Cover

Prolog

In dünnen, krummen Linien fliesst es über meinen nassen Oberschenkel, ein wenig wie rote Düsenstreifen am Horizont. Sammelt sich in den Wölbungen meines Knies, rinnt dann weiter hinab über mein Schienbein bis es sich schliesslich bei meinen Füssen zu einer blassen, faserigen Pfütze ansammelt, welche sich auf dem Weiss der Badewanne festsetzt.

Ich lasse es ganz einfach zu, koste ein wenig von diesem vollkommenen Augenblick der Stille, ehe ich den Duschkopf auf meinen rechten Beckenknochen richte und das Blut mitsamt meinen Visionen den Abfluss hinunterspüle. Ich steige aus der Dusche und werfe einen raschen Blick in den Spiegel. Erschreckend wie immer. Schnell ziehe ich mir was über, entferne die Reste meines verschmierten Make-ups aus dem Gesicht und wende diesem verdammten Ding den Rücken zu.

Das leichte Ziepen der vier zarten Linien gibt mir bei jedem Schritt das Gefühl von unglaublicher Stärke, und ja, auch so was wie das Gefühl der Macht.

Kapitel 1

Wie eine Schar hungriger Wölfe lauern sie vor dem Schulgebäude auf mich, immer bereit anzugreifen, immer auf der Suche nach der leichtesten Beute. Immer auf der Suche nach Leuten wie mir.

Ich schleiche mich an ihnen vorbei, möglichst unauffällig, finde schliesslich meinen Weg durch die Menge und tauche durch sie hindurch. Weit abseits aller anderen Schüler presse ich mich dann eng an eine der sandfarbenen, quaderförmigen Säulen meines Traktes und hoffe, dass  die Klingel mich aus meiner Starre löst, ehe es ein Anderer tut. Schaue mich verstohlen um.

Niemand sieht mich an.

Keiner registriert mich.

Es scheint fast, als wolle mir das Schicksal ein kleines Geschenk zu Beginn des neuen Schuljahres bereiten, als würde es wissen, was mich später erwartet, als wisse es um meine schlaflose Nacht.

Der schrille Klang der Glocke schwingt bereits erlösend in meinen Ohren, und ich marschiere auf das Schulgebäude zu. Ich höre einige Schüler lachen, vielleicht über mich. Ganz sicher über mich.

Ich betrete die Eingangshalle, und brütende Hitze wabert mir entgegen, vermischt mit dem Geruch von Schweiß und verbrauchter Luft. Ich flüchte schnellstmöglich in mein Klassenzimmer, dessen Tür direkt in die große Halle mündet. Auch da ist es heiß, aber der Gestank ist auszuhalten. Hier verpestet etwas ganz anderes die Luft. Sie.

Wie eine Königin thront sie auf dem hintersten Platz direkt neben den Fenstern, umringt von jener Schar dumpfbackiger Bewunderinnen und Verehrern, welche sie sich in all den Jahren angesammelt hat. Sogar die Sonne scheint unterdessen ihren Fokus auf sie gerichtet zu haben, ihr Platz wird durchflutet von hellem, goldgelbem Licht. In ihrer Welt gibt es keine Dunkelheit, die ihr wehtun will, keine Angst, die sie zerfrisst. Nur Sonne, Sonne, Sonne.

Wie ich sie hasse.

Sie hat meinen Blick wohl gespürt und sieht mich an, der Lehrer ist noch nicht hier. Ich schaue schnell weg, doch sie nutzt die Chance auf ein leichtes Fressen dennoch, macht alle anwesenden Mitglieder ihres Rudels auf mich aufmerksam, steht auf, geht auf mich zu, setzt sich auf einen Tisch in meiner Nähe.

Sie beginnen mit dem Umkreisen, ihrer liebsten Jagdmethode.

„Lif?“

Nein.

Ich will sie nicht nochmals ansehen.

„Lifilein?“ Verhaltenes Kichern aus irgendeiner Ecke. Ich schaue sie nun doch an, mit ausdruckslosem Gesicht und einer angespannten Körperhaltung. Sie scheint zu lächeln, aber auf mich wirkt es, als würde sie ihre kaugummiweißen Zähne blecken.

„Ich warte immer noch auf dein ärztliches Attest, weißt du?“ Ihre naiv verstellte Stimme, dieser ahnungslose Blick in ihren Augen. Meine eigene Angst.

Die Augen ihrer Bewunderinnen huschen hin und her, als würden sie einen Ballwechsel bei einem Tennisspiel verfolgen. Immer gespannt, wer dem Anderen den Ball in die Fresse schmettert, wer dieses Spiel gewinnt. So, als wäre das nicht längst schon entschieden.

Ich zucke bloss mit den Achseln. Werde rot. Presse mit drei Fingern durch meine Jeans hindurch auf die frischen Schnitte, die sich über meinen Beckenknochen erstrecken. Wünsche, sie wären zahlreicher. Wünsche, sie wären tiefer. Wünsche, ich wäre an ihnen verreckt.

„Ich habe keins“, murmele ich. Meine Stimme quietscht unnatürlich, scheint nicht mehr die Meine zu sein. Wieder ein Kichern. Ich versuche mich möglichst unauffällig zu räuspern, doch meine Stimme versagt ihren Dienst weiterhin.

Sie umkreisen mich immer enger.

„Du warst aber eine ganze Woche lang nicht in der Schule.“

Dieser Blick macht mich krank.

Endlich, unser Lehrer betritt die Klasse. Sie und ihre Anhängsel verwandeln sich in Sekundenschnelle von mir nach dem Leben trachtenden Horrorgestalten zu Traumschülern, die ihn freundlich-schleimend in Empfang nehmen.

Ich  setze mich grusslos auf den vordersten Platz an der Schrankseite. Der Stuhl an meiner Seite ist und bleibt leer.

Ein Mädchen, Charlice heißt es, wirft mir von hinten ein zerknülltes Blatt Karo-Papier in den Schoß. Ein einzelner, eisig kalter Glassplitter bohrt sich durch mein kümmerliches Herz, als ich erkenne, was sie in großen, geschwungenen Buchstaben darauf geschrieben hat.

Für asoziales Emopack ist hier kein Platz mehr, Lif.

Impressum

Texte: Lynn Peter
Bildmaterialien: Mit freundlicher Genehmigung der Deviantarter ~PidgeStock und ~Stock-FioccoDiNeve
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2013

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /