„Alltag ist Treibsand, du steigst ab, je stärker du trittst."
-----Casper
Ich ziehe den Bollerwagen mit der einen Hand, mit der anderen kralle ich mich an die Plastiktüte, in der mehrere hundert Franken liegen. Klonk, klonk, über den unebenen alten Steinboden, wumm, runter vom Bordstein auf die Strasse. Ein nervöser blick auf das Ziffernblatt. 10 vor 6. Ich komme zu spät.
Zu spät.
Der Brief kam zu spät.
Mühsam ziehe ich die schweren Bücherpakete hinter mir her, wieder auf den Gehsteig. Ich spüre förmlich, wie sich die Blasen auf meinen Handteller vermehren.
Dann nochmals wumm.
„Oh Fuck“, kommt es zischend aus meinem Mund. Ich lasse den Griff los und gehe um den Wagen herum. Natürlich. Das schwerste Paket hat sich aus dem Stapel gelöst und liegt jetzt halb auf dem Pflaster, halb auf dem Wagen. Ich versuche, es wieder hochzuhieven. Eine Ecke der Kartonkiste gräbt sich in meinen Arm.
Sie sah meinen Arm.
Sie sah ihn, und tat nichts.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht lasse ich das Paket zurück auf den Boden fallen, richte den Ärmel meines Longsleeves und unterdrücke einen Schluchzer. Mimose, elender Versager.
Ich blicke mich verzweifelt um. Leute starren. Leute gehen weiter. Es fragt keiner was los ist, selbst als die ersten Tränen über meine Wangen rinnen. Keiner kommt, um mir zu helfen.
Es kam nie jemand.
Nicht zu mir.
Meine Atmung wird schneller, mein Herzschlag ebenso, und ich weiss, was gleich kommt. Ich kenne das Gefühl.
Sie denkt sie weiss alles, aber das stimmt nicht.
Sie weiss nichts von den Attacken.
Dann breche ich endgültig zusammen, lasse mich zu Boden fallen und heule mir die Seele aus dem Leib, bis mir der Rotz in den Mund läuft und ich einen Hustenanfall kriege. Ich fluche wie ein kanadischer Holzfäller und heule noch lauter. Und in mir drin ist immer noch diese Panik, diese unbestimmte Angst, ohne erkennbaren Sinn.
Ich sehe, dass die Leute mich sehen, doch ich kann nicht aufhören. Und die Leute wissen, dass ich sehe, dass sie mich sehen, doch es kümmert sie nicht.
Ich weiss nicht, wer von uns verabscheuenswürdiger ist.
Auf der Arbeit erfährt keiner davon. Ich schleiche mich mit dem Bollerwagen im Schlepptau an der Kasse vorbei in den Packraum und stecke das Geld zurück zum restlichen Wechselgeld für die Kasse. Lade dann die Fracht ab und trete so lange gegen das vermaledeite Riesenpaket, bis es, erneutes wumm, aus dem Wagen kippt.
Ich lasse alles so liegen und gehe die Treppe hinunter zum Pausenraum, ziehe meine Jeansjacke aus, ziehe den Ärmel meines Oberteils wieder etwas über die Handballen und wasche mir die Schmiere aus Tränen und Make-up von den Wangen.
Meine Augen waren immer zugeschwollen.
Sie sah darüber hinweg.
Ich atme ein, aus, ein aus, uuh, huu, uuh, huu, und gehe wieder zurück an die Arbeit. Natürlich laufe ich zuallererst Elvira in die Arme. Wie immer, wenn ich etwas falsch mache.
„Was machen all die Pakete noch im Packraum?“, fragt sie mich. Ich weiss, dass sie weiss, dass die Post nur bis um 6 Uhr abends geöffnet hat. Ich weiss, dass sie weiss, dass ich es weiss.
„Hab sie nicht rechtzeitig zur Post gekriegt“, weil ichjemandenbrauchte und niemanddawar und ichdasalleshierhasse und dumichfertigmachst.
„Aha“, meint sie nur. Und dann: „Bist du morgen hier?“
„Nein. Schule.“
Ich hasste die Schule.
Sie zwang mich, trotzdem zu gehen.
„Na, dann entschuldige dich besser bei der, die morgen mit der Post dran ist.“
„Ja.“
Dann kommt ein Kunde und ich stürze mich förmlich auf ihn, nur um Elvira zu entkommen, ihren Blicken, ihren schneidenden Bemerkungen, ihrem ganzen perfekt sein.
Er suche ein Kochbuch für Kinder, meinte der Herr, und ich zeige ihm höflich, aber wortkarg die betreffende Abteilung und ziehe mich dann zu den Bilderbüchern zurück, um sie schön zu ordnen.
Nach einer Weile kommt Elvira.
„Bist du fertig? Ich muss auch noch aufräumen.“
„Ja“, lüge ich.
„Dann geh zurück zur Kasse.“
„Ja.“
Ich kann ihr nicht verdenken, dass sie mich nicht mag.
Sogar sie hasste mich.
Hasste mich schon immer.
Hinter der Kasse schaue ich hinunter auf meine Hände. Tatsache. Alles voller Blasen. Ich drücke auf eine, bis der Saft ausläuft.
Ich bediene die letzten Kunden, schliesse pünktlich um halb 7 die Tür, suche mir ein paar Leseexemplare aus, die ich lesen will. Muss. Sollte.
Danach beginne ich zu trödeln. Suche in Zeitlupe meine Sachen zusammen. Sage allen Mitarbeitern tschüss, wenn sie gehen. Anna ist schon fast fertig mit der Kasse, als ich das Geschäft verlasse.
„Schönen Abend“, sagt sie. Ich belehre sie keines besseren.
Auf dem Nachhauseweg sitze ich eingequetscht zwischen einer muffigen Sporttasche und einer schokoladeverschmierten Wand auf der Treppe des Zuges. Geschäftsmänner in penibel gebügelten und entfusselten Anzügen schauen zu mir rüber und drücken sich mit ihren fetten Hinterteilen noch tiefer in ihren Sitz. Ich könnte ihnen die Augen auskratzen.
Manchmal, wenn ich unterwegs so auf den Stufen sitze, freue ich mich fast auf zuhause. Heute hoffe ich bloss darauf, dass der Zug entgleist und mich zusammen mit den Aktenkofferträgern in den ewigen Abrund reisst. Bis in alle Ewigkeit, Amen, und so.
Ich hätte sterben können.
Sie interessierte es nicht, 6 Jahre lang.
Der nächste Halt wird angekündigt, ich stehe mühsam auf und schwanke mit dem Waggon um die Wette.
Ich wollte sterben.
Sie interessierte es nicht, 9 Jahre lang.
Zischend verlangsamt sich die Fahrt, endet mit einem kleinen Ruck, während sich bereits die Türen zu öffnen beginnen.
Ich hätte sterben sollen.
Nun stecke ich in dieser Hölle fest, für noch mindestens /3 Jahre/ 60 Jahre.
Ich renne an den anderen Leuten vorbei auf den Bus zu. Wer sitzen will, darf nicht trödeln. Und ich muss sitzen, spüre förmlich, wie die offenen Stellen an meinen Füssen Blut und Eiter freigeben. Blut und Eiter und Menschensaft.
„Ach, das Blut? Nur von den Blasen an den Füssen."
Ichlog und siewusstees und siesagtenichts.
Natürlich bleibt wieder kein Platz für mich.
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all jene, die verstehen, wie auch für jene, die es versuchen.
"Alltag ist Treibsand,
Du steigst ab,
Je stärker du trittst."
-----Casper