190, der auf ewig dokumentierte, wie wichtig ihre Vorfahren waren. Damals im Herbst erstrahlte Hall in königlichem Glanz, als König Heinrich VI. auf dem Weg nach Augsburg hier seinen Hoftag abhielt. Viertausend Besuchern wurden Unterkunft gewährt, man nahm Fürsten, Edle und Dienstmannen auf und versorgte Leib und Seele. Das war ihre Stunde gewesen! Oder genauer: die Stunde ihrer Ahnen. Diese bewiesen dem König bei seinem Aufenthalt, dass das Vertrauen Seiner Allergnädigsten Majestät in sie gerechtfertigt war.

Die Trinkstubenherren warfen sich wieder in die Brust: Sie erinnerten sich mit Freude daran, was ihre Ahnen für diesen Flecken geleistet hatten.

Vermeintlich geleistet hatten.

Denn jeder wusste, dass in dieser Zeit im gesamten Reich viele Gemeinden wuchsen. Mit der städtischen Verwaltung erweiterte sich die Aufgabenstellung. Auch da nutzten die Ahnen die Gunst der Stunde. Sie sicherten sich im Verwaltungsapparat wichtige Positionen und damit auch großen Einfluss bei den Entscheidungen für die Stadt. Leider schien der Allergnädigste Stadtherr ihnen nicht uneingeschränkt dankbar gewesen zu sein.

1340 schon hatte König Ludwig einen innerstädtischen Streit um die Größe der Kellerhälse mit einem Brief beendet, der der Vorrangstellung des Adels nicht Rechnung trug. Diese Bestimmungen öffneten in den folgenden Jahrhunderten Tür und Tor für weiteres Unrecht. Leute wie Büschler nutzten es heutzutage selbstherrlich und machten ihnen Vorrechte streitig.

Sich in ihrer Empörung einig, wandten sich die Herren kopfschüttelnd wieder dem jüngsten Problem zu. Wenn Büschler nur Wein in geselliger Runde mit ihnen trinken wollte, könnten sie sich eventuell mit dem Gedanken anfreunden. Aber ein Teil der Anwesenden verwettete den Kopf, dass er sie in Wirklichkeit nur bespitzeln wollte. Hier, an ihrem ureigensten Platz! Er würde sich einmischen, an ihren Vertraulichkeiten Teil nehmen, wenn sie sich für die Ratssitzungen absprachen. Und dann überlege man sich einmal die Folgen! Nähme erst einmal ein Gemeiner in der Trinkstube Platz, dann kämen alle gemeinen Ratsmitglieder hinterher. Ihr Untergang wäre besiegelt!

Nein, niemals werde man Wein mit Gemeinen teilen! Punkt! Nicht hier im Adelskeller! So einfach war das! Punkt!

Trotzdem konnte man Büschlers Gesuch nicht einfach plump zurück weisen. Er war gerade Stättmeister, sehr beliebt und sein Wort besaß Gewicht. Also war Diplomatie angesagt. Vorsicht war geboten. Eine Zwischenlösung musste her. Vorübergehend sollte er den Status eines Gastes erhalten.

Stolz auf diesen klugen Schachzug glaubte man, der berüchtigte schwarze Peter sei auf diplomatischem Wege an den Stättmeister weiter gereicht. Nähme er das Angebot an, wolle man ihm demonstrieren man, dass nur altes Geblüt verband. Am Ende seiner Stättmeisterzeit wolle die Mehrheit seinen Zulassungsantrag zur Trinkstube endgültig ablehnen. Denn: Gemeine hatten keine Berührungspunkte mit alten Geschlechtern! Auch Reichtum bot dafür keine Gewähr. Diese Ordnung hatte Gott der Herr geschaffen! Das würde man Hermann Büschler lehren!

Im Standesbewusstsein wieder gefestigt begaben sich die Herren im Morgengrauen in weinseliger Stimmung zufrieden nach Hause. Ein schwieriges Unterfangen, wenn ein Mann die unerträgliche Last der Sorgen mit Wein hinweg gespült hatte und danach schwer mit dem Gleichgewicht kämpfte. Glücklicherweise glichen die Knechte das herr-schaftliche Schwanken mit untertänigster Hilfe wieder aus und geleiteten ihre Herren in die ruhige Besinnlichkeit eines schweren Schlafes.

Trotz zufriedener Einigkeit und helfender Hände weckte der kräftige Glockenschlag vom nahen Kirchturm bei manchem ein banges Gefühl und er fragte sich, ob der Schall eine besondere Botschaft herüber wehe? Barg er die Ankündigung vom endgültigen Niedergang ihrer Herrschaft in sich?

Nein, nein! Derartige Ahnungen konnten nur dem völlig erschöpften Geist nach einer anstrengenden Nacht entspringen. Mit der Wirklichkeit hatten sie keinesfalls etwas zu tun!

Kapitel 3

„... Jeder freut sich seiner Stelle ...“

Fomann

In der Dachkammer des büschlerschen Hauses entwichen dem treuen Diener Lienhard Fomann sanft die letzten Schnarchtöne. Seine Nachtruhe war beendet. Noch umfing die Dunkelheit den kleinen Raum und kein sanfter Schimmer von Tageslicht zeigte sich am Himmel. Aber zuverlässig, wie er nun einmal war, erhob er seine strapazierten Glie-der. Er musste mit Eufrosine zusammen das Haus für die Herrschaften richten. Das taten sie beide seit Jahren gemeinsam.

Die Magd Eufrosine war Lienhard Fomanns stille Liebe. Schon als sie mit dreizehn Jahren ins Haus gekommen war, ließ er sich von ihrem Charme einwickeln und später auch von ihren üppigen Formen. Ihre drallen Rundungen nicht nur an Arm und Po gefielen ihm, das wusste sie und wenn sie oben am Ofen an ihm vorbei ging, - die Stelle ist sehr schmal - dann schob sie sich langsam an ihm vorbei und ihr weicher Busen streichelte seinen Körper. Oh, wie warm war ihm früher dabei geworden! Und nicht nur früher.

Vor Jahren, als er gerade seinen Herrn bitten wollte, dass er Eufrosine ehelichen dürfe, traf ihn unerwartet der Schlag. Auf dem Siederfest verknallte sich seine Angebetete in Eberhard, einen Herumtreiber, und ließ ihn von einem Tag auf den anderen links liegen. Ein halbes Jahr später verschwand Eberhard spurlos. Niemand wunderte sich darüber. Nur Eufrosine. Fomann blieb nur übrig, die Scherben aufzusammeln. Das tat er wortlos und tröstete die Magd so gut es ging. Ihr Liebesverhältnis wurde sehr zu seinem Leidwesen nie wieder wie zuvor. Es blieben gemeinsame Schäferstündchen, geheiratet wurde nicht mehr.

Vielleicht lag darin für sie beide der Reiz ihrer Beziehung. Ihr Zusammensein gewann eine besondere Qualität. Die Herrschaften duldeten ihre Schwäche füreinander und die überstand nicht nur Krisen, sondern ließ sie zu einer Einheit zusammen wachsen, die ohne Worte harmonierte.

So großes Glück erfahren nicht viele Paare.

Fomanns Sinne lösten sich vom Gestern und wandten sich dem Heute zu. Früher war er es gewesen, der die schweren Eimer aus dem steinernen Wasserbrunnen zog. Aber seit zwei Jahren spielten seine morschen Knochen nicht mehr mit und manchmal schoss ihm der Schmerz so ins Kreuz, dass er stocksteif mitten in der Bewegung verharrte. Seine beiden Körperhälften passten nicht mehr zusammen.

Sein Herr hatte deshalb den Jungknecht Klaus zu seiner Entlastung eingestellt. Oh, das war ihm peinlich. Aber Hermann befahl, dass er die kräftezehrenden Arbeiten Klaus überlassen musste! Der bekam jedoch leider oftmals morgens seinen Hintern nicht aus den Federn. Dann schöpften er oder Eufrosine das Wasser doch selbst. Hauptsache Klaus besorgte das Holz und bestückte die Öfen. Sonst waren im Winter die Räume eiskalt und alle froren. Das wollte Fomann niemandem zumuten, weder seinen Herrschaften, noch seiner Eufrosine.

Nun, musste er, da konnte sein, was da wolle, nach einer kurzen Morgentoilette seiner Gewohnheit nachkommen und sich vor dem Kruzifix beugen, Gott dem Herrn demütig für seine Güte danken und dafür, dass er ihm dieses gute Leben bescherte. So erbat er Gottes Segen für sich und Eufrosine, schloss die Herrin und die Kinder in seine Bitte ein und beendete sein Gebet.

„Gib meinem Herrn Hermann heut' die Kraft, dass er seinen Schock überwindet! Lieber Herrgott, mach', dass er nicht mehr verstört ist. Sonst bin auch ich verstört. Amen!“

Mit frischem Mut und voller Vertrauen in Gott den Herrn begab er sich gestärkt die Stufen hinab mit dem Elan eines reifen Mannes, der fröhlich sein Tagwerk begann.

Schnell fiel Fomanns Zuversicht in sich zusammen, ja die ganze Person schrumpfte, als er die offene Tür zum Eltern-schlafraum entdeckte. Das Bettzeug lag unberührt wie am Abend zuvor und das Feuer im Ofen glühte noch. Vorsicht aktivierte seine Sinne und ließ den schlurfenden Gang zögerlicher werden als er schon war. Ratlosigkeit malte sich auf seine Züge. War er gebraucht worden? War der Herr womöglich zusammen gebrochen? Mit Schmerzen? In Fomanns Kopf purzelten die schlimmsten Bilder wild durcheinander. Dann ergriff die praktische Seite seines Wesens wieder Besitz von ihm. Alle Angst nützte nichts! Erst musste der Jungknecht raus aus dem Bett. Anschließend wollte Eufrosine in der Küche begrüßt werden, sonst war die beleidigt. Vielleicht hatte sie heute Nacht etwas mitbekommen, was ihm entgangen war. Dann musste er auf dem Markt hören, was die Vöglein zwitscherten. Danach sah er weiter.

Fomanns Herzensdame überbrühte in der Küche bereits Salbei und Schafgarbe. Davon trank jeder in der Familie morgens einen Becher voll. Diese Gewohnheit hatte die junge Herrin eingeführt, als sie ins Haus gekommen war, und der Tee war nicht für alle zur wohltuenden Gewohnheit geworden.

Doch leider wusste Eufrosine gar nichts! Sie begrüßte ihren Lienhard mit lächelnden Augen, einem frischen „guten Morgen“ und dem schmatzenden Laut eines dahin geworfenen Kusses. Dann stutzte sie.

„Is' was mit dir? Bist‘de krank?“

Lienhard ließ sich nicht zu einer Antwort herab und zuckte abfällig mit den Mundwinkeln. Typisch Weiber, dachte er. Normalerweise schwatzten sie sich die Seele aus dem Leib und zogen über alles und jeden her. Aber wenn’s darauf ankam, dann bekamen sie nichts mit!

Nun, alles Zaudern nützte nichts! Er musste jetzt den Morgentee servieren. Wieder stieg er die Treppe hinauf, zaghafter als am vergangenen Abend. Seine Beine zitterten. In welcher Verfassung würden ihm seine Herrschaften entgegen treten? Leise flüsterte er.

„Herr im Himmel, hiiilf“, holte tief Luft, pochte an die Tür. Kein Laut erwiderte seinem zurückhaltenden Klopfen, er solle eintreten. Trotzdem fühlte er sich dazu aufgefordert. Langsam öffnete er die Tür einen Spalt breit, spähte vorsichtig in den Raum. Sein Herr würde ihm sagen, wenn er störe. Aber frühstücken musste er, da gab es nichts!

„Guten Morgen“, flüsterte er leise, „guten Morgen, die gnädigen Herrschaften“ wiederholte er kräftiger und schaute die Herrin fragend an. Ihr Nicken zeigte ihm an, dass er recht gehandelt habe und man ihn bereits erwartete. Sie standen vor dem kleinen Fenster und schauten auf die Michaelskirche. Wo der unendliche Himmel des Herrgotts die Erde berührte, mischten sich in silbergrauen Streifen rötlich-violette Wolkenbahnen und kündigten die Sonne an, die die nächtlichen Schatten vertrieb und Licht in die menschlichen Herzen bringen sollte. Während sich das Paar dem Diener zuwandte, kehrte in den stumpfen, übernächtigten Blick des Herrn ein warmer Ton zurück, der ihn freundlich einlud. Anna griff nach der Hand ihres Mannes und die beiden setzten sich zum Frühstück, schlurften ihren Morgentee und Hermann verzog wie jeden Morgen angewidert den Mund.

Während Anna Büschler, geborene Hornberger, und Hermann Büschler, der derzeitige Stättmeister der Stadt Hall, schweigend mit dem wortlosen Verständnis einer gemeinsam durchwachten Nacht ihr Frühstück einnahmen und die wohltuende Fürsorge ihres Dieners Fomann annahmen, erhellte das Tageslicht zunehmend die Stube. Je weiter die Sonnenstrahlen die Dunkelheit verdrängten, desto stärker lösten sich die bedrohlichen Strukturen des vorherigen Abends in freundlicher Helligkeit auf. Im liebenden Verständnis seiner Gemahlin und Fomanns warmherziger Ausstrahlung wich das Grau aus Hermanns Gesicht, machte einem hellen Rosa Platz, vom selben Ton wie ihn gerade der Himmel annahm. Seine Haut straffte sich und mit ihr seine Haltung. Seine Augen verloren die Mattigkeit.

Hermann Büschler gewann seine Tatkraft zurück.

Er war geläutert durch die bittere Erfahrung einer Nacht, in deren Verlauf ihn jedes Gefühl durchtobt hatte, zu dem ein Mensch fähig ist. Körper und Seele waren bis ins Mark erschüttert. Jetzt aber kehrte das Gleichgewicht in den Körper zurück.

Fomann atmete erleichtert auf: Gott dem Herrn sei gedankt, dass er seine Gebete erhört hatte! Der Herrgott gab seinem Herrn Kraft! Hatte er's doch gewusst! Heute Abend wollte er in der Kirche eine neue Kerze für den heiligen Michael spenden. Das nahm er sich vor. Der Knoten im Magen löste sich und mit ihm der Druck, der seine Seele beschwerte.

Der Knecht erlebte die Krise seines Herrn als sei es seine eigene, spürte Hermanns Schmerz, als würde er ihm selbst zugefügt. Denn im Wohlergehen seiner Herrschaften sah er seine ganz persönliche Lebensaufgabe.

Kapitel 4

„... Fest wie der Erde Grund,

Gegen des Unglücks Macht ...“

Hermann

Erneut in sich gefestigt und an der Enttäuschung weiter gereift, legte Hermann frische Kleidung an, die Fomann gerichtet hatte. Als hätte er beim Waschen die letzte Unsicherheit abgeschrubbt und ausgewrungen, sorgte er in der Halle für erstaunte Mitbewohner, als er sich in fast fröhlichem Ton verabschiedete.

„Gehabt Euch wohl. Ich gehe jetzt meinem Tagwerk im Rathaus nach.“ Fragende Blicke, offene Münder! Während Fomann die Tür öffnete, verhielt Hermann seinen Schritt, kehrte durch die Halle zurück an den Fuß der Treppe und schloss seine Frau in die Arme.

„Aus tiefsten Herzen sei Euch Dank, liebste Anna!“, flüsterte er ihr zu. Während die Herrin unter Tränen lächelte, schloss Fomann betont langsam das Tor. Keiner sollte seine Rührung, keiner die Träne sehen, die gerade die Wange hinab kullerte. Mit wässrigen Augen machte er sich diesmal ausgesprochen lange am Torriegel zu schaffen. Dann wandte er sich gefasst an die Hausfrau.

„Gnädige Herrin, Ihr seid wachsbleich. Legt Euch hin! Eufrosine und ich kümmern uns um die Kleinen. Geht Herrin, Ihr braucht Schlaf.“

„Ach, geh‘ aus dem Weg und schwätz' nit!“ Eufrosine drängte Fomann mit ihren Pfunden entschlossen zur Seite und führte Anna energisch in die Schlafkammer hinauf.

„Mannsbilder“, murmelte sie, „haben keine Ahnung, diese Mannsbilder!“

Kapitel 5

„... Steht mir des Hauses Pracht ...“

Hermann verweilte noch einen Moment vor seinem Haus und atmete mit Inbrunst ein. Er war tief bewegt. Die Nacht ohne Schlaf hatte ihre Schatten hinterlassen. Geschwächt schaute er in den neuen Morgen und seine Beine fühlten sich an wie schmelzende Butter. Mit Rührung dachte er daran, wie seine Frau Stunde um Stunde mit ihm ausgeharrt und seine Empörung erduldet hatte. Sie, seine zierliche Anna mit der sanften Stimme. Die erhob sie unerbittlich, als sie erkannte, dass er am Ende war, sich im Kreis drehte, sein Herz schmerzte und er diesmal kein Ende fände. Sie hatte sich ihm in den Weg gestellt und sein Wüten unterbrochen.

Hermann sah voller Dankbarkeit an den Wänden seines Hauses hoch. Er ließ die Augen über die Fassade schweifen, die seine Großmutter erworben und in dem früher Könige Schutz und Ruhe gefunden hatten wie er heute.

Noch wichtiger als der sichere Rückhalt war ihm die liebende Geborgenheit, die er in seinem Anwesen fand. Sie bedeutete ihm viel. Auch, wenn ein Mann das nicht zeigte. Was wäre er ohne diese Gemeinschaft in seinem Haus, auf die er sich bedingungslos verlassen konnte? Was wäre er ohne seinen Knecht Lienhard Fomann, in dessen Hände er jeden schwierigen Auftrag legte, und was ohne sein Weib? Als Hausherrin führte sie klug und mit Herz sein Hauswesen, in dem sich jeder Knecht, jede Magd, jedes Kind und vor allem er sich geborgen fühlten. Sie war die Seele dieses Heimes. Jeder legte bei ihr Sorgen ab, fand bei ihr den Rückhalt, den er für sein Leben brauchte. Die Mutter seiner sechs Kinder, hatte sich ihm in der letzten Nacht entgegen gestellt, als wäre er nicht ihr Gatte und der erste Mann der Stadt, sondern ein Kind. Im Nachhinein fühlte er sich

wirklich wie sein ältester Sohn Hermann, wenn der wütend seinen Ärger austobte. Anna hörte zu, bemitleidete liebevoll, fing den Schmerz auf und glättete die gekränkte Seele. Erst als bei ihm das Rad der verletzten Gefühle nicht still stand, bremste sie seine Drehung um die eigene Achse. Ohne ihr besonnenes Verhalten stünde er jetzt nicht hier. Nur allzu gut erinnerte er sich an den Druck, der ihm das Atmen unmöglich machte. Geradezu genüsslich sog Hermann jetzt die frische Luft in seine Lunge. Zufrieden weitete sich sein Körper. Nichts konnte ihn nunmehr aus dem Gleichgewicht werfen.

Ohne die Hingabe an seine innere Verletztheit blickte er nach außen, registrierte, was vor seinen Augen geschah, achtete bewusst auf seine Umgebung und erblickte:

Die Michaelskirche

Mächtig thronte sie auf dem Marktplatz vor ihm, umschlossen von Wohnhäusern der wohlhabenden Edlen. Massen von Erde waren aufgeschüttet worden für die Wohnstatt des Herrn Jesus Christus, in der sich die Gläubigen geborgen niederlassen und sich ihm anvertrauen konnten.

Seit er im Rat war, setzte Hermann sich für die Vollendung der Kirche ein. Der Widerstand eines Teils des Rates, vor allem von Rudolf Nagel, nagte schwer an ihm. Doch aufgrund der Ratsmehrheit wurde bereits seit 1493 wieder gehämmert und gemeißelt. Am neuen Chor, der das Langhaus abrunden sollte, dröhnten die Schläge der Steinmetze wie Musik in seinen Ohren und jeden Morgen, wenn er sein Haus verließ, umrundete er die riesige Baustelle und hielt einen Schwatz mit dem Baumeister. Der schätzte Hermann trotz seines prüfenden Verstandes sehr. Die Gesellen machten ihn häufig zur Zielscheibe ihres Spottes. Eines liebevollen Spottes. Besonders seit jenem Unfall vor ein paar Monaten achteten sie ihn als einen der Ihren.

Damals hatte er neben Hans Schaub gestanden und mit ihm, direkt am Gerüst, über den Anbau der Sakristei geplaudert. Hermanns Wissensdurst war unendlich. Damals wurde das herzhafte Lachen der beiden Männer plötzlich von vielen Stimmen unterbrochen: „Voorsiiicht“, schrie von allen Seiten ein schlechter Chor. Meister Schaub erfasste aus dem Augenwinkel die Gefahr, stieß den Stättmeister kräftig nach hinten, der verlor das Gleichgewicht und landete unsanft auf dem Hintern. Da sauste ein Zimmermannshammer nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbei, ein großes graubraunes Etwas stürzte zugleich genau auf jene Stelle, an der er eine Sekunde zuvor fröhlich gelacht hatte. Ein Holzbalken, kaum die Erde berührt, neigte sich und schlug auf seinem linken Bein auf. Hermann hörte im wahrsten Sinne des Wortes die Engel singen, Schmerz umnebelte seine Sinne, das Holzstück lag auf seinem Fuß. Alle Anwesenden erstarrten. Doch eine Sekunde später kehrte das Leben in die Männer zurück.

„Haben sich der Herr Stättmeister verletzt?“ - „Kommt, Herr Stättmeister, wir helfen Euch auf die Beine!“ - „Da hat der Herr Stättmeister aber einen Schutzengel gehabt!“

Tausend „Herr Stättmeister …“, hagelten zugleich auf Hermann ein. Doch der reagierte nicht. Er richtete sein Augenmerk suchend nach oben und spähte den Unglücksraben aus, dem er das Debakel verdankte. Der stand auf dem Gerüst, wachsbleich, ein junger Gehilfe, fassungslos, zu Tode erschrocken. Ihm waren Hammer und Holz entglitten. Lange fixierte Büschler den jungen Mann. Seine Augen nagelten strafend nicht nur den Schuldigen fest. Alle wurden in den Bann gezogen. Sogar die Vögel stellten ihren Gesang ein. Was würde jetzt geschehen? Hermann griff nach dem Hammer, der wenige Zentimeter neben seinem Kopf lag, und betrachtete ihn stumm.

„He, du da ...“, rief er dem Jungen zu, „wenn du ein großer Baumeister werden willst, dann merk' dir eins: so wie du, darf man mit dem teuren Material nit umgeh‘n! Vergiss das nimmer!“ Verwirrt stotterte der Junge eine Entschuldigung, während zwei Zimmerleute vorsichtig das Holzstück vom Bein hoch nahmen. Bedächtig setzte Hermann den Fuß auf, bewegte ihn zaghaft, ließ sich von einem kräftigen Mann in die Höhe ziehen und sackte zusammen. Käseweiß setzte er sich auf einen unbehauenen Stein. Er belastete seinen Fuß dabei vorsichtig und wurde nun durchscheinend grau wie ein Geist. Eine feine Blutspur zeigte, dass das Holz eine offene Wunde geschlagen hatte. Aber nach einigen Minuten kehrte Farbe in die Wangen zurück und das dünne rote Rinnsal versiegte. Hermann erhob sich vorsichtig und verkündete.

„Auf Leut‘, die Paus‘ is‘ vorbei, jetzt wird wieder g‘schafft!“ Sprach‘s und humpelte mit unsicheren Schritten, von helfenden Händen gestützt, von dannen.

Dankbare Hochachtung bezeugte nicht nur der völlig verstörte Junge, nein alle Handwerker wussten die generöse Haltung ihres Stättmeisters zu schätzen. In Hall waren bei geringfügigeren Anlässen harte Strafen verhängt worden und Peitschenhiebe waren noch das Harmloseste. Aber Stättmeister Büschler bewies erneut ein weites Herz für die Gemeinen. Dafür bezeugte man ihm Achtung.

Dieser verehrte Herr Stättmeister überquerte am heutigen Morgen den Kirchhof. Viele spöttische Bemerkungen flogen durch die Luft, aber er winkte nur mit der Hand und antwortete nicht. Ganz in sich versunken ging er zum Säulen-portal des Westturms und betrat die Vorhalle der Kirche. In der aufrechten Haltung eines Menschen, der an der Schöpfung des Gesamtwerkes beteiligt war, ging er durch das Langhaus bis vorne an den Flügelaltar. Sein Blick verweilte im Schrein. Das Passionsgeschehen richtete seine Gedanken auf die Leidensgeschichte:

Jesus Christus litt, litt in Erwartung dessen, was auf ihn zukam. Unbeschreibliche Ängste mussten ihn quälen, aber ER gab nicht auf, ging seinen Weg bis zum bitteren Ende, begleitet von der Gewissheit, dass das Leiden sein Auftrag wäre.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Caren Melien - Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches, auch auszugsweise, sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
Bildmaterialien: VercoDesign, Unna
Cover: VercoDesing, Unna
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2021
ISBN: 978-3-7554-0178-0

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Zuletzt noch etwas Persönliches: Erstens hätte ich weder den Mut gehabt, die Geschichte zu schreiben, hätte ich nicht die grenzenlose Unterstützung meines Mannes genossen. Zweitens hätte ich nicht den Mut gehabt, den Roman tatsächlich zu veröffentlichen, hätte mich nicht meine Schwiegertochter Kim Rylee in ihrer unnachahmlichen Beharrlichkeit immer wieder gedrängt. Der Text wäre im Schrank geblieben. Beiden ein ganz dickes Danke.

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