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Verlorene Zeiten - Die Begegnung mit mir selbst



Ich mochte nie Geschichten über Zeitreisende. Ich hielt sie bereits als kleines Mädchen für unrealistisch und unglaubwürdig, ich beschäftigte mich stets lieber mit reellen Dingen.
Als ich älter wurde hielt sich diese Meinung, aber als ich vierzehn Jahre alt war, wünschte ich mir dennoch, eine Zeitreise unternehmen zu können. Noch einmal Kind sein erschien mir mehr als nur erstrebenswert, und ich versuchte es mit allen Mitteln.
Die zunehmende Weiblichkeit meines Körpers kämpfte ich durch die Verweigerung von Essen nieder und meine alten Spielsachen lagen ebenfalls allesamt noch in meinem Zimmer herum, von anderen Menschen hielt ich mich fern.
Dann, kurz vor meinem 15. Geburtstag, wurde ich für verrückt erklärt und in eine Psychiatrie eingewiesen. Ich hätte eine ungesunde Beziehung zu mir selbst, sagte man mir. Es sei nicht normal, dass ich mir absichtlich weh tat und überhaupt, sie wollen mir nur helfen.
Ich spielte nur bis zu einem gewissen Grad mit, meine Tabletten schluckte ich zwar, und auch untersuchen ließ ich mich, doch wenn es darum ging meine Umrisse auf ein Blatt zu zeichnen oder popelige Tonfigurinnen zu basteln verweigerte ich meinen Dienst.
Das Mädchen, das ich war bis ich sieben wurde, würde auch so nicht zurückkommen, war meine feste Meinung. Und alles andere war für mich nicht erstrebenswert.
Nachdem ich schließlich für dumm genug befunden wurde, wieder an dem Schulstoff teilzunehmen, ging ich zusammen mit mehreren anderen pubertären Wirrköpfen zu Professor Taylor.
Dieser war wohl der noch größere Wirrkopf als wir, und viele machten sich einen Spaß daraus, ihn zu verarschen, weil er immer schrecklich zerstreut war und einen grausamen britischen Akzent hatte.
Doch ich mochte ihn, nicht zuletzt, weil er in Geschichte derart viele Hintergrundinfos einbaute und alles so lebendig erzählte, als wäre er höchstpersönlich vor Ort gewesen und hätte Albert Einstein die Hand geschüttelt oder dergleichen. Außerdem schien er in praktisch jedem Fach gewisse Interessen zu haben.
Dann, am 12. Mai, meinem sechzehnten Geburtstag, wollte mich der gute Taylor nach der Stunde noch sprechen.
Ich persönlich dachte mir nichts dabei, ich vermutete, dass er die letzte Arbeit in Mathematik mit mir besprechen wollte, weil die wirklich miserabel gelaufen war. Ich dachte, dass er mich wieder fragen würde, ob er vielleicht etwas falsch erklärt hatte oder dergleichen. Dabei war es eigentlich allein meine Schuld, ich hatte einfach keine Nerven für die ganzen Binome.
Doch als ich ihm das erzählte, winkte er bloß ab.
„Das mit dem Test ist zwar wirklich sehr bedauerlich...“, machte er eine Schnute und schloss die Tür seines Unterrichtsraumes, „Aber das spielt jetzt keine Rolle. Wie du vielleicht bemerkt hast bist du sowas wie meine Lieblingsschülerin, nicht?“
Nein, das war mir neu. Und überhaupt: wollte der sich gerade an mich ranschmeißen? Oh mann.
„Auf jeden Fall möchte ich dir gerne was zeigen. Es ist eine grandiose Erfindung und ein kleines Geschenk für dich zugleich. Komm.“
Und schon steuerte er diesen IKEA-Billigschrank in der Ecke an. Ich folgte ihm, langsam, denn das Essen hatte ich heute wiedermal verschmäht. Ich hätte damals wirklich umkippen können.
Taylor wartete, ungeduldig mit dem Fuß wippend. Mann, machte mich das wahnsinnig. Es erinnerte mich an die Zeit, als ich hier eingezogen war. Der Tag, an dem ich meine sogenannte Mutter zum letzten Mal sah.
Sie und ich, wir saßen auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch des leitenden ‘Arztes’ hier. Wir hatten einen Termin, logisch, und meine ganzen Koffer lagen verstreut um die Stühle herum. Das Licht blendete schrecklich, und der Typ tauchte einfach nicht auf. Mutter hatte damals genau so gewippt. Und auch ständig so schrecklich ungeduldig aufgestöhnt, so als gäbe es eine million Dinge, die sie lieber getan hätte, als hier mit ihrer peinlichen Versagertochter zu sitzen. Nicht ein Wort sagte sie damals zu mir, nichteinmal ein unfreundliches. Sie hatte mich einfach aus ihrem Leben ausradiert.
Aber nun war es Professor Taylor, der wartete, und den mochte ich, irgendwie. Also widerstand ich dem Drang, kehrt zu machen und aus dem Zimmer zu stürmen und stellte mich stattdessen neben ihn.
„Nun denn“, räusper räusper, wie es sich für einen Professoren gehörte, „Was ich dir hier zeige ist ein wahres Wunderwerk, und das sage ich dir nicht einfach so. Es ist eventuell das einzige funktionierende Modell auf unserer Erde, und es würde die Gesetze der Logik für immer umschreiben, falls man es berühmt machen sollte.“
„Es... ist ein Billigschrank.“
Wie ihn das amüsierte. Seine roten Haaren wippten richtig auf seinem Kopf, sosehr lachte er. „Annie, wann wirst du wohl endlich lernen, dass sich hinter einer Fassade so viel mehr befinden kann, als du zunächst glauben magst?“
Er verwendete immer als einziger Mensch auf dem Planeten meinen Spitznamen, was mich nachwievor irritierte. Immerhin war er ein Lehrer, und Lehrer hatten in meinen Augen streng, berechnend und spießig zu sein, Leute, die ihr Leben damit verbrachten, Fehler anderer Leute zu suchen und sich dennoch blind zu stellen, sobald es ernst wurde.
Auf jeden Fall, Lehrer waren Arschgeigen, und so war Taylor für mich immer ein Professor gewesen, nicht nur wegen seinem Titel. Wenn er hundert Jahre älter gewesen wäre hätte er glatt als Einstein-Double durchgehen können. Ohne besondere Verkleidung.
Aber immer wenn er etwas sagte oder tat, was ein Lehrer normalerweise nicht tat, was nahezu immer der Fall war, fühlte ich mich dennoch unbehaglich, als wäre entweder er oder ich, oder auch wir beide, fehl am Platze.
„Annie?“
„Hmm?“ - verdammt. Ich war schon wieder abgeschweift.
„Mach ihn auf. Den Schrank.“
Ich weiß noch immer nicht, was ich erwartete, vielleicht ein neues iPhone, ein eBook Reader oder dergleichen. Auf jeden Fall nicht das, was ich zu sehen bekam, als ich den Schrank zögern aufzog.
Wer hätte denn schon damit gerechnet, einen laienhaft zusammengebastelter Apparat zu erblicken, der ein wenig aussah wie der Innenausbau der der Ufos in den ersten Science-Fiction Verfilmungen, ausgekleidet mit einer Art Alufolie und lauter verbeultem Blech?
Mitten im Schrank befanden sich außerdem noch ein kleiner Hocker, ebenfalls IKEA, ich erinnerte mich dumpf daran, dass Dad das selbe Modell einkaufte, als er ausziehen musste, und einen mit Isolierband an die Tür angebrachten Kasten mit Schaltern und Drehknöpfen.
„Da staunst du, was?“, fragte mich Taylor, als mein Schweigen bereits einen Tick zu lange dauerte.
„Mhm“, machte ich nur.
„Ich wette, du hast heute Morgen noch gar nicht an sowas geglaubt, was?“, fuhr er unbeirrt fort und stieg tatsächlich in den Schrank hinein. Dann drehte er sich um (wobei er sich den Kopf an einer Kante aufschlug) und winkte mich mit einer Hand ebenfalls hinein.
Langsam hatte ich fast Mitleid mit ihm, denn entweder war er geistig nicht mehr ganz klar, oder aber er war so vollkommen klar, dass das, was er mir da zeigte und offensichtlich zu erklären versuchte, meinen Horizont um einige Meilen überstieg.
„Entschuldigen sie bitte, aber... wofür stand gerade ‘sowas’?“, fragte ich schließlich.
Mit gerunzelter Stirn sah mich Taylor an, bis er sagte: „Na, Zeitreisen.“
Oh, na klar, Zeitreisen. Hätte ich ja gleich draufkommen können, dachte ich zynisch, kletterte aber dennoch zum Professor in den Schrank. Denn selbst falls er nur herumspann, so versprach die Sache doch interessant zu werden. Und da ich ansonsten eh nichts zu tun hatte...
„Funktioniert die tatsächlich, also ich meine, haben sie sie schon ausprobiert?“
„Oh“, antwortete er und ein verklärter Blick trat in seine Augen, „Oh ja, das habe ich. Einstein habe ich gesehen, Leonardo da Vinci... viele interessante und höchst inspirierende Persönlichkeiten.“
Dann war meine Vermutung bezüglich des Geschichtsunterrichtes ja nichteinmal so abwegig, also zumindest wenn Taylor nicht kompletten Müll von sich gab. Und aus irgendeinem Grund glaubte ich ihm, mehr noch, ich hoffte fast, dass das wahr war, denn...
„Haben sie sich selbst auch einmal besucht?“, fragte ich weiter. So viel wie in der letzten halben Stunde hatte ich bestimmt schon seit mehreren Ewigkeiten nicht mehr gesprochen und gefragt. Wenigstens wusste ich nun, wie sich ein altes angerostetes Fahrrad fühlen musste, wenn es nach Jahren der Verwahrlosung wieder ans Tageslicht geschoben wurde. Befreit, aber noch nicht wieder völlig auf ‘m Damm.
„Nein! Eine Begegnung mit einer deiner früheren Entwicklungsstufen ist wahnsinnig riskant! Stell dir doch nur mal vor, du würdest auf einmal deinem Zukunfts-Ich gegenüberstehen...“
Dann nuschelte Taylor noch weiter, aber ich verstand ihn nicht mehr. Er war richtig in Rage und begann sich die Haare zu raufen. Er jagte mir eine Heidenangst ein, er wirkte wie Johnny Depp in seiner Rolle als Hutmacher.
„Taylor - Professor?“
Er verstummte, sah mich an und lächelte scheu. „Annie - sich selbst zu begegnen ist selten angenehm, besonders wenn man nicht versteht, wie man sich selbst begegnen kann, was bei Vergangenheits-Ich’s ziemlich sicher der Fall wäre. Es könnte zu Unfällen und nicht zuletzt zu großen Veränderungen deines jetzigen Ich’s kommen.“
Ich war ziemlich enttäuscht, aber ich fragte trotzdem weiter: „Was für Veränderungen?“
„Naja, es könnte durchaus passieren, dass deine Ganze Seele sich komplett umwandelt und du verschwinden würdest, um einem anderen Zukunfts-Ich Platz zu machen... Zeiteisen sind sehr komplex, weißst du?“
Langsam begriff ich. Und fasste einen Entschluss. „Darf... darf ich eventuell eine Reise unternehmen?“, fragte ich, wohl bewusst, dass dies eine ziemlich grosse Bitte war.
Auf Taylors Gesicht erschienen sofort unzählige Sorgenfalten, und er fuhr sich langsam mit beiden Händen durch das Gesicht.
„Himmel, was hab ich da schon wieder angerichtet...“, hörte ich ihn leise murmeln.
„Bitte, Professor!“, versuchte ich es nochmals, „Nur dieses eine Mal...“
„Du würdest nie zurückkehren!“, rief er aus, „Ist dir diese Sache das wirklich wert?!“
„Ja. Ja, das ist sie mir... ich muss mir selbst einiges über mich verraten. Bitte!“, ich flehte ihn schon förmlich an, und ich schwöre, es hätte nicht mehr viel gefehlt, und ich wäre vor ihm auf die Knie gefallen.

Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 07.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke für die Stockimages, welche ich für das Cover verwendete, an: Deviantarter Falln-Stock für das bezaubernde Mädchen Deviantarter Lausanne für das tolle Bild des Waldes www.officialPSDS.com Mitglied Static für die Zahnräder Deviantarter madetobeunique für die schnell zu bearbeitenden Schmetterlinge und auch an www.pixelio.de Mitglied Micha Beierl für den blauen Schimmer

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