Wir gingen tatsächlich zum Klassentreffen. Sophie und ich, die Mobbingopfer der 3.2, trauten uns vor unsere alten Löwen, die uns einst tagtäglich verspeisten. Wieso sie sich das antun wollte, weiss ich noch immer nicht. Ich war da, um selbst so eine Art Konfrontationstherapie an mir durchzuführen. Um mich meiner Zeit in der Oberstufe zu stellen.
Zugegeben, der Abend hatte mehr als holprig begonnen, wir warteten an der falschen Haltestelle, verpassten so unseren Anschluss, liefen orientierungslos durch das uns fremde Kaff, und als wir schliesslich doch noch vor der richtigen Spelunke landeten, lief ich auch noch beinahe in eine Glaswand, just in dem Moment, in dem Marc, der Organisator des Abends, zu uns rausblickte. Lief bei mir! Im Inneren mussten Sophie und ich uns dann erstmal notgedrungen an die äussersten Plätze ganz oben und ganz unten am Tisch sitzen, ansonsten waren alle Plätze bereits vergeben. So kam es, dass ich ausgerechnet neben unserem Lehrer sass, und von der Person mir gegenüber erwartete ich auch keine tieferen Gespräche. Leider fragte unser ehemaliger Lehrer alle im Umkreis dann so dermassen aus, dass ich leider Gottes doch so einiges über die lieben Leute erfuhr.
Erstaunt bemerkte ich, dass es mich irgendwie fast traurig machte, wie wenig die Leute sich seither verändert hatten. Dieselben nichtssagenden Klamotten, dasselbe erpichte Aufzählen der bisherigen beruflichen Erfolge und ihre Reisen nach Hawaii, Finnland, Timbuktu, Takatukaland. Wieviel sie verdienen und in den nächsten Jahren verdienen werden. Welche Autos sie fahren.
Maxime, mit dem ich im Kindergarten mal noch befreundet war, mich aber seit beginn der Mittelstufe auf den Tod nicht ausstehen konnte, berichtete unserem ehemaligen Lehrer von seiner nicht bestandenen Pilotenprüfung. Mir gelang es nicht mal, schadenfreudig zu sein. Zu genau wusste ich, dass er schon als Vierjähriger davon geträumt hatte. Zu deutlich hörte ich das schmerzende Kratzen in seiner Stimme als er seinen Bericht mit „Also habe ich das schliesslich aufgegeben“ endete. Geplatzte Träume kannte ich selbst zu gut.
Irgendwann, als die Raucher zum ersten Mal rausgingen, setzte ich mich möglichst unauffällig, nachdem Sophie mich mehr als auffällig zu sich gewunken hatte, an das andere Kopfende des Tisches, zwischen sie und Tobias sozusagen. Nach einem betont freundlichen „Hallö!“ in seine Richtung interessierte er mich auch schon nicht mehr weiter. Es dauerte nicht lange und Bones, die mein davonschleichen natürlich bemerkt hatte, stellte sich zu uns dazu. Wir herzten uns ausgiebig, da wir bisher dazu noch keine Gelegenheit gehabt hatten, und plauderten sogleich los.
Was ich so mache, wollte Bones wissen. Ich gönnte mir eine sehr lange Denkpause. Schliesslich sagten wir beide Zeitgleich „Gar nichts!“, was uns schon zum ersten Lachanfall führte.
„Nee, ich war die letzten Monate in ner Klinik“, sagte ich dann mit möglichst gemässigter Lautstärke. Voll cool, sagte sie nur dazu. „Also, so als Patient, nicht zum arbeiten“, klärte ich sie auf. „Achso! Ja, trotzdem cool!“ Schon wieder lautes Gelächter von uns dreien.
Es war schon interessant, wie genau diejenigen, von denen unser Lehrer früher dachte, wir seien nur aus Not heraus befreundet, die einzigen auf dem Treff waren, die sich nebst den üblichen Höflichkeitsfloskeln irgendwas zu sagen hatten.
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2017
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Widmung:
Für die Freaks da draussen. Euch liebe ich.