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Rückkehr ins Leben



Langsam ging sie den schmalen Kiesweg entlang. Der Sand knirschte unter ihren Schuhen, ansonsten war es still. Der Himmel war grau und wolkenbehangen, und sie fragte sich, ob es wohl bald regnen würde. Ihre schmale Hand umschloss einen kleinen Strauß weißer Lilien, als sie vor dem letzten, auffällig gut gepflegtem Grab innehielt und auf die Innschrift starrte:
Thomas Behrends, geboren am 12.12.1972, gestorben am 21.07.2002. Ruhe sanft.


Eineinhalb Jahre waren sie gerade erst verheiratet gewesen.
Kennengelernt hatte sie ihn, weil sie sich beim Ausparken verschätzt und seinem neuen BMW eine ordentliche Schramme verpasst hatte. Sie hinterließ schuldbewusst einen Zettel mit Anschrift und Telefonnummer und er meldete sich noch am selben Tag. Bereits am Telefon waren sie sich so sympathisch,dass sie beschlossen, die weiteren Details bei einem gemütlichen Essen im Restaurant zu besprechen. Und ein Jahr später machte er ihr genau in diesem Restaurant einen Antrag.

Sie zweifelte nicht eine Sekunde daran, in Thomas ihren Traumprinzen gefunden zu haben. So oft sah sie ihn vor sich, mit seinem vollem, weizenblonden Haar und den stahlblauen Augen, die sie immer so ruhig und sicher ansahen, wenn sie sich mal wieder über irgendetwas ärgerte.

Es war alles so perfekt gewesen. Er hatte gerade sein Jurastudium erfolgreich abgeschlossen und arbeitete in einer der bekanntesten Kanzleien der Stadt. Sie selbst hatte das Blumengeschäft ihrer Mutter übernommen,welches sehr gut lief. Schon bald wollten sie sich ein kleines Häuschen bauen, träumten von einer eigenen Familie.
Nicht ein einziges Mal hatte sie daran gedacht, wie schnell alles wie ein Kartenhaus zusammenfallen könnte.
Noch immer starrte sie den Grabstein an. Wie viele Tränen hatte sie hier schon vergossen,nun fühlte sie nur noch eine dumpfe, unendliche Leere in sich. In ihren Gedanken ergänzte sie sie die Inschrift des Steines mit ihrem Namen: Sarah Behrends, geborene Jensen, geboren am 4.4.1974,gestorben am- ja, eigentlich war sie an jenem Tag gestorben,als ihr die Polizisten vor ihrer Haustür mitteilten, dass ihr Mann niemals mehr zu ihr zurückkehren würde.

Sie erinnerte sich noch genau an jenen Frühlingstag vor etwas mehr als zwei Jahren. Thomas hatte früher Feierabend gemacht, weil er das schöne Wetter ausnutzen und noch eine Runde auf seinem Motorrad drehen wollte. Sie hatte das Ding immer gehasst und er machte sich oft lustig über sie,meinte, sie wäre eifersüchtig auf eine Maschine. Auch an jenem Nachmittag fragte sie ihn, ob er nicht lieber mit ihr eine Ausflug machen wollte.
„Ich bin doch spätestens in einer Stunde wieder zurück und dann machen wir was zusammen. Versprochen.“, hatte er lächelnd geantwortet und küsste sie zärtlich auf ihre Nasenspitze.
Doch als er ihre Lippen berührte, drehte sie sich weg und schmollte. Wie oft hatte sie diesen Moment immer und immer wieder durchlebt und sich dafür verflucht,dass sie ihn nicht geküsst, dass sie ihn nicht angefleht hatte, zu bleiben.
Er hatte dem LKW-Fahrer angeblich die Vorfahrt genommen. Sein Körper wurde regelrecht zermalmt. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, ihn zu identifizieren. Diese schwere Aufgabe musste sein Vater übernehmen.
Seit jenem Tag war sie nur noch ein Schatten ihrer Selbst. Jede Bewegung, jeder Atemzug fiel ihr schwer. Bevor sie abends mit Hilfe von Antidepressiva einschlief, hoffte sie, dass sie endlich aus diesem Albtraum aufwachen und Thomas neben ihr liegen würde. An manchen Tagen blieb sie den ganzen Tag im Bett, stellte das Telefon ab und öffnete nicht einmal dem Postboten die Tür. Der einzige Weg, den sie fast täglich ging, war der zum Friedhof.
Zuerst hatten Freunde und Familie noch Verständnis für ihre Trauer gehabt, doch irgendwann fingen sie an, sie zu bedrängen. Das Leben geht weiter, du bist noch so jung, du brauchst Hilfe. Doch sie wollte keine Hilfe, Sie wollte einfach nur allein sein, allein mit ihrem Schmerz.


Sie legte, wie jedes Mal, den Strauß Lilien auf den Grabstein. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Rückweg.
Sie hatte das Friedhofsgelände schon fast verlassen, als ihr ein junger Mann auffiel, der ebenfalls an einem Grab stand. Sie hielt einen Moment inne und starrte in seine Richtung. Irgendetwas in ihr zwang sie,noch ein paar Schritte näher an ihn heran zu gehen. Dann drehte er seinen Kopf in ihre Richtung und lächelte. Noch immer starrte sie ihn und dann fiel ihr ein,woher sie dieses Gesicht kannte- es war Max,ihre Jugendliebe.
Unsicher näherte sie sich ihm.
„Hallo Sarah“, begrüßte er sie sanft.
„Hallo Max“, antwortete sie leise.
Dann fiel ihr Blick auf den Grabstein:“Helen Parker, geborene Lanz, geboren am14. Juli 1974, gestorben am 07.Juli 2002.“


Sie verspürte einen schmerzvollen Stich im Herzen. Es war seine Frau, die hier begraben lag.
„Sie war sehr krank“,sagte er mit ruhiger, fester Stimme.
Betroffen sah sie ihn an. „Es tut mir Leid“, sagte sie fast tonlos.
„Mein Mann liegt dort hinten begraben, er starb bei einem Unfall“, fuhr sie mit bebender Stimme fort.
„Ich weiß“,antwortete er ruhig.
Überrascht sah sie ihn an.
„ich habe es in der Zeitung gelesen und dich auch schon ein paar Mal hier gesehen.“
Dann musterte er sie und ihr wurde bewusst, was für ein Bild sie abgeben musste:
ihr schmaler Körper war in ein drei Nummern zu großes, graues T-Shirt gehüllt, welches einmal Thomas gehört hatte. Die verwaschene Jeans saß auch schon lange nicht mehr richtig und ihre langen, dunklen Haare hingen kraftlos herunter. Ihr blasses Gesicht war gezeichnet von Trauer und Leid. Nein, sie sah der lebenslustigen, attraktiven Sarah von früher überhaupt nicht mehr ähnlich.
Max hingegen wirkte attraktiver den je. Wie war das möglich, hatte er doch genau so einen Verlust erleben müssen wie sie?
Als ob er ihre Frage gehört hätte, begann er zu erzählen: „Ich musste ihr etwas versprechen ,als ich sie das letzte Mal in meinem Armen hielt. Sie sagte, dass ich nicht aufgeben darf, egal, was auch geschieht, Das ich leben soll.“
Dann wandte er sich Sarah zu und sah ihr fest in die Augen. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sie erstarrte, als er zu sprechen anfing: „Dein Mann ist damals gestorben Sarah, nicht du. Lass ihn gehen und kehre zurück ins Leben. Das wäre sicher sein größter Wunsch.“Dann nahm er ihre Hand und drückte ihr wortlos eine Zettel in diese, bevor er sich umdrehte und ging.
Mit tränenverschleiertem Blick schaute sie ihm nach, unfähig, zu begreifen, was gerade geschehen war.
Dann faltete sie den Zettel auseinander. In einer ihr vertrauten Schrift stand dort geschrieben:
Wenn du so weit bist, dann melde dich bei mir. Wo du mich finden kannst weißt du ja. Max.
Früher hatte er ihr oft kleine Zettelchen im Unterricht zukommen lassen. Unwillkürlich musste sie bei dem Gedanken daran lächeln.
Dann bemerkte sie, dass der Himmel aufbrach und die Sonne einen zarten Strahl hinuntersandte. Vielleicht ist das ein Zeichen von Thomas, dachte sie.
Es war schon seltsam, dass sie sich ausgerechnet auf dem Friedhof wiederbegegnet waren. Sie hatten beide ihre große Liebe verloren. Sie hätte niemals gedacht, dass es trotzdem möglich sein könnte, weiterzuleben. Doch die Begegnung mit Max öffnete ihr zum ersten mal seit langer Zeit die Augen. Und auch wenn sie wusste, dass noch ein langer Weg vor ihr lag, verspürte sie zum ersten Mal wieder ein Gefühl, welches sie schon lange verloren geglaubt hatte: Hoffnung.

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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2010

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