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Schatten der Vergangenheit



Ich war sechs Jahre alt, als es das erste Mal passierte. Eine Straße weiter war ein rothaariger Junge in meinem Alter namens Simon eingezogen und die Träume begannen, nachdem ich ihm das erste Mal auf dem Spielplatz begegnet war. Es waren schreckliche Träume, von kleinen Katzen, die gequält miauten, grausamen Bildern von anderen Tieren, die misshandelt wurden- und immer dazu das Gesicht des rothaarigen Jungen, der diese Taten ausführte und dabei hämisch grinste.
Ich war davon überzeugt, dass meine Träume der Wahrheit entsprachen und mied den Jungen, so gut es ging. Doch sprechen konnte ich mit niemandem darüber. Zwei Jahre später zog er wieder fort und die Träume hörten so plötzlich auf, wie sie gekommen waren.

Jetzt, mit fünfundzwanzig Jahren, glaubte ich natürlich, dass das alles nur wilde Phantasien eines kleinen, verwirrten Mädchens gewesen waren, das gerade seinen Vater verloren hatte. Bis zu jenem Donnerstag vor drei Monaten.
Ich hatte mir gerade Abendbrot zubereitet und verfolgte nebenbei die Nachrichten. Sie berichteten über einen sechsjährigen Jungen namens Tommy, der seit drei Tagen vermisst wurde. Plötzlich tauchten Bilder vor mir auf, es spielte sich vor meinen Augen ab wie ein Film. Ich sah einen verängstigten, kleinen Jungen, zusammengekauert und wimmernd auf dem Boden liegend, über ihn gebeugt ein rothaariger, junger Mann mit einem hämischen Grinsen. Ich konnte das Gesicht des Jungen deutlich erkennen: es war Tommy!Und auch, wer sein Peiniger war, wusste ich sofort: Simon Webb.

Als ich wieder zu mir kam, zitterte ich am ganzen Körper und war klitschnass geschwitzt. Ich wusste mit einer solch schmerzhaften Gewissheit, dass Simon Webb den kleinen Tommy entführt und auf einem alten Bauernhof festhielt, dass ich nach Atem rang.
Doch was sollte ich nun tun? Zur Polizei gehen? Nein, die würden mich nur für verrückt erklären. Es klang ja auch einfach nur unglaublich!
Ich wälzte mich die ganze Nacht hin und her, immer wieder kamen die Bilder zu mir, doch dann geschah etwas seltsames: plötzlich war es nicht mehr Tommy, der gequält wurde, sondern Simon selbst, ein kleiner, rothaariger Junge, der von einem dunkelhaarigem Mann mir ebenso dunklen, bösartigen Augen missbraucht wurde. Die Gesichter verschwammen ineinander und ich ahnte plötzlich, dass Simon gerade dabei war, einen schrecklichen Teufelskreis zu schließen. Ich hatte schon oft gehört, dass die Täter meistens selbst einmal Missbrauchsopfer gewesen waren, und ich ahnte, dass es bei Simon so gewesen sein musste.
Am nächsten Morgen fiel mir dann plötzlich Kevin Seagal ein. Ja, der konnte mir sicher helfen!Ich wusste, dass er auf der Arbeit schon oft damit geprahlt hatte, dass es kein Sicherheitssystem geben würde, in das er sich nicht „hineinhacken“ könnte und er sogar schon mal deswegen vor Gericht stand und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wurde.
Ich hatte mich immer gut mit ihm verstanden und er würde mir bestimmt helfen, etwas über Simon Webb herauszufinden. Vielleicht konnte er ja gar nicht der Täter sein?
Kevin brauchte nicht lange, bis er mir die ersten Informationen zukommen ließ: Simon Webb lebte nur etwa sechs Kilometer entfernt von dem Ort, an dem Tommy entführt wurde- und er war vorbestraft wegen sexueller Belästigung und Nötigung Minderjähriger. Mir wurde schwindelig- es passte so gut zusammen!
Fieberhaft überlegte ich, wie ich nun weiter vorgehen könnte. Aber letztendlich liefen meine Überlegungen immer nur auf eines hinaus: ich musste selbst zu Simon fahren und versuchen, etwas herauszufinden.
Vielleicht konnte ich ihm ja irgendwie ins Gewissen reden, wenn er doch selbst als Kind so gequält wurde?Er wollte das, was er gerade tat, bestimmt gar nicht, versuchte ich mir einzureden, doch das
ließ mir die Bestie aus meinen Visionen auch nicht menschlicher erscheinen. War ich wirklich die einzige, die Tommy retten konnte?

Zwei Stunden später stand ich vor einem halb verfallenen Holzhaus.
Nervös strich ich mir eine Strähne aus dem Gesicht, ich war schweißnass, doch das kam nicht unbedingt von der frühsommerlichen Hitze.
Mit festen Schritten und erhobenen Kopf ging ich auf die Hütte zu, deren weißer Lack überall abblätterte.
Das rostige Gartentor quietschte, und ich zuckte kurz zusammen, ehe ich weiterging. Der Garten war total verwildert.
Es gab keine Klingel, also klopfte ich, erst zögernd, dann immer fester.
„Mr. Webb?“ Ich versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu bringen.
„Hallo, sind Sie Zuhause?“Er ist nicht da, dachte ich, und mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Doch dann öffnete sich die Tür und eine rothaarige, gebückt gehende Frau starrte mich an. Ihr Haar war zwar schon von vielen grauen Strähnen durchzogen und zu einem nachlässigen Knoten zusammengesteckt, doch ich erkannte sie sofort.
„Mrs. Webb?“
„Was wollen Sie?“Ihre Stimme klang abweisend.
„Mein Name ist Kathy Morgan“, fuhr ich fort. „Ich habe als Kind eine Straße weiter als sie und ihr Sohn gelebt.“
Misstrauisch beäugte mich die alte Frau.
„Ich wollte zu Simon - ist er da?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme, als ich seinen Namen aussprach, zu zittern begann.
Ein dunkler Schatten huschte über das Gesicht der Frau.
„Nein, ist er nicht. Was wollen Sie von ihm?“, fuhr sie mich unfreundlich
an und machte Anstalten, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Ich wusste, jetzt ging es um alles oder nichts.
„Mrs. Webb, warten Sie - bitte hören sie mich an. Ich glaube, ihr Sohn ist gerade dabei, etwas schreckliches zu tun, etwas, dass er im Grunde genommen gar nicht tun will!“
Erschrocken starrte sie mich an. „Mein Simon ist ein guter Junge, was erlauben Sie sich!“ rief sie aus und schlug die Tür zu.
Ich spürte, dass sie es wusste. Ich sah es deutlich vor mir.
„Ms. Webb, bitte - wo ist Tommy? Sie können ihn noch retten - und damit auch ihren Sohn!Sie konnten ihn damals nicht beschützen - doch jetzt können Sie es!Bitte, Ms. Webb!“ Doch das Haus blieb tot.
Ich klopfte noch einmal vergeblich gegen die Tür, rief und flehte, doch es tat sich nichts. Und doch, irgendwie hatte ich das Gefühl, genau das richtige getan zu haben. Das meine Aufgabe erledigt war.

Noch am selben Abend war es in den Nachrichten zu hören: der kleine Tommy war auf einem alten Bauernhof gefunden und der Täter, ein fünfundzwanzigjähriger Mann namens Simon Webb, dort festgenommen worden. Es hieß, seine eigene Mutter hätte ihn und sich selbst angezeigt und die Polizei zum Tatort geführt. Tommy ging es den Umständen entsprechend gut und er war bereits in die Arme seiner glücklichen Eltern zurückgekehrt. Simon Webb schwieg eisern zu den Vorwürfen.
Doch seine Mutter hatte bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt, in dem sie auch erzählte, dass Simon auf genau diesem Bauernhof von seinem eigenen Onkel jahrelang missbraucht worden war.

Ich starrte hinaus in den Nachthimmel. Ich fühlte mich so frei und glücklich wie noch nie in meinem Leben. Auch wenn die Träume damals aufgehört hatten ,so hatte ich doch immer einen Schatten, eine Bedrohung gefühlt. Ich hatte es jedoch nie einordnen können.
Jetzt war es vorbei. Nun konnte ich endlich einen neuen Anfang wagen.
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Tag der Veröffentlichung: 19.10.2010

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