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AN DER GRENZE DES JENSEITS

Okkultismus

Wie der Zeiger einer Uhr auf dem Zifferblatt fortschreitet von l zu 12, um, von vorn beginnend, jede Stunde immer und immer wieder zu neuer Gegenwart zu erwecken, so kehren auch im Leben der Menschheit Epochen wieder, die der Abgrund der ? Zeit längst verschlungen zu haben schien.

Okkultismus (von occultus = verborgen) nennt man heute ein Gebiet des Übersinnlichen, das in früheren Zeiten ein Privileg der Priester der verschiedenen Völker und Rassen war.

Es mag einmal eine Zeit gegeben haben, in der der Begriff Priesterschaft gleichbedeutend war mit Prophetie, mit Auserwähltsein und Übermenschentum. -

Jene Zeit ist längst dahin; wer aber auf das Gesetz der "großen Uhr" baut, darf hoffen, daß sie wiederkehrt.

Okkultismus und Mystik werden häufig verwechselt, und daher kommt es, daß Menschen, die sich über diese Gebiete unterhalten, oft aneinander vorbeireden.

Wohl sind beide Gebiete verwandt und ergänzen sich, aber nur wer ihre Tiefen erforscht und philosophisch ihre Grenzen erschaut, der weiß, daß sie im Grunde zusammenhängen wie Ursache und Wirkung.

Zu erörtern, was ein Mystiker ist, bildet nicht den Zweck dieses Buches, deshalb mag es hier genügen, zu sagen: der Weg des Mystikers mündet nicht ein in den des Okkultisten, wohl aber fließt der Strom "Okkultismus" zuletzt in den Ozean der Mystik.

Zu glauben, der Okkultismus bedeute das Ende einer materialistischen Weltanschauung, ist ein Irrtum. Okkultismus ist nur insofern "Meta-"physik, als seine Erscheinungen die Grenzen des bisherigen Wissens von der Wirkungsweise der Naturgesetze durchbrechen. Seine "Geister" und "Gespenster" sind ebenso stoffliche wie die Leiber der Menschen, gehören ebenso ins Reich des Materiellen wie etwa die Röntgenstrahlen; mit der Quelle des Reingeistigen, der "Ewigen Ursache", haben sie nichts zu tun.

Ob der Weg vom Okkultismus zum Reingeistigen näher ist als vom Materialismus aus, sei dahingestellt; altindische große Weise behaupten sogar, er sei weiter!

Die Meinung europäischer Denker über diesen Punkt ist geteilt; die einen neigen der Ansicht zu, vom Gipfel eines Berges aus habe man eine bessere Rundschau, und sie halten den Okkultismus für einen solchen Berg - , die anderen wenden sich mit Abscheu von ihm weg; sie halten alles, was damit zusammenhängt, für einen Sumpf; es mutet sie an wie Pfaffenbetrug, wie Geheimnistuerei, Gaukelei, Aberglauben und Entartung. Die leidige Tatsache, daß von je schlammige Bestandteile die ; Wässer im Strombereich des Okkultismus getrübt haben, ist schuld daran. Viele aufrichtige Menschen, die die Klarheit des Denkens und der Beobachtung lieben, wurden dadurch verleitet, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Man pflegt die große Weltstunde, in der Okkultismus und Mystik im Zeichen neuen Erscheinens stehen, als die jeweils zwölfte zu bezeichnen.

Wer da glaubt, daß heute wieder der kosmische Zeiger auf XII steht, der dürfte nicht irregehen.

Von "Mode" hier zu reden ist ebenso töricht, wie etwa zu sagen: Soeben ist Mittag "Mode" geworden.

Freilich, viele Menschen ziehen zum Mittagessen einen anderen Rock an, wenn sie auch häufig vergessen, sich dementsprechend die Hände zu waschen.

Oft hört man die Meinung äußern, der Krieg mit seinem Gefolge: "Elend, Not und Jammer" habe verursacht, daß sich die Menschheit von neuem dem Okkultismus zuwendet, um Trost und Hilfe auf einem Gebiet zu suchen, an dem sie lange spottend vorüberging.

Mir scheint: die Dinge liegen hier wohl hintereinander, aber eins ist nicht die Auswirkung des anderen; sie gehören nur ein und derselben "Stunde" an.

Forschen wir nach der Wurzel, aus der aller Okkultismus sprießt, so kommen wir zu dem Schlüsse: der Trieb des Menschen nach Freiheit ist es, der all das bewirkt.

Freilich, wer tiefer schürft, der findet den Urgrund, aus dem die letzte Erkenntnis quillt: Philosophie, Mystik, Einswerden mit dem Geiste.

Sehr verschiedenartig kann sich dieser Trieb äußern: als Gier nach Genuß, nach Geld und Besitz als Mitteln, sich Genüsse zu verschaffen, als Wissensdrang, als Wunsch, den verschiedenen Leiden, wie Altern, Krankheit, Tod, Hunger, Durst, klimatische Unannehmlichkeiten, Mühsal, Plage und Sorge, zu entrinnen, oder als Sehnsucht, mit Lieben, die der Tod entführt hat, wieder vereint zu werden.

So mannigfaltig wie dergleichen Wünsche sind auch die Wege, die der Suchende betritt, um Erfüllung zu finden - daher auch die Buntheit des Bildes, das der Okkultismus bietet, wenn wir seine Geschichte überblicken und die Zeiten und die Völker ins Auge fassen, in deren Gegenwart er zutage trat.

Manche Begebnisse okkulter Art kommen heute kaum mehr vor, andere, anscheinend neue, sind häufig geworden. Ein derartiges, im Mittelalter wohlbekannt gewesenes Phänomen - das sogenannte "Injectum" - ist geradezu in Vergessenheit geraten. Man führt es heute auf Hysterie zurück, da ähnliches - aber auch nur ähnliches - sich bei hysterischen Personen begibt.

Im Altertum, insbesondere dem asiatischen, wimmelte es von Berichten über magische "Wunder"taten; ganze Stämme indischer Asketen und Yogis traten gegeneinander auf, um sich zu übertreffen in Zauberei; von Jahrhundert zu Jahrhundert immer spärlicher und spärlicher wird die Runde über solche Vorgänge, bis es schließlich so weit kam, daß die Aufzeichnungen des Tibetmissionars Abbe Huc, eines Jesuitenpaters, dann die Dr. Honigbergers, der Zeuge war, wie der Fakir Hari-Das sich für lange Zeit begraben ließ, um dann wieder lebendig zu werden, zu den wenigen, wirklich glaubhaften gehören.

Bei den Völkern westlicher Kultur schien mit dem Ende der Hexenprozesse, der Alchimisten und Rosenkreuzer der Okkultismus bereits eingeschlafen zu sein. Da geschah in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einer kleinen Stadt der Vereinigten Staaten ein Begebnis, das man anfangs viel belachte und, weil die Berichte aus Amerika kamen, für Humbug hielt, das in Wahrheit jedoch zum Ausgangspunkt der sogenannten spiritistischen Bewegung wurde, die nicht lange darauf sich über die ganze Erde verbreitete und heute stärker als je ist.

In kurzen Worten, es hatte sich folgendes begeben: In der erwähnten kleinen Stadt hatten zwei Schwestern, namens Fox, ein Blockhaus bezogen. Eine von ihnen war, wenn ich recht unterrichtet bin, Telegraphistin. Von Zeit zu Zeit hörten die beiden Schwestern Klopftöne in den Wänden, deren Ursache zu erforschen ihnen lange nicht glückte. Daß es sich nicht um mutwilligen Unfug Lebender handeln konnte, war bald festgestellt, und da die Klopftöne bisweilen rhythmisch erfolgten, kam die eine der Schwestern, die Telegraphistin, auf die Mutmaßung, es könne sich da irgendwie um depeschenähnliche "Mitteilungen" handeln und begann, laut das Alphabet herzusagen mit der Absicht, die Klopftöne gewissermaßen auf die Probe zu stellen, ob sich dadurch nicht vielleicht eine Verständigung mit dem unsichtbaren Klopfer herstellen ließe. Und sofort ergab sich die Richtigkeit der Annahme: der unsichtbare Klopfer "depeschierte". Seine Mitteilungen besagten, er sei der "Geist" eines Menschen, der in dem Blockhaus ermordet wurde. Er nannte seine Mörder mit Namen und gab ihren Aufenthalt an. Tatsächlich sollen die Mörder auch später daraufhin entdeckt worden sein.

Die Schwestern Fox erhielten noch andere Mitteilungen und insbesondere Aufschlüsse, wie ein spiritistischer Zirkel zu veranstalten sei, um Verbindung mit dem Jenseits und dem Reiche der Abgeschiedenen zu bekommen. Die Folge war, daß einige Zeit später Tausende von Menschen das sogenannte Tischrücken betrieben, ein Experiment, von dem ich aus eigener mühevoller, jahrzehntelanger Erfahrung sagen kann, daß das Ergebnis fast immer auf Betrug eines oder mehrerer Zirkelteilnehmer hinausläuft. Bestenfalls auf Selbstbetrug. Es ist erstaunlich, wie häufig sich da ein lausbubenhafter Trieb, andere - und sogar schließlich sich selbst - naszuführen, bei den Menschen offenbart. Sonst sehr ehrenwerte Leute von Bildung und guter Erziehung werden da im Handumdrehen zu Betrügern und scheuen sich nicht, unter Ehrenwort stehend zu falschen Zeugen zu werden. Fast noch erstaunlicher ist es, daß solche Lausbübereien die Macht hatten, die allgemeine Erkenntnis auf dem Gebiete des Okkultismus auf Jahrzehnte hinaus zu verzögern. Aber nicht nur die mehr oder weniger albernen Resultate des Tischrückens, das heißt, das Heben der Tischbeine und das intelligente Klopfen damit, traten bei den spiritistischen Sitzungen zutage, es stellten sich auch Phänomene ein, die der Naturwissenschaft dereinst die unanfechtbaren Beweise liefern werden, daß das, was heute in den Schulen über Physik gelehrt wird, ein jämmerliches Bruchstück wirklichen Wissens bedeutet. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, wäre jeder Erfinder, Entdecker oder Forscher nichts anderes als in groben Zügen ein Okkultist, denn er begibt sich suchend auf "verborgenes" Gebiet.

Elektrizität, Licht, Wärme - sie sind im Grunde genau so "okkult" wie spiritistische Vorgänge. Primitive Völker haben hinter Blitz und Donner Geister gewittert. Wir haben Donner und Blitz entgöttert. Wir haben überhaupt die ganze Natur entgöttert und glaubten uns dazu berechtigt, bloß, weil wir die allernächsten Ursachen entdeckt haben, die hinter der großen Erscheinung stehen, und solche Erscheinungen im Laboratorium mittels Maschinen selber hervorbringen können.

Der heilige Bonifazius hat die Donnereiche abgesägt, und es ist ihm nichts geschehen. Hätte er den Mast einer Hochspannungsleitung, falls es damals solche gegeben hätte, abgesägt, wäre ihm das unter Umständen übel bekommen, aber die Existenz oder Nichtexistenz eines Blitzdämons bliebe unbewiesen in dem einen wie in dem anderen Falle.

"Sie werden doch nicht im Ernste die Ansicht verfechten wollen, daß mechanischen Gesetzen Geister oder sonstige bewußte Wesen zugrunde liegen könnten?" höre ich einwenden.

Nun, warum nicht?!

Swedenborg, ein Mensch, der über jeden Zweifel bewiesen hat, daß er die Gabe des Hellsehens in geradezu erstaunlichem Maße besaß, behauptete es und war felsenfest davon überzeugt.

Und Jesus von Nazareth sah hinter mancher Geisteskrankheit Teufel, die er austrieb, so daß sie in Schweine fuhren und sich ins Wasser stürzten.

Swedenborg stellte den Satz auf, jede richtige Naturerkenntnis sei unmöglich, wenn sie von anderen Gesichtspunkten ausginge.

Überdies ist unseren Herren Gelehrten in allerletzter Zeit ein so dicker Strich durch ihr bisheriges mechanisches Weltzerrbild gemacht worden, und der sogenannte "gesunde" Menschenverstand hat sich als dermaßen blind und krank und unzurechnungsfähig herausgestellt (durch Professor Einsteins "Relativitätslehre"), daß der Dämonenglaube eines mongolischen Schamanen gegenüber der bisherigen europäischen wissenschaftlichen Erklärung physikalischer Vorgänge wie eine Offenbarung anmutet.

Ich habe gesagt, daß hinter dem Trieb zum Okkultismus der Hang zur Freiheit im Menschenherzen steht. Der Wunsch nach Freiheit ist in manchen - und nicht in den schlechtesten, siehe Nietzsche! - so übermächtig, daß man ihn in das Wort fassen könnte: Ich will frei sein von Göttern und Gespenstern!

So wünschen und denken alle jene, die, nachdem sie gewisse Phänomene des Okkultismus als nicht mehr wegzuleugnende Tatsachen erkannt haben, sich aufs äußerste sträuben, hinter derlei Erscheinungen Götter, Dämonen, Gespenster oder die "Bewohner uns unsichtbarer Reiche und Sphären anzunehmen.

Sie schießen über das Ziel hinaus, denn es ist ein Unterschied, das Dasein solcher Wesen zu leugnen, um frei von ihnen zu sein, oder ihre Existenz gelten zu lassen und dennoch selber frei zu werden ihnen gegenüber.

Das spiritistische "Medium" erkennt die Existenz jenseitiger Wesen nicht nur an, es unterwirft sich sogar ihrem Willen und macht sich zu ihrem Werkzeug.

Aber im Gebiete des Okkultismus gibt es noch anders als bloße Mediumschaft: es gibt etwas, was wir Magie oder Beherrschung nennen könnten, dann etwas, was wie Freundschaft mit unsichtbaren Wesen aussieht, und außerdem eine Entwicklungsmöglichkeit gewisser seelischer Fähigkeiten, die über das gewöhnliche Maß indischer Eigenschaften weit hinausragen.

Diese Unterschiede zu beleuchten, ist Zweck der nächsten Abschnitte des Buches.

 

Ende der Leseprobe.

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.12.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gustav Meyrink lebte von 1868 bis 1932 und war ein österreichischer Schriftsteller. Er verfasste eine Anzahl Romane, Essays, Fabeln, Grotesken und Erzählungen. Er interessierte sich intensiv für Esoterik, Yoga, Mystik und Geheimbünde. Sein Grab befindet sich in Starnberg (Bayern).

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