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Prolog



In dünnen, krummen Linien fließt es über meinen nassen Oberschenkel, ein wenig wie rote Düsenstreifen am Horizont. Ich lasse es zu, koste ein wenig von diesem Augenblick der Stille, ehe ich den Duschkopf auf meinen rechten Beckenknochen richte und mein Blut mitsamt meinen Visionen den Abfluss hinunterspüle. Ich steige aus der Dusche und werfe einen raschen Blick in den Spiegel. Erschreckend wie immer. Schnell ziehe ich mir was über, entferne die Reste meines Make-ups aus dem Gesicht und wende diesem verdammten Ding den Rücken zu.
Das leichte Ziepen der vier zarten Linien gibt mir bei jedem Schritt das Gefühl von unglaublicher Stärke, und ja, auch so was wie das Gefühl der Macht.

Kapitel 1



Wie eine Schar hungriger Wölfe lauern sie vor dem Schulgebäude auf mich, immer bereit anzugreifen, immer auf der Suche nach der einfachsten Beute.
Immer auf der Suche nach Leuten wie mir.
Ich schleiche mich an ihnen vorbei, möglichst unauffällig. Weit abseits aller anderen Schülern presse ich mich dann eng an eine der sandfarbenen, quaderförmigen Säulen des riesigen Gebäudes und hoffe, dass die Klingel mich aus meiner Starre löst, ehe es ein anderer tut. Doch heute geht alles gut, es scheint fast, als wolle mir das Schicksal ein kleines Geschenk zu Beginn des neuen Schuljahres machen, keiner spricht mich an oder registriert mich.
Der erlösende, schrille Klang ertönt, und ich marschiere auf das Schulgebäude zu. Ich höre andere lachen, vielleicht über mich. Ganz sicher über mich.
Ich betrete die Eingangshalle, und brütende Hitze wabert mir entgegen, vermischt mit dem Geruch von Schweiß und verbrauchter Luft. Ich flüchte schnellstmöglich in mein Klassenzimmer, dessen Türe direkt in die große Halle mündet. Auch dort ist es heiß, aber der Gestank ist auszuhalten. Hier verpestet etwas ganz anderes die Luft. Sie.


Wie eine Königin thront sie auf dem hintersten Platz direkt neben den Fenstern, umringt von jener Schar dumpfbackiger Bewunderinnen und Verehrern, welche sie sich in all den Jahren angesammelt hat. Sogar die Sonne scheint unterdessen ihren Fokus auf sie gerichtet zu haben, ihr Platz wird durchflutet von hellem, goldgelben Licht. In ihrer Welt gibt es keine Dunkelheit, die ihr weh tun will, keine Angst, die sie zerfrißt. Nur Sonne, Sonne, Sonne.
Wie ich sie hasse.
Sie hat meinen Blick gespürt und sieht mich an, der Lehrer ist noch nicht hier. Ich schaue schnell weg, doch sie nutzt die Chance auf ein leichtes Fressen dennoch, macht alle anwesenden Mitglieder ihres Rudels auf mich aufmerksam.
Sie beginnen mit dem Umkreisen, einem ihrer Lieblingsspiele.
„Lif?“
Nein.
„Lifilein?“ Verhaltenes Kichern aus irgendeiner Ecke. Ich schaue sie nun doch an, mit ausdruckslosem Gesicht und einer angespannten Körperhaltung. Sie scheint zu lächeln, aber auf mich wirkt es, als würde sie ihre kaugummiweißen Zähne blecken.
„Ich warte immer noch auf deinen ärztlichen Attest, weißt du?“ Ihre naiv verstellte Stimme, dieser ahnungslose Blick in ihren Augen. Meine eigene Angst.
Die Augen ihrer Bewunderinnen huschen hin und her, als würden sie einen Ballwechsel bei einem Tennisspiel verfolgen. Immer gespannt, wer dem anderen den Ball in die Fresse schmettert, wer dieses Spiel gewinnt. So, als wäre das nicht längst schon entschieden.
Ich zucke mit den Achseln. Werde rot. Presse mit drei Fingern durch meine Jeans hindurch auf die frischen Schnitte, die sich über meinen Beckenknochen erstrecken. Wünsche, sie wären zahlreicher. Wünsche, sie wären tiefer. Wünsche, ich wäre an ihnen verreckt.
„Ich habe keinen“, murmele ich. Meine Stimme quietscht unnatürlich, sie scheint nicht mehr die Meine zu sein. Wieder ein Kichern. Ich versuche mich möglichst unauffällig zu räuspern, doch meine Stimme versagt ihren Dienst weiterhin.
Sie umkreisen mich immer enger.
„Du warst aber eine ganze Woche lang nicht in der Schule.“
Dieser Blick macht mich krank.
Unser Lehrer betritt die Klasse. Ich setze mich auf den vordersten Platz an der Schrankseite. Der Stuhl an meiner Seite ist und bleibt leer.
Ein Mädchen, Charlice heißt es, wirft mir von hinten ein zerknülltes kariertes Blatt Papier in den Schoß. Ein einzelner, eisig kalter Glassplitter bohrt sich durch mein kümmerliches Herz, als ich erkenne, was sie in großen, geschwungenen Buchstaben darauf geschrieben hat.
Für asoziales Emopack ist hier kein Platz mehr, Lif.


Ich sollte wirklich öfter zu Hause bleiben.

Kapitel 2



Sie sieht es nicht gerne wenn ich alleine bin, ich verpasse ihrer rosa Zuckerwattenbilderbuchwelt damit Tag für Tag ein hässliches Eselsohr. Auch jetzt sieht sie argwöhnisch zu mir herüber, während ich an meiner Lieblingssäule lehne und meinen Hunger mit einem Wassermelonenkaugummi zu vertreiben versuche.
Ich könnte das Salami Sandwich aus meiner Tasche holen. Nur einmal abbeißen. Oder zweimal. Dreimal. Viermal. Fünfmalsechsmalsiebenmal...
Nein.

Die 300 Kalorien kann ich mir sparen. Ich habe eigentlich gar keinen Hunger. Ich habe keinen Hunger... Jede einzelne Kalorie würde meine Fettzellen aufblasen wie eine Million von Luftballons. Ich werde fett werden, nie einen Job finden, nie geliebt werden, nie normal sein. Ich. Habe. Keinen. Hunger.
Mein Kopf wird schwer, meine Arme und Beine ebenfalls, ich bin ein menschlicher Schwamm der sich nach und nach mit Wasser vollsaugt. Vor meinen Augen erscheint ein hübsches Muster, schwarz mit goldbraunen Quadraten, angeordnet wie Bienenwaben.
Nicht ohnmächtig werden. Nicht hier, auf dem Schulhof. Nicht ausgerechnet jetzt, in den letzten Minuten der Mittagspause. Nicht jetzt, da sich der rechteckige Platz langsam wieder mit Schülern füllt.
Ich kämpfe bestmöglich gegen den Schwindelanfall an, versuche die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen. Meine Beine zittern wie verrückt. Meine Arme auch.
In den nächsten beiden Schulstunden sitze ich stumm da, versuche meinen Stift still zu halten und hoffe, dass mich mein Lehrer nicht zur Wandtafel ruft.
Sie schaut während der ganzen Zeit immer und immer wieder zu mir herüber.
Ich fürchte mich vor ihr.

Hier bin ich nun, an dem Ort, den ich seit jeher mein Zuhause nenne, ohne mich je gefragt zu haben, ob er diesen Titel auch wirklich verdient. Es scheint noch niemand da zu sein, weder meine große Schwester, noch meine Mutter, noch deren ‘Lover’.
Ich blicke auf die große, viel zu laut tickende Uhr in der Küche. Kurz nach halb sechs.
Ich gehe ins Badezimmer, ziehe mich aus und stelle mich auf die Waage. 44.6 Kilo. Über 200 Gramm schwerer als gestern. Noch 7.7 Kilo von meinem Ziel entfernt.
Versagerin.


Ich meide den Blick in den Spiegel, steige unter die Dusche und drehe das Wasser auf, lasse das warme Nass über meinen nackten Körper laufen. Nachdem ich fertig geduscht habe, setze ich mich noch einen Moment lang hin, nehme meinen Rasierer zur Hand. Ein kurzer Schmerz, ein paar Tropfen Blut. Klingen reinigen. Mich abtrocknen, mich anziehen. Dann trete ich den Rückzug in mein Zimmer an.
Ich ziehe ein Buch aus meinem Bücherregal und verkrieche mich damit in mein Bett.
Ich liebe es zu lesen, man versinkt dabei Stück für Stück in den Traum eines Anderen. Was einem immer sehr willkommen ist, wenn man selbst keine Träume mehr hat. Wenn einem die Eigenen gestohlen wurden.
Nach einer Stunde kommt meine Mutter ins Zimmer. Fragt, ob ich gegessen habe. Ich lüge, sie ist beruhigt. Nach drei Stunden höre ich sie mit ihrem Lover streiten, wegen was auch immer. Nach vier Stunden machen meine Augen nicht mehr mit, ich gebe auf. Ich habe Kopfschmerzen. Ich mache mich Bettfertig.
Ich will schlafen, bin müde, doch mein Hirn arbeitet weiter, als müsse es vor dem einschlafen noch etwas Ballast abwerfen. Erinnerungen überfluten in der Form von Tränen mein Gesicht.
Vom Einschläfern meines ersten Kaninchens, über die Scheidung meiner Eltern vor sieben Jahren, bis hin zu dem Kampf mit ihr, all das schwirrt in meinem Kopf herum wie ein Schwarm heimatloser Honigbienen.
Und das seit Jahren. Ob die Bienen wohl niemals müde werden?

Kapitel 3



In meinem nächsten Leben werde ich ein Regenwurm sein. Ich werde unterirdische Tunnel graben, unsichtbar für alle Menschen und anderen Probleme, und nur in den dringensten Notfällen ans Tageslicht kommen, nämlich dann, wenn sich mein Reich mit Regenwasser füllt. Bei einem ebensolchen Regenguss werde ich dann irgendwann einem Vogel zum Opfer fallen, der mich mitsamt meinen Eingeweiden und meinem mit Kacke gefüllten Darm hinunterschlingt.
Momentan ist es ja nicht viel anders. Nur dass der erste Teil mit dem unsichtbar sein nie wirklich geklappt hat, und dass der dämliche Vogel nun schon seit Jahren auf mir herumkaut ohne mich runterzukriegen, geschweige denn mich zu töten. Ich bin aber auch ein wirklich fetter Wurm.

Nächste Woche kommt eine Neue in unsere Klasse. Sie heisst Esmee, hat rote Haare und grüne Augen, zumindest soweit man das auf dem leicht verschwommenen Foto erkennen kann, das unser Lehrer uns von ihr zeigt. Damit wir sie schon vor dem Unterricht herzlichst in Empfang nehmen können, erklärt er uns.
Ha, ha, ha.


Ehe Esmee auch nur einen Atemzug auf dem Schulgelände machen kann, wird sie sich auf sie stürzen und damit schonmal demonstrieren, wer hier der Leitwolf ist. Dann wird sie mit einem Finger auf mich deuten und Esmee erklären, dass ich ein Emo bin und wird ihr alle Verschwörungtheorien rund um mein Leben erläutern, ehe sie Esmee in ihrem Rudel willkommen heißen wird. Und ich werde tatenlos zusehen müssen, wie sie immer weiter auf mir herumhackt, mich immer weiter wegstößt, von der Sonne, von der Zukunft, von meinem Leben.
Aber Hauptsache, du kriegst deinen herzlichen Empfang, Esmee...
Nicht, dass ich was gegen dieses Mädchen hätte, nein. Aber es schmerzt mich zu sehen, was ich mir alles stehle, Tag für Tag. Nur durch meine Feigheit, mich nicht gegen sie zu wehren, sondern mich zu verstecken. Mich zu verstecken hinter dunklem Make-up, roten Schnitten und schlabbernder Kleidung. Nie werde ich eine Freundin wie Esmee haben dürfen, mit der ich ins Kino gehen kann, Eis essen oder, wenn es denn sein muss, auch Bowlen gehen könnte.
Dieser Gedanke macht mich traurig, ganz egal, wie oft er mir schon in ähnlichem Zusammenhang aufkam. Die Zeit hat ihm nichts von seiner Schrecklichkeit genommen.
Bevor ich allerdings die Gelegenheit habe, noch weiter ins Grübeln zu geraten, und mich somit gefährlich nahe dem Pfad der Tränen zu nähern, schreckt mich mein Lehrer aus meinen Gedanken.
„Lif, tu le connais?“
Was? Verdammt.
Ich bin ohnehin keine Leuchte in Französisch. Und wenn die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse auf mir liegt, kriege ich ohnehin nichts auf die Reihe. Nicht einmal in Deutsch, meinem stärksten Gebiet.
„Ja... ähem... nein, non“, stottere ich, wieder einmal mit meiner Stimme kämpfend.
Die Klasse findet sowas natürlich sehr amüsant, besonders, oder eigentlich ausschließlich, wenn ich mich dabei in Grund und Boden schäme.
Mein Lehrer versucht wieder Ruhe in die kichernde und flüsternde Klasse zu bringen, und setzt den Unterricht fort, ohne mich noch einmal eines Blickes oder einer Frage zu würdigen. Und, ehrlich gesagt: ich bin ihm verdammt dankbar dafür, auch wenn ich die Beurteilung meiner mündlichen Beteiligung in dem nächsten Zeugnis besser nicht sehen will.
Die letzten Minuten bis zur zehn-Uhr-Pause ziehen dahin. Ich bin mir unschlüssig, ob ich das begrüßen soll, oder ob ich nicht lieber noch eine weitere Stunde Stumm auf meinem Platz sitzen würde, allerdings mit der Angst, jeden Moment wieder angesprochen zu werden. Diese Angst muss ich aber auch in der Pause haben, auch wenn ich mich notfalls auf dem Klo verstecken könnte.
Rrring!


Naja, die Pause ist ja jetzt da. Alle strömen aus dem Raum, lachend, schwatzend, oder einfach nur einträchtig nebeneinander hergehend.
Schätze, es wird nun von mir Verlangt, dass ich das Feld räume.
Das Klo wäre gar keine so schlechte Option.

Kapitel 4



Die nächsten Tage kommen und gehen, ich esse, hungere, weine und verkrieche mich, nehme 500 Gramm ab und lege wieder 300 Gramm zu, kurzum: der Alltag kehrt wieder ein.
Würde man ein Buch über mein Leben schreiben, würde es selbst der größte Bücherfreak nach wenigen Seiten angewidert zur Seite legen. Es wäre ungefähr so vielseitig wie eine Fläche grauer Farbe und nicht viel fesselnder als ein zehnseitiger Mathe-Überraschungstest. Nur, dass bei mir keine zum verrecken schwere Formeln zu lösen wären, sondern sich nur unzählige widerliche, von Selbstmitleid triefende Wörter eines verschüchterten 14jährigen Mädchens auf dem Papier kringeln würden.
Unterdessen ist es also Freitagmorgen, das Wochenende steht vor der Tür.
Alle in meiner Klasse haben grosse Pläne für die schulfreien Tage, wollen shoppen gehen, ins Kino, oder auch einfach nur einen netten Beauty-Abend mit Freundinnen verbringen.
Ich weiss ebenfalls bereits, was ich unternehmen werde. Abnehmen, mindestens ein Kilo bis Montag. Und natürlich lesen. Mein Lieblingsbuch wartet auf mich. Schneeengel. Das wird bestimmt super. Der hammer, echt.
Ach verdammt.

In der Mittagspause gehe ich wie immer nicht nach Hause. Stattdessen schnappe ich mir meine Schultasche und gehe zu dem nahe gelegenen See, wo ich mich auf das letzte freie Stück Schatten plumpsen lasse, das auf der großen Wiese noch zu finden ist. Dann fange ich an, mein Mittagessen an Spatzen, Tauben, Enten, und, gezwungenermaßen, auch an Schwäne zu verfüttern. Mir selbst stehen der Salat und einige Tomatenscheiben meines Sandwiches zu. An dem Schinken frisst sich der Mülleimer satt.
Ein Eiswagen kommt nur wenige Meter entfernt hinter mir auf der holprigen Strasse zum stehen, ich höre das Quietschen der Bremsen.
Klingeling!, klingeling!,

versucht mich der Wagen zu locken.
Wie von der Tarantel gestochen stehe ich auf, wobei ich alle meine gefiederten Freunde aufscheuche und in verschiedene Richtungen zum davonfliegen oder -rennen bringe.
Ich renne ebenfalls, egal wohin, einfach nur weg, weg, weg. Weil ich Essen hasse. Ich hasse Essen. Ich hasse es. Hasse, hasse, hasse es.
Nach einigen hundert Metern lehne ich mich schwer atmend gegen einen Laternenpfahl. Meine Beine zittern, aber das kenne ich ja schon. Einen Moment lang hinsetzen, dann geht das auch schon wieder. Nur mal kurz Akku aufladen.
So lasse ich mich also langsam an dem gewölbten Metall hinuntergleiten, bis mein fetter Arsch nur noch eine Fußsohle vom Boden entfernt ist. Augen schließen.
Ich spüre meinen eigenen Herzschlag, unregelmäßig und so heftig, dass er meinen ganzen Körper erschüttert.
„Jetzt ist aber langsam Schluss mit lustig“, murmele ich leise, nachdem ich gefühlte zehn Minuten vergebens versucht habe, wieder halt auf meinen Beinen zu finden. Panik steigt in mir auf. Was, wenn ich nicht rechtzeitig in die Schule komme. Wenn mich jemand hier findet und meine Mutter anruft? Wenn ich eine Infusion in den Arm gespritzt bekomme. Wenn sie mich mästen?
Langsam ziehe ich mich mit meinen beiden schwammartigen Armen an dem Pfahl nach oben. Ich glaube, irgendwer hat seine Hände auf meine Schläfen gelegt und hat nun Freude daran, seine Kräfte an meinem Kopf zu messen.
Und wer auch immer es ist, eines ist klar: er ist hundertprozentig Bodybuilder.
Zur Schule kann ich so auf gar keinen Fall. Das stehe ich nicht durch.
Also torkele ich stattdessen wie eine betrunkene durch enge Gassen, über breite Strassen und schließlich durch unsere Türe. In meinem Zimmer angekommen drehe ich Placebo’s ‘Pierrot the Clown’ voll auf und versinke in melancholischem Gesang, psychedelischer Musik und düsteren Texten.
Weinen muss ich ausnahmsweise aber nicht, dazu bin ich zu erschöpft.
Ha, vonwegen Emo!


Kapitel 5



Da meine Mutter ebenfalls früher als erwartet nach Hause kommt, muss ich ihr natürlich erklären, wieso dass ich ebenfalls so früh nach Hause gegangen bin.
Ich erfinde spontan einen Weiterbildungsnachmittag der Lehrer. Kein Wort der Wahrheit rutscht mir über die Lippen.
Wieso denn auch? Mutter kennt mich nicht, sie weiss nichts über mich.
Ich saß vor einiger Zeit einmal in einem Zug dicht an einem Mann, der offensichtlich unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung litt. Er hatte während der ganzen Fahrt verzweifelt versucht, einem seiner anderen Ich’s zu erklären, dass er sich mit einem weiteren anderen Ich zwar eine Wohnung, eine Küche, usw. teilte, aber trotzdem nicht richtig mit ihm zusammenwohnte.
So ähnlich lässt sich auch mein Verhältnis zu meiner Mutter beschreiben: wir teilen uns ein Haus, eine Waschmaschine, ein Telefon: und doch wohnen wir in verschiedenen Welten, manchmal gar in unterschiedlichen Galaxien.
Das Schlimme ist nur, dass sie von ihrer Galaxie in meine hineinspitzeln kann. Wie zum Beispiel beim Essen.
Solange ich gemeinsam mit ihr am Tisch sitze, kann ich meinen Diätplan nicht konsequent verfolgen. Ich muss mir mindestens einmal eine ca. faustgroße Portion von dem Wasauchimmer, welches meine Mutter wenig liebevoll zubereitet hat, auftun.
Plus Cola mit echtem Zucker.
Plus Nachtisch.
So auch heute. Meine Schwester und der Ersatzmann sind noch arbeiten, so habe ich erst recht die volle Aufmerksamkeit von Mutter.
Eine Zeit lang ist nichts zu hören als das schaben der Messer auf den Tellern und dem Geräusch unseres Kauen. Es herrscht kein angenehmes Schweigen.
Gerade holt sie den Nachtisch aus dem Kühlschrank. Schokomousse. Sie nimmt sich selbst nichts, pappt aber einen extra großen Löffel in mein Glasschälchen. Dann reicht sie mir einen Teelöffel und setzt sich wieder mir gegenüber an den runden Glastisch. Ich hasse diesen Tisch.
Mutter schaut mich fordernd an, und auch eine gehörige Portion Misstrauen liegt in ihrem Blick.
Ein Löffel.
Fette Sau, Loser, Miststück, Emo!,

brüllt eine Stimme irgendwo in meiner rechten Gehirnhälfte.
Zwei Löffel.
Du hässliche fette Schlampe, du kriegst doch nie einen ab, kein Wunder will niemand mit dir befreundet sein!


„Lif?“
„Hm?“, frage ich, und hoffe, dass sie nichts sagt. Nichts von Ärzten, Essen oder Therapien.
„Wir müssen reden.“
Wieso? Wir haben es die letzten 14 Jahre auch ohne große Worte geschafft.
„Es ist nichts ernstes, keine Sorge“, lächelt sie ihr typisches falsches Mutterlächeln, „Aber ich schätze, du und deine Schwester werdet bald ein Brüderchen oder ein Schwesterchen bekommen.“
Ein Scherz. Ganz klar. Aber damit sie gar nicht erst auf den Gedanken kommt, doch noch Realität daraus zu machen, stelle ich ihr ersteinmal ganz sachlich die Lage dar.
„Wenn ihr das macht, ziehe ich aus!“, grinse ich tückisch, gebe mich cool, wie immer.
„Lif, das war mein Ernst.“
Ich springe auf, renne in mein Zimmer, Tür zu. Und nun?
Ich gehe hinüber zu meinem Schreibtisch und setze mich auf den schwarzen IKEA-Drehstuhl aus billigem Lederimitat. Rolle auf meinen Ganzkörperspiegel zu, bis das vorderste Rad des Stuhles gegen die Wand stößt. Schaue mich an.
Nichts ernstes,

hallt die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf noch immer. Nichts ernstes, nichts ernstes, nichts ernstes.


Wie hat sie das nur sagen können? Wenn das nichts ernstes ist, was dann?
Babys sind hässlich, Babys stinken, Babys sind im Weg.
Meine Mutter kommt ja noch nicht einmal mit zwei Töchtern klar, aber jetzt noch ein plärrendes, kreischendes Etwas? Von ihrem neuen Typ?
Ich fange an zu weinen, lautlos, wie immer. Aber mit lauter salziger, bitterer Tränen, die mir wie Stumme Botschafter des Schmerzes in mir über die Wangen rinnen.

Kapitel 6



An manchen Tagen folgen mir die Schatten wie eine düstere Leibgarde. Überall hin.
Besonders an Wochenenden.
Besonders an Wochenenden, an denen ich was besonderes zu verdauen habe.
Mutter hat mich den ganzen gestrigen Abend in Ruhe gelassen. Vermutlich war meine Reaktion nicht sehr überraschend für sie.
Wieso sollte es? Sie kennt ihre ‘schwierige Tochter’ ja nicht anders. Bockig, zickig und unvernünftig. Vermutlich heult sie sich trotzdem gerade bei meiner Schwester aus. Oder bei ihrem Supertyp.
Die böse, böse Lif, die die ganze Vorfreude kaputt macht, die ja so unfair ist, die einfach nicht dazu gehört.
Das würde zwar niemals jemand aussprechen, aber denken, denken tun es alle. Sogar ich selbst.

Obwohl ich schon seit acht wach bin, verlasse ich mein Zimmer erst um zwölf Uhr. Zu groß sind der Groll und die Enttäuschung in mir. Ich fühle mich verraten, von meiner eigenen Mutter.
Ich hatte immer gehofft, dass sie und mein Dad sich vielleicht irgendwann wieder vertragen, dass ich ihn wieder sehen darf, dass er vielleicht sogar wieder hier einzieht. Doch das Baby hat diese Hoffnung wohl ein für alle mal zerstört.
Ich tapse in die Küche und mache mir einen Tee. Bratapfel. Oder doch besser Schwarztee? Nein, Bratapfel.
Gerade als ich den Knopf auf dem Wasserkocher drücke, der das Gerät in gang setzt, betritt der Lover meiner Mutter die Küche.
„Morgen.“
Pisser.
Schweigend gehe ich zum Küchenschrank und nehme mir sechs Würfelzucker aus dem Tonschälchen, das sich darin befindet, und nehme mir zudem meine Lieblingstasse zur Hand. Dann gehe ich wieder zum Wasserkocher hinüber.
„Weisst du, deine Reaktion gestern war nicht gerade die feine englische Art, das weisst du doch?“
Auf der Tasse sind Bilder von tropischen Vögeln und einem Tiger.
„Du könntest manchmal ruhig etwas mehr Rücksicht auf die Gefühle anderer nehmen.“
An der einen Stelle ist die Farbe ein wenig abgekratzt, der Tukan besitzt jetzt nur noch einen halben Schnabel.
Er seufzt. „Ach Lif, mach es uns doch nicht immer so verdammt schwer.“
Das immer lauter werdende Geräusch des Wasserkochers sagt mir, dass ich den Teebeutel jetzt auch besser in die Tasse legen würde und das Wasser bereit zum hineingießen ist.
Sobald ich das tue, verbreitet sich der aromatische Duft des Tees in der ganzen Küche und klammert sich in meiner Nase fest.
Frühstück ist fertig.
Ich nehme die Tasse in beide Hände, obwohl, oder vielleicht gerade weil sie derart heiß ist, dass ich mir beide Handflächen verbrenne.
Dann verlasse ich die Küche, dieses ewige Schlachtfeld der Gefühle.
Ich höre noch wie er sich auf einen der Stühle sinken lässt, höre die Stuhlbeine über den Fliesenboden quietschen, ehe meine Zimmertür hinter mir ins Schloss fällt.
Soso. Mutter hat sich also bei ihrem Typ ausgeweint.
Obwohl ich den Tee nur in ganz kleinen Schlucken trinke, verbrenne ich mir nun zusätzlich auch noch die Zunge.
Es ist ein Schmerz, den ich jetzt brauche, um nicht völlig durchzudrehen, doch vermutlich wäre es für alle besser, wenn mein ganzer Körper stattdessen auf der Stelle in Flammen aufgehen würde, bis nichts als ein von Brandblasenbedeckten Leib übrig bliebe.
Mit wasserfesten Stiften verhelfe ich dem Tassen-Tukan zu einem neuen Mundwerk.

Kapitel 7



Zum Abendessen gibt es Spaghetti mit Fertigsoße.
Auf meinem Teller liegt zum ersten mal seit die Ferien vorbei sind wieder eine leuchtend pinke Tablette, die ein bisschen aussieht wie ein kleiner Smartie.
Lasst diese scheiß Eisentabletten doch einfach und gebt mir besser Antidepressiva, dasselbe, das ihr auch schon in meine Schwester hineingepumpt habt. Diese kleinen, Appetit hemmenden Wundertictacs, die einem einen dürren, harten Knochenkäfig schenken, einen schön machen, hätte ich am liebsten gesagt. Doch stattdessen nehme ich meinen pinken Smartie zwischen zwei Finger, nehme einen Schluck Wasser aus meinem Glas und stecke ihn mir in den Mund. Einmal schlucken, fertig.
Mit den Spaghetti werde ich nicht so einfach fertig. Als ich eine Gabel von ihnen nehme und in meinen Mund führe, wickeln sie sich wie kleine Würgeschlangen um mein Halszäpfchen, fest entschlossen, sich nicht in meine Speiseröhre zu bewegen.
Ich will euch doch auch gar nicht da drin haben, verdammt! Aber ich muss.
Meine Schwester isst heute auch wieder einmal mit uns. Seit sie arbeitet, sehe ich sie noch kaum. Ich bin mir nicht sicher, ob sie vor mir flüchtet oder vor dem, wovor ich auch gerne flüchten würde, aber nicht kann.
Die hinterlistigen Spaghetti verwandeln sich von Schlangen in alte Tapeten, die sich müde von meinem Würgereizerreger abschälen und in meinen Magen wandern. Sofort zwingt mich irgendwas in meinem Körper, mir eine weitere, um einiges größere Gabel voll in den Mund zu stecken, zu kauen, zu schlucken, und nochmals und nochmals, während mein Hirn bei jedem einzelnen Bissen Kalorienzahlen und üble Verwünschungen gegen mich ausspuckt.
Ich esse, esse, esse, und esse.
Niemandem fällt es auf. Mutter würdigt mich keines Blickes, vermutlich ist das ihre Art, mich zu strafen. Vielleicht sollte ich mich öfters ‘böse’ benehmen. Ihrem Lover ist sowieso egal was ich mache, ausser es geht dabei was kaputt oder meine Mutter reklamiert bei ihm. Und meine Schwester... meine Schwester geht das alles hier nichts mehr an. Die Glückliche.
Als mein Magen sich mit einem unangenehmen Ziehen meldet, komme ich wieder zu mir. Mir ist schlecht vor lauter Spaghetti. Dumme Spaghetti. Dumme Lif.
Sobald ich beginne zu überlegen, wieviele Kalorien das nun waren, und vor allem, wieviel Fett, bekomme ich abermals Panik.
Ich springe so heftig auf, dass mein Stuhl mindestens einen Meter über den glatten Fliesenboden der Küche schlittert. Alle starren mich an, als wären mir soeben zwei grüne Antennen aus dem Kopf geschossen. Ich drehe mich auf der Stelle um und renne in mein Zimmer, hole mir Trainerhose und Longsleeve plus frische Unterwäsche und stürme in das Bad.
Die Türe knallt zeitgleich zu, wie mein Damm bricht. Ich lasse mich auf den Boden gleiten und heule.
Mir kommen wieder die Stimmen der kleinen Kinder in den Sinn, an denen ich einmal auf dem Weg zur Schule vorbeigelaufen bin.
„Hey, wie nennt man einen schwimmenden Emo? Heulboje, Heulboje, Heulboje!“
Sie hatten recht. Ich bin eine Heulboje.
Ich fange an mein T-Shirt auszuziehen. Ich schaue an mir herunter und sehe meinen dick aufgeblähten Wanst. Was habe ich getan?! Das Ergebnis von mindestens zwei Wochen harter Arbeit habe ich mir mit einer einzigen Mahlzeit zunichte gemacht.
Nein, nein, nein.

Das kann nicht sein, es darf einfach nicht. Entschlossen stehe ich auf und schleppe mich zum Waschbecken. Ich stütze mich mit beiden Ellenbogen auf dem weißen Rand ab und beuge mich leicht vor. Es ist verrückt was ich hier tue, aber es ist notwendig.
Mit meinem linken Zeigefinger reize ich mein Halszäpfchen, meinen Rachen, einfach alles. Doch nichts passiert, ich beginne zu würgen, aber nichts kommt wieder hoch, die Kalorien haben sich in meinem Körper verankert und wollen nicht wieder hinaus.
Verloren, Versagerin, Nilpferd, Trampel.


Wäre Dad hier, würde er mich in den Arm nehmen und mir sagen, dass wir das schon wieder hinkriegen, dass das alles nicht so wichtig ist und ich trotzdem toll bin.
Er ist aber nicht hier,

zischt eine kleine, gemeine Stimme in mir.
Sie hat ihn mir genommen. Und dafür hasse ich sie.

Kapitel 8



Nachdem ich mich immerhin äußerlich frisch gemacht habe, verschanze ich mich wieder in meinem Zimmer. Ich verriegele von innen meine Türe, ziehe den Vorhang meiner halb-gläsernen Balkontüre zu, und mache das Rollo des Fensters runter.
Mutter kann das nicht ausstehen, Stromverschwendung nennt sie das, doch ich mag es nicht, wenn jemand in mein Zimmer sehen kann.
Und Mutter kann mich mal. Durch sie habe ich alles verloren, was mir einmal etwas bedeutete. Soll sie doch an ihrer Stromrechnung ersticken.
Ich nehme die kleine mit Leder bezogene Box von meinem Schreibtisch in beide Hände. Ich schlage den Haken aus der Verankerung und der Deckel schwingt auf, gibt den Inhalt der Schachtel frei. Fotos und kleine nichtige Dinge wie ein Gummiball und ein Schlüsselanhänger in Form eines in Kunstharz gegossenen Skorpions purzeln darin herum, Gegenstände, die niemand begreifen kann, oder will.
Heute schaue ich mir das eine Foto wiedereinmal genauer an. Es zeigt einen kleinen, untersetzten Mann mit einer Glatze, zusammen mit einem braunhaarigen Mädchen und einem etwas kleinerem blonden Mädchen. Sie schauen offen in die Kamera, sie lächeln, weil sie nicht alleine sind, weil sie gemeinsam stark sind und allem trotzen können. Alle haben sie die selben, strahlend blauen Augen, das blonde Mädchen und ihr Vater haben sogar die selben Fältchen um die Augen, während sie grinsen.
Eine Träne löst sich aus meinen Augen und klatscht auf das zerknitterte Fotopapier.
„Dad, ich vermisse dich“, flüstere ich leise.
Es ist jetzt bald vier Jahre her, dass ich ihn zuletzt gesehen habe. Die ersten drei Jahre nach der Trennung waren meine Schwester und ich jedes zweite Wochenende bei ihm. Wir haben zusammen Trödelmärkte und Brockenhäuser nach Kunstbüchern durchstöbert, indianisches Essen gekocht oder einfach nur Musik gehört.
Doch Mutter hat alles kaputt gemacht. Sie hat Dad vor Gericht verklagt, offiziell in Sorge um uns, inoffiziell, weil sie ihn einfach schon seit Jahren auf dem Kieker hatte. Sie hat dem Richter gesagt, dass Dad Drogen nimmt, dass er sich nicht richtig um uns kümmert und dass es unverantwortlich ist, uns beide noch weiter in seine Nähe zu lassen.
Und sie hat gekriegt, was sie wollte. Dad ist weg, und sie hat uns ganz für sich alleine.
Ich könnte ihr dafür jeden einzelnen Tag eins in die Fresse geben.
Seufzend lege ich das Foto wieder in die Box und nehme stattdessen ein uraltes Armband mit bunten, leicht zerkratzten Plastikperlen heraus. Es ist das schönste, das ich besitze, und wohl auch das wertvollste. Ein Freundschaftsband.
Ja, ich hatte einmal eine Freundin. Ich habe sie in der 1. Klasse kennengelernt. Damals waren wir Seelenverwandte. Doch sowas vergeht. Auf Verwandschaft kann man nunmal nicht zählen, egal welcher Art.
Schnell pfeffere ich das Teil wieder in die Kiste und schließe sie wieder. Ich will jetzt nicht an vergangene Freundschaften denken, und Dad kommt auch nicht wieder, wenn ich sein Bild anstarre.
Doch ich wünsche, es wäre so.

Ich gehe kurz darauf bereits ins Bett, doch das heißt nicht, dass ich genügend Schlaf bekomme.
Mein Hirn macht mir wieder einen Strich durch die Rechnung. Ich sollte es mal entlassen. Wäre vermutlich für uns beide besser, denn wir passen nicht so recht zusammen.
Ein Elefantenhirn, dass alle Erfahrungen für immer und ewig abspeichert ist nämlich eher für Leute gedacht, die glücklich sind. Und das bin ich nicht. Das bin ich nicht...
Kurz bevor mir die Augen zufallen denke ich noch kurz an das Eindringlings-Baby-Dings.
Wenn es auftaucht, bin ich weg. Egal ob durch ausziehen oder durch drastischere Maßnahmen, dieses Balg werde ich nicht ertragen.

Kapitel 9



Sonntage gehören verboten. Man sitzt den ganzen Tag nur herum, in Gedanken schon wieder in der Schule, und kann einfach absolut nichts tun um sich abzulenken.
Natürlich gibt es auch Familien, bei denen Sonntage ganz lustig sein mögen, aber bei meiner ganz sicher nicht.
Ich stehe heute früher auf als alle anderen, damit ich genügend Zeit habe, die Küche so zu verkrümeln und verkleben, dass es aussieht, als hätte ich zwei Toasts mit Butter und Honig gegessen.
Nachdem ich also die Toastkrümel verteilt und den Honig offen stehen gelassen habe und zwei Scheiben Brot im Müll gelandet sind, nehme ich mir eine kleine Flasche Mineralwasser und gehe joggen.
Nicht, dass ich gerne Sport mache, eher im Gegenteil, ich hasse es. Ich habe die Ausdauer eines Faultieres und auch ungefähr dasselbe Tempo drauf. Doch darauf kommt es nicht an, Hauptsache, ich bekomme die Kalorien von gestern wieder runter.
Als ich letzte Nacht aufs Klo musste, habe ich mich gewogen.
45 Kilo.


Ich habe mich selbst grün und blau geschlagen dafür, mich gebissen und gekratzt, als könne das irgendetwas daran ändern.
Und jetzt beginne ich also wieder zu trainieren.

Mein Herz beginnt schon nach wenigen hundert Metern wieder zu flackern und Seitenstechen setzt ein. Doch ich renne weiter, mit bösen Stimmen in meinem Schädel, die mich verfolgen.
Nach zwei Kilometern klappe ich zusammen. Ich schaffe es einfach nicht mehr, ich japse nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Doch ich unterstehe mich, irgendetwas zu essen. Gott sei dank habe ich nichts eingepackt ausser das Wasser.
Ich schaue mich um und erblicke auf der gegenüberliegenden Seite der Strasse die Tanzschule unseres kleinen Städtchens. Von der Neugier getrieben überquere ich trotz heftigen Protesten meines Körpers den Fußgängerstreifen, gehe um das Gebäude herum und schaue durch ein kleines Fenster der Gebäuderückseite in einen der Tanzsäle.
Gerade wird Jazztanz verübt, von den Zwergen, und schon wieder werde ich mit meiner Vergangenheit konfrontiert. Einst gehörte ich auch zu den Zwergen, klar, nicht zu diesen hier, aber zu ähnlichen.
Unsere Gruppe bestand auch ausschließlich aus Mädchen, naja, und aus mir, was auch immer ich sein mochte. Aber ich vermute, damals war ich tatsächlich noch ein richtiges Mädchen. Zum Monster mutiert bin ich erst später.
Damals hatte ich auch noch meine Freundin. Wegen ihr habe ich mir dieses Gehopse überhaupt angetan. Sie wollte nicht alleine hierhin, zu diesen dünnen, hübschen Mädchen, die wie Feen durch den Saal schweben konnten. Und weil ich sie nicht verlieren konnte, bin ich mit.
Sie wurde beliebt, und ich geduldet.
Sie war zwar weder besonders hübsch, noch hatte sie eine wirklich gute Figur, doch dafür, dafür war sie die netteste von ihnen.
Brauchte jemand Deo, Haarspray oder Wimperntusche, brauchte er nur zu fragen, und wenn jemand mit einer Choreo nicht zurechtkam, war sie immer die geduldigste wenn es darum ging, demjenigen die Schritte nochmals zu erklären.
Und immer, wenn sie oder ein anderes Mädchen Geburtstag hatte, brachte sie für uns alle Kinderschampus mit.
Ich war immer wahnsinnig stolz darauf, ihre Freundin sein zu dürfen.
Doch irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, hinter angehenden Supermodels und riesen Bonzen Statistin spielen zu müssen, und als meine Freundin schließlich bemerkte, dass ich immer öfter Marilyn Manson statt die neueste Kiddy-Contest CD hörte, verlor sie das Interesse an mir.
Als sie am Ende der dritten Klasse wegzog, hatte sie sich nicht von mir verabschiedet.
Ich habe sie seither nie wieder gesehen.

Bis ich wieder über die Strasse, durch Gassen und am See vorbei bei mir zuhause angerannt komme, geht mir das Bild von den Kniebeißern beim Tanzen nicht mehr aus dem Kopf.
Ich gehe schnell duschen, ehe meine Familie auf ist.
Die hätten mir jetzt gerade noch gefehlt.

Kapitel 10



Heute gibt es keine neuen Schnitte für mich, wenn ich Schmerzen will, brauche ich nur einige der Blutergüsse auf meinen Unterarmen zu berühren. Hoffentlich sind sie bis Dienstag soweit verblasst, dass ich mich ohne Armstulpen in die Sporthalle begeben kann.
Hier zu Hause ist das kein Problem, ich brauche nur ein wenig flüssiges Make-up auf den blauesten Stellen zu verteilen, dann achtet sich niemand darauf.
Man sieht stets das, was man sehen will.
Meine Familie pennt auch jetzt noch. Ich hingegen flüchte mich in virtuelle Welten, zu flüsternden und schreienden Mädchen, in Foren, die es eigentlich nicht geben dürfte.
Ich habe eine neue Freundschaftsanfrage, verkündet ein Blinkendes Teil auf meinem Bildschirm. Von _mary1234_. Kenne ich nicht.
Mit einem Klick bestätige ich die Freundschaft. Dann klicke ich mich durch Threads, die ich einst selbst erstellt hatte und durch solche, auf die ich einmal antwortete. Ziskax3 hat einen neuen Beitrag in ihrem Blog gepostet.

Man sagt die Zeit heilt alle Wunden?!
Doch bei mir reißt sie sie wieder auf!!! >.36.


Das Gewicht, bei dem ich schweben werde. Wie die Mädchen aus dem Jazztanzen. Wie sie

.
Ich fasse mir ein Herz und blättere zu meinem ersten Blogeintrag zurück. Schon fast zwei Jahre sind seither vergangen. Auf dem Bild sehe ich ein pummeliges Mädchen mit ausdrucksloser Miene und Körpersprache.
Damals wog ich satte 49.8 Kilo.
Damals hatte die Pubertät mich mit voller Wucht erwischt, mich als Clown verkleidet und mich in die Oberstufe versetzt.
Damals hat es angefangen. Dass mich alle zu dick finden.
„Lif hat einen Arsch bekommen!“, höre ich meine Schwester immernoch sagen. Während sie dünn sein durfte, musste ich dick werden.
„Lif, wieviel wiegst du?“, haben mich die Mädchen in den Umkleidekabinen auf einmal gelöchert, und die Jungs machten nie wieder einen Spruch darüber, dass ich doch magersüchtig sei.
Auf einmal war ich nicht mehr süß, für niemanden.
Mit einem harten Schlag auf meine Computermaus schließe ich den Internetbrowser.
Sechsunddreißig.


Kapitel 11



Das schlimmste an den Sonntagen sind die Abende.
Auch wenn ich das Abendessen ohne größere Katastrophen überlebt habe, so steht doch die Schule wieder vor der Tür, mit allen Mitschülern, Hausaufgaben, Prüfungen und Ängsten. Ich versuche alles, damit mir das noch ein paar Tage erspart bleibt.
Ich röchele, jammere, schlinge meine beiden Arme um meinen Bauch, während ich mit meiner Familie auf der Couch sitze und eine dämliche Realityscheiße im Fernsehen schaue.
Doch Mutter bemerkt es nicht. Sie sieht mich noch nicht mal an. Sie und meine Schwester haben eh nur Augen für das Baby hinter ihrer Speckschwarte am Bauch. Meine Schwester fasst den Bauch von Mutter an, und behauptet kichernd, dass man echt schon was fühle, während Mutter ihr grässlichstes Lachen lacht. Ihr Lover sitzt daneben und spielt an seinem Handy rum.
Auf einmal fühlt sich alles so falsch an. Als wäre ich in einem bizarren Theaterstück gefangen, und ich bin die Statistin. Lediglich die Statistin. Wie immer.
Mit der fadenscheinigen Aussage, ich gehe Hausaufgaben machen, stürme ich von der Bühne, während das Theaterstück hinter mir weitergeht.

Morgen habe ich Englisch. Ich sollte vermutlich wirklich Hausaufgaben machen, doch das schaffe ich nicht.
Soll mir mein Lehrer doch ein Eintrag geben. Das spielt langsam keine Rolle mehr.
Durch das ganze Geröchel und das Bauchumschlingen ist mir wirklich schlecht geworden, doch ich habe keine Nerven mehr, das Wohnzimmer nochmals zu betreten, um dies Mutter mitzuteilen.
Gehe ich morgen halt in die Schule.
Werden halt alle sehen, dass ich zugenommen habe. Oder doch nicht?
Joggen kann ich nicht nochmals, Mutter würde mich umbringen, wenn ich um diese Zeit das Haus verließe. Stattdessen ziehe ich eine der Schubladen samt Deckel unter meinem Bett hervor und rücke meinem Hüftgold zu Leibe, bis mir der Schweiß in Strömen den Rücken hinunterfließt.
Dennoch bleibt in mir das Gefühl von versagen.
Liegt es an mir, dass ich so dick bin? Liegt es an mir, dass Mutter als ich klein war sich jeden Abend hörbar in den Schlaf geweint hat? Ist es meine Schuld, dass ich nirgends dazugehöre? Gebe ich mir einfach nicht genügend Mühe, um in Ruhe leben zu dürfen?
Was verdammtnochmal habe ich euch allen getan?!


Ich merke, wie ich beginne zu müffeln, doch anstatt duschen zu gehen hülle ich mich in eine dicke Deowolke ein. Was macht es denn schon für einen Unterschied, ob ich stinke oder nicht?
Ich bemerke außerdem, dass ich bereits wieder anfange, im Selbstmitleid zu ersaufen, und fühle mich ekelhaft. Was wiederum dazu führt, dass es mir augenblicklich derart scheiße geht, dass ich gleich noch mehr Mitleid mit mir selbst bekomme.
Nein, stopp.
Ich habe nicht wirklich Mitleid mit mir, sondern mit dem kleinen Mädchen, das ich einst zerstört habe.
Mit der kleinen, süßen Lif, die ich einst war, ehe meine Eltern sich trennten. Damals hat die kleine Lif ihren Eltern, ihren Freunden, allen die Schuld gegeben.
Doch in Wahrheit war es die neue Lif, die es kaputt gemacht hat. Die neue Lif, die noch weniger spricht, noch weniger dazugehört, noch weniger lieb gehabt wird.
Doch selbst diese neue Lif hasst ihre Mutter noch dafür, dass sie die kleine Lif zeitgleich ebenfalls aufgegeben hat.

Schluss mit Mitleid. Ich packe meine schwarz-rot karierte Schultasche notdürftig mit den wichtigsten Heften und Büchern und schleife mich in mein Bett. Ich kann den Fernseher durch die dünne Wand hören. Sie haben auf den Nachrichtenkanal umgeschaltet. Eine Weile lang lausche ich der monotonen Stimme des Nachrichtensprechers.
Bald darauf sinke ich in einen unruhigen Schlafzustand, in dem mich dunkle Zahlen, gellendes Gelächter und Zeitstrudel verfolgen.
Am nächsten Morgen beim Aufwachen bin ich müder als vor dem schlafengehen.

Kapitel 12



Mein Wecker stelle ich immer sehr früh, so dass ich ausreichend Zeit habe so zu tun als würde ich frühstücken und ausserdem noch ein wenig Musik hören kann, ehe ich das Haus verlassen muss.
Auf die Waage stehe ich noch nicht, ich traue dem Ergebnis am Morgen nicht. Die morgendliche Zahl ist trügerisch, sie wiegt einem in Sicherheit. Man denkt, man darf was essen, aber wenn man dann mittags oder abends erneut auf die Waage tritt, verrät sie einem das Gegenteil.
Aber Kalorientabellen, die richten sich nicht nach Tageszeiten. Die sind konstant.
Ich logge mich also in mein online Kalorienbuch ein und rekonstruiere Schritt für Schritt meine gestrigen Mahlzeiten.
Was gab es gestern zu Abend?


Unruhig klackere ich mit meinen Fingern auf den Tasten herum, während ich mich zu erinnern versuche. Es war Reis, glaube ich.
Wieviel?


Die Kalorienzahlen sind per 100 Gramm angegeben, und per Portion. Aber wie groß ist eine Portion? Faustgroß? Tellerfüllend? Und die Soße? Wieviel muss ich dafür dazuzählen?
Ich werde unruhig, ich kann das nicht. Ich bin nicht für Kontrolle geschaffen. Ich schaffe das alles nicht. Ich bin ein Loser. Eine, die nicht einmal auf sich selbst aufpassen kann.
Mir kommt eine Dokumentation in den Sinn, die ich kürzlich auf YouTube gesehen habe, über ein junges Mädchen. Sie braucht diese Tabellen nicht mehr. Sie hat alle Zahlen im Kopf, noch während sie isst.
Und ich? Ich versage. Versage, versage, versage.
Mit Tränen in den Augen klappe ich den Laptop zu, hänge mir meine Tasche über die Schulter und verlasse das Haus.
Am besten esse ich ab jetzt gar nichts mehr.

Jedes Mal, wenn ich mit meinen Turnschuhen auf einen der kleinen Steinchen auf dem Gehsteig trete, entsteht ein knirschendes Geräusch. In anderen Ortschaften schweigen die Wege, während man sie betritt. Hier erzählen sie einem Geschichten.
Das haben sie vermutlich auch schon getan, während ich klein war, doch damals habe ich nicht darauf geachtet. Ich bin auch nie schlurfend gegangen wie heute, ich bin immer nur gehüpft. Noch bis in die dritte Klasse habe ich das gemacht.
Dann hat meine Familie angefangen, sich darüber lustig zu machen, und so habe ich es gelassen.
Aber meine Familie heißt ja nie etwas gut, das mir Spaß macht.
Ich bin so vertieft in das Gemurmel der Steine, dass ich erst gar nicht bemerke, dass nur wenige Meter vor mir eine Gruppe Jugendlicher steht, die offensichtlich rauchen.
Als ich sie bemerke, bin ich ihnen schon viel zu nahe.
Einige von ihnen schauen mich an, andere sind in irgendwelche blödsinnige Gespräche vertieft. Einige sind aus meiner Klasse, andere kenne ich nur vom Sehen.
Charlice starrt mich in Grund und Boden, während ich in einem möglichst großen, aber dennoch möglichst unauffälligen Bogen um die Gruppe herumgehe.
Meine Schuhe scheinen auf einmal drei Nummern zu groß zu sein, und meine Schritte sind viel zu steif und unregelmäßig.
Ich mag es nicht, wenn man mich ansieht.
Besonders, wenn ich zugenommen habe, die unvorteilhafteste Hose der Welt trage und ich stinke.
Ich hätte gestern doch besser noch geduscht.
Ausserdem spüre ich auf einmal wieder Kalorientierchen in meinen Innereien umherwuseln, obwohl ich heute doch noch nichts gegessen habe.
Die von gestern leben offensichtlich immernoch in mir.
Mit diesen Gedanken komme ich gleichzeitig an der Schule an, wie die Klingel ertönt.

Kapitel 13



Die erste Stunde beginnt wie jeden Montag mit einer Klassenstunde. Kurzum: jeder kann jeden anmeckern, den er will. Fast jeden. Ein paar Namen erwähnt man besser nie, es sei denn man ist scharf darauf, gesellschaftlich vernichtet zu werden.
Meistens gibt es ohnehin nichts zu sagen, so wie heute.
Alle sitzen stumm da, starren umher oder spielen, verbotenerweise natürlich, Handygames.
Ich sitze einfach nur da und versuche, niemanden anzusehen. Sonst könnten sie ja bemerken, dass ich noch exstiere.
Schließlich, gerade als unser Lehrer schon richtig verzweifelt angesichts unseres Schweigen ist, klopft es dreimal laut an der Tür.
Das ist seltsam, alle Klassen haben gerade Unterricht, soweit ich weiss.
Der Lehrer aber scheint heilfroh die Stille mit einem aufgesetzt strengem „Herein“ zu durchbrechen. Wieso nur war ein solch schwacher Mann Lehrer geworden? Er passt nicht in ein Schulzimmer, er gehört mit Schlips und Krawatte in irgendeine untere Position in einem Büro oder aber meinetwegen auch in den Ruhestand.
Die Tür schwingt auf und alle drehen sich um, um aus dem seit dem Kindergarten scheinbar obligatorischen Stuhlkreis einen Blick auf die willkommene Ablenkung zu erhaschen.
Alle, nur ich nicht.
Ist es denn nicht egal, wer hereinkommt? Mir schon.
Ein Mädchen ist es, das sehe ich, aus dem Augenwinkel.
„Ah, hallo! Du bist ja doch noch gekommen“, höre ich den Lehrer. Ach ja. Esmee. Die hatte ich ja komplett vergessen.
Nun werde ich doch neugierig. Nein. Aber...
Sie ist hübsch, und das Foto hat nicht gelogen; sie hat strahlend grüne Augen. Sie ist groß, fast gleich hoch wie der Lehrer, der sie angrinst wie ein Honigkuchenpferd.
Huch, werden wir etwa pädophil?

, zische ich innerlich. Pädophil. Ich mag das Wort.
„’tschuldigung. Ich habe den Weg nicht direkt gefunden.“, gesteht Esmee mit einer Stimme, die weder Überheblichkeit, noch übermässige Schüchternheit ausdrückt.
Hätte ich das gesagt, alle hätten gelacht. Wie kann man eine Viertelstunde brauchen, um unter 20 Klassenzimmern der Sekundarschule das richtige zu finden?
Doch bei Esmee macht das natürlich nichts. Nur sie schaut etwas gehässig, sie sieht Esmee als Konkurrenz an, sieht ihre männlichen Anhänger davonziehen. Es wird interessant sein zu sehen, wie sie diese wieder zurückgewinnen will.
Wir werden aus dem Kindergartenstuhlkreis erlöst und dürfen uns wieder an unsere offiziellen Plätze setzen. Lange warte ich, bis sich alle ihren Stuhl geschnappt haben und den Weg zu meinem Tisch freimachen. Damit sie mich bloß nicht berühren.
Ich hasse es, wenn mich jemand anfasst.
Esmee bleibt stehen. Klar, sie hat ja keinen Platz. Noch nicht. Hmm. Obwohl sie so groß ist, hat sie nicht diese eklige Angewohnheit, denn Kopf einzuziehen, wie das sonst alle Riesen machen.
Hauptsache, sie bleibt mir vom Hals.
„Und du, Esmee, du kannst vorläufig neben Lif Platz nehmen. Das ist die... die... die Blonde, ganz vorne rechts."
Danke, lieber Lehrer, aber ich kenne meine Schwäche schon. Ich weiss bereits, dass ich keine andere besondere Eigenschaft besitze, keine besondere Ausstrahlung, kein besonderer Charakterzug, nichts, womit man mich identifizieren könnte.
Aber wenigstens habe ich blonde Haare...


Esmee setzt sich auf den Stuhl neben mir und lächelt mich an. Ich schaue weg.
Wieso soll ich mir denn Mühe geben, wenn sie ohnehin spätestens nach der zehn-Uhr-Pause eine dicke fette Trennlinie auf unseren Bank malt?
Wenigstens plappert sie nicht darauf los. So kann ich sie vorläufig zumindest halbwegs ausblenden.

Kapitel 14



Scheinbar muss ich doch nicht so lange warten, denn schon in der fünf-Minuten-Pause am Ende der ersten Stunde wird Esmee zu ihnen gepfiffen.
„Esmi, oder wie du auch heisst? Kannst du kurz kommen???“
Mann, kennen die keine normalen Tonfälle?
Esmee schaut zögernd zu mir, als wolle sie mich fragen, ob das wohl okay ist (Himmel, was bin ich, ihre Mutter?), aber dann geht sie doch zu ihnen.
Die sagen was, sie lacht. Schüttelt ihre Haare dabei, wie man das manchmal in den Shampoowerbungen sieht. Dabei fällt mir auf, dass sie ziemlich schlank ist. Aber ihr Körperbau ist seltsam, irgendwie unförmig.
Magersüchtige bewerten sich selbst und andere durch ihr Gewicht.


Dieser Satz hat sich mir beim durchstöbern verschiedener Websites am tiefsten eingebrannt. Aber ich weiss, dass es Quatsch ist. Wie könnte jemand wie ich eine Essstörung haben?
Ich halte meinen Essensplan ja höchstens eine Woche am Stück durch, und dünn bin ich auch nicht. Nicht mehr.
Kaum habe ich das gedacht, kehrt sie auch schon wieder zu unserem Tisch zurück. Die gute Esmee. Was auch immer die über mich oder die Rangordnung gesagt haben, es scheint sie etwas aus der Bahn geworfen zu haben, aber lächelt mich trotzdem wieder an, so verlogen wie alle anderen auch, wenn sie was von mir wollen. Und ich merke, sie würde mich gerne etwas fragen. Aber sie tut es nicht, was ich bemerkenswert finde. Ich mag es, wenn jemand schweigen kann. Aber auch sie wird es nicht ewig aushalten.

Die zehn-Uhr-Pause verläuft selbst für mich, obwohl mir doch unterdessen jedes mögliche Horrorszenario bekannt ist, überraschend. Ob im Guten oder Schlechten kann ich nicht entscheiden. Einfach nur seltsam.
Esmee verstößt tatsächlich gegen die Traditionen und folgt mir zu meiner Emosäule. Mir.


Es freut mich weniger, als dass es mich verunsichert. Niemand folgt einer wie mir ohne Grund. Ich wirke abstoßend auf die Menschen, als hätte ich einen durchdringenden Gestank an mir haften. Sie spüren die Dunkelheit in und an mir. Meine dumpfe Gleichgültigkeit, die ich an den Tag lege.
Wenn jemand freiwillig zu mir kommt, dann verfolgt derjenige ein bestimmtes Ziel.
„Du heisst Lif, oder? Ich kann mir Namen nicht so gut merken“, fragt sie mich schließlich.
„Ja.“
Angespannt sehe ich mich um. Das tue ich oft in Gesprächen. Wozu weiß ich nicht, vielleicht nur, um meinem Gegenüber nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
„Stimmt eigentlich, was die anderen sagen?“, fragt sie dann nach einer Weile.
„Hmm?“
„Dass du ein Emo bist und das alles.“
Für einen kurzen Moment ist es, als würde mir jemand die Luft abdrücken. Dabei ist es doch so klar gewesen. Ich habe es ja schon vermutet. Das Lachen von Esmee in der kurzen Pause - es hatte mir gegolten.
Ich schaue sie einfach nur an. Starre in ihre beschissenen ach-so-tollen Augen. Dann drehe ich mich um und gehe los, auf eine Runde rund um das Schulhaus.
Was gibt ihr das Recht über mich zu urteilen?
Was gibt ihr das Recht mich sowas zu fragen?
Was gibt ihr das Recht sich für mich zu interessieren?!


Dieser Tag ist zu viel für mich. Ich will weg. Doch alles was ich mache ist mich nach der Pause wieder auf meinen Platz zu setzen und die Fingernägel meiner linken Hand während den kommenden Stunden unauffällig in das Fleisch meines rechten Armes zu bohren.
Weg. Weg. Weg!


Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei Lynn Peter
Bildmaterialien: Alle Rechte bei Lynn Peter
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Mädchen, die wie Lif und ich die Hoffnung an ein besseres Leben verloren hatten, und für alle, die sich für uns einsetzten.

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