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„Was schenke ich dem kleinen Bengel bloß?“ Missmutig trat Michael gegen eine leere Coladose, die auf dem Bürgerstein lag.
„Bitte“, flehte unerwartet ein obdachloser Mann, der mit zwei Krücken an einem verlassenen Gebäude lehnte; ihm fehlte sein linkes Bein. „Bitte“, wiederholte er - seine Lippen waren von der Kälte des Oktoberwindes blau geworden - „haben sie vielleicht ein paar Cent für mich. Ich habe schrecklichen Hunger.“
„Verzieh dich! Such dir ne Arbeit“, erwiderte Michael kalt und ging ohne Gewissensbisse weiter.
Diese Penner, dachte er, sollen die sich doch beim Sozialamt melden; wofür gibt’s denn das sonst?
Jetzt passierte er eine Hausecke und gelangte in eine heruntergekommene Einkaufsstraße, die zu den schlimmsten in Frankfurt zählte. Dem gutverdienenden Geschäftsmann war das egal. Im letzten Moment war er von der Autobahn abgefahren, um seinem Sohn ein Geburtstagsgeschenk zu kaufen. Und diese Gegend schien ihm billig genug zu sein; hier würde sich schon etwas geeignetes finden lassen.
Ich würde dem kleinen Scheißer ja was besseres besorgen, hätte er mich nicht so hintergangen und wäre mit seiner geldgeilen Mutter weggezogen, dachte Michael grimmig und schaute zur anderen Straßenseite hinüber, wo sich eine gut getarnte Prostituierte einem vorfahrenden Freier anbot.
Scheiß Huren, dachte Michael und schaute angewidert zur Seite. Da bemerkte er einen heruntergekommen Buchladen, der ihn irgendwie magisch anzog. Im Schaufenster waren meist alte große Bücher ausgestellt, zwischen denen sich ab und an ein moderneres gesellt hatte.
„Richards Allerlei“, las Michael laut von dem verschnörkelten Holzschild über der Tür ab und schmunzelte.
Mit Sicherheit ein alter Idiot, der auf seine Bücher vertraut. Wann lernen die Menschen endlich, dass das Leben ein harter Wettkampf ist und einem nichts geschenkt wird; besonders nicht, indem man schwachsinnige Bücher liest. Die bringen einen doch nicht weiter.
Er trat ein. Eine düstere Atmosphäre und der Geruch alter Bücher umgab ihn. „Pah“, stieß der unhöfliche Besucher hervor, „hier stinkt's.“
„Einen schönen guten Abend“, entgegnete eine freundliche Stimme, die weiter hinten aus dem vollgestellten Laden kam.
Michael schlenderte durch das Geschäft und sah sich um. Er ging an einem großem Bücherregal vorbei, das sich derartig unter der Last der vielen Bücher nach vorne neigte, dass sich jeder Besucher in acht nehmen musste. Schließlich gelangte er an eine kleine Theke, auf der eine altmodische Kasse mit Drehkurbel stand. Dahinter saß ein älterer Herr, der eine Lesebrille auf der Nase trug und in einem Buch las, das sich auf seinem Schoß befand.
„Typisches Klischee für einen Buchverkäufer“, bemerkte Michael unfreundlich und musterte die Erscheinung des ergrauten Mannes.
„Wie bitte?“ Der Mann hinter der Theke sah nun von dem Buch auf und schaute über seine Brille hinweg in die hellblauen Augen des großgewachsenen Ankömmlings.
„Nichts, nichts. Ich dachte nur gerade daran, dass zu so einem Laden kein besserer Verkäufer als sie passen könnte. Alt, buckelig und irgendwie seltsam. Wie in diesen Filmen eben.“ Der tüchtige Geschäftsmann nahm kein Blatt vor den Mund und pflegte immer das zu sagen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Alles andere, so meinte er, sei Heuchelei und würde einen im Leben nicht weiterbringen.
Die Augen des alten Mannes funkelten. „Wie kann ich ihnen helfen?“, fragte er gelassen und lächelte Michael freundlich entgegen.
Einen Moment lang verlor sich Michael in den tiefen mandelbraunen Augen des buckligen Verkäufers. Sie strahlten eine Klarheit aus, die Michael anfänglich verunsicherte. Er hatte das Gefühl, dass diese Augen direkt in seine Seele schauen konnten. Das war ihm unangenehm.
„Ich“, er pausierte kurz, um sich aus dem Augenkontakt zu befreien, „suche etwas für meinen Sohn. Irgendein Buch, das Kinder so lesen. Eigentlich wollte ich in dieser heruntergekommen Gegend gar nicht anhalten, wie man vielleicht an meinem Äußeren sieht.“ Michael schaute an sich herab und zog sein teures Jackett zurecht, als wollte er damit Eindruck schinden.
„Wie alt ist denn ihr Sohn?“, fragte der Buchhändler, ohne auf die eitle Bemerkung des unfreundlichen Kunden achten.
„Mal schauen“, Michael überlegte unerwartet lange, „er wird heute 12 Jahre alt.“
„Und für was interessiert sich ihr Sohn?“ Der bucklige Verkäufer legte das Buch zur Seite und stand auf.
„Na für Bücher.“
Der alte Mann lächelte milde. „Für welche Art von Büchern?“
„Was weiß ich denn!? Geben sie mir irgendwas. Ich weiß sowieso nicht, warum der Bengel andauernd hinter irgendwelchen Büchern hängt. Bücher sind nur was für Träumer, die nichts erreichen.“
Einen Moment lang kehrte Stille ein und der Buchhändler sah Michael durchdringend an; als würde er aus ihm wie aus einem Buch lesen.
„Was ist nun?“, fragte Michael nach einigen Sekunden und wunderte sich über das eigentümliche Verhalten des Mannes.
„Ich glaube, ich habe da genau das richtige für sie“, sagte der Buchhändler geheimnisvoll.
„Das hoffe ich“, erwiderte Michael arrogant und sah der buckligen Gestalt hinterher, die tiefer in den Laden hineinlief und schließlich von einigen Regalen verdeckt wurde.
Wenig später kam der Verkäufer mit einem merkwürdig schimmernden Buch zurück.
„Was ist denn das? Eine Pufflektüre?“ Der Einband des Buches trug weder eine Inschrift, noch ließ sich anhand des Äußeren vermuten, um was es sich handelte oder wie alt es wohl sein mochte. Entfernt erinnerte es an ein Tagebuch, dessen schwarze Farbe merkwürdig im Licht schimmerte.
„Es wird ihnen gefallen.“ Der Alte blickte Michael nun geradewegs in die Augen.
„Mann, sind sie denn völl..ig..“, Michael beendete den Satz nicht. Wieder waren da diese klaren mandelbraunen Augen, die ihn auf eine seltsame Weise fesselten. Ohne es zu bemerken oder es zu wollen, griff er nach dem schimmernden Buch.
„Bitte gehen sie. Wir schließen jetzt“, sagte der Buchhändler plötzlich und schob Michael, der wie hypnotisiert schien, vor die Tür.
„Ich wünsche ihnen viel Spaß mit dem Buch“, sagte der bucklige Mann und grinste wissend, während er die alte Holztür des verwitterten Buchladens abschloss.
„Was zum...“ Michael blinzelte mehrmals und kam allmählich wieder zu sich. Geräusche wurden lauter, der Wind fühlte sich spürbar kälter an: Er war wieder bei Sinnen. Langsam spulte sein Gehirn die vergangenen Szenen ab, als hätte Michael gar nicht daran teilgenommen.
„Was war denn das für ein Spinner?“ Nachdenklich ging Michael die Straße entlang, ging um eine Hausecke und sah auch schon seinen weißen Mercedes, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Michael überquerte die Straße und entriegelte seinen Wagen mittels seiner Fernbedienung. Er stieg ein, warf das Buch nachlässig auf den Beifahrersitz und zündete sich hastig eine Zigarette an. Nachdenklich saß er in seinem teueren Wagen und zog von Zeit zu Zeit an seiner Filterzigarette.
Da: Sein Blick haftete immer wieder auf dem Buch. Michaels Gehirnwindungen glühten und gierten mehr und mehr danach in das ungewöhnliche Objekt zu schauen. Was verbarg dieser geheimnisvolle Einband?
Hastig quetschte er den Zigarttenstummel in den überfüllten Aschenbecher und griff nach dem Buch, um es zu öffnen. Doch etwas stimmte nicht.
„Wie soll man das Ding denn lesen, wenn man es nicht öffnen kann?“ Michael drehte das Buch mehrmals, konnte jedoch keine Öffnung ausmachen, als würde es sich um ein kleines schmales Paket handeln. Michael wurde wütend, fühlte sich betrogen: „Der Alte hat mich verarscht“, fluchte er und dachte daran auszusteigen und zurückzugehen. Dem Krüppel würde er schon zeigen, wo es langginge, dachte er bei sich und bog das Buch unbewusst so stark, dass der Einband beinahe einriss. Dann hielt Michael inne; etwas hatte sich verändert. Er schaute auf die merkwürdige Lektüre, die sich nun wie von Zauberhand geöffnet hatte.
„Ist das so ein scheiß Ding aus nem Zauberladen?“ Michael hatte sich tierisch erschreckt, wollte sich das aber nicht eingestehen. Er stutzte kurz und wusste nicht so recht, was er davon halten sollte.
Er schlug die ersten Seiten auf, bis er den Titel des Buches fand. Sein Herz stockte: „Michael Gutendorf“, stand dort.
Was hat mein Name dort zu suchen, fragte sich Michael, und erschrak im ersten Moment. Doch als er realisierte, dass Übereinstimmungen dieser Art nicht unbedingt ungewöhnlich waren, beruhigte er sich wieder.
So ein Blödsinn, versuchte er sich zu beruhigen, als wenn das Buch übernatürliche Kräfte hätte.
Langsam blätterte er weiter und las die ersten Zeilen des Buches, die die Geburt eines Babys beschrieben. Michael las weiter, übersprang einige Kapitel, las anschließend wieder intensiv und übersprang dann wieder einige Seiten. Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn, die sich mittlerweile in tiefe Falten gelegt hatte.
Michael musste unweigerlich feststellen, dass in diesem Buch sein Leben niedergeschrieben wurde. Jedes Detail war vermerkt: Seine Geburt, seine erste Freundin, sein erstes Sexerlebnis, sogar seine intimsten Gedanken und Ängste waren dort zu finden, von denen er niemals jemandem etwas erzählt hatte.
„Wie ist das möglich?“, fragte sich Michael und sank in den Ledersitz seiner Nobelkarosse zurück. „Was geht hier vor sich?“
Er las weiter und weiter, verschlang seine eigene Vergangenheit. Der sonst so unnahbare und arrogante Geschäftsmann war fassungslos. Der Gedanke, dass jemand über alles bescheid wusste, was er getan hatte, ließ ihn erschaudern.
War das das Werk des alten Buchhändlers?, schoss es ihm durch den Kopf. Michael nahm das Buch und verließ seinen Wagen. Als er seinen Schlüssel zücken wollte, um die Limousine elektronisch zu verriegeln, glitt ihm das Buch aus der Hand und landete auf dem schmutzigen Asphalt, sodass man die aufgeschlagenen Seiten sehen konnte.
„Scheiße!“ Michael bückte sich und griff nach dem schwarzen Mysterium. Als mit abnehmender Distanz die Buchstaben an Klarheit gewannen, hielt Michael inne: 'Michaels Ende' stand als Kapitelüberschrift auf der weißen Seite. Das Herz des Softwarevertreibers schlug abermals höher. War es möglich, dass in diesem Buch sein Ende, sein Tod beschrieben wurde? War das möglich?
Langsam hob er das Buch auf und lehnte sich apathisch gegen seinen Wagen. Michael las laut vor: „Erschüttert über das, was ich gerade gelesen hatte, lehnte ich mich an meinen Wagen und las laut aus dem Inhalt des seltsamen Buches vor, in dem mein Ende wohl schon niedergeschrieben wurde. Plötzlich kam ein muskulöser Mann um die Ecke gerannt, der auffällig schwitzte und anscheinend auf der Flucht zu sein schien.“
Michael schaute auf und musste feststellen, dass gerade das eingetreten war, was er gelesen hatte. Ein langhaariger Mann war gerade um die Ecke gerannt und schaute nun mit grimmigen Gesicht zu Michael hinüber.
„Peng?“, las Michael nervös weiter vor, „was soll denn das bedeut...“
Die Neun-Millimeter Patrone unterbrach Michaels Gedankengang und schoss aus dem Lauf der Pistole auf ihn zu. Erbarmungslos bahnte sie sich den Weg durch seinen Brustkorb. Alle Kraft verließ mit einem Mal seinen Körper und das schwarze Tagebuch glitt ihm aus den Händen. Michael spürte, wie seine Knie weich wurden. Er rutschte an seinem Wagen hinab und blieb mit weit aufgerissenen Augen auf dem Asphalt liegen.
Der langhaarige Mann steckte die Automatik-Pistole wieder in seine schwarze Lederjacke und rannte zu dem am Boden liegenden Mann hinüber. Er durchsuchte den tödlich Verwundeten hastig und stahl schließlich den Schlüssel für dessen Mercedes, mit dem er kurz darauf mit quietschenden Reifen davon fuhr.
Michael spürte einen starken pochenden Schmerz in seiner Brust, der anschließend abklang und zu einem leichten Ziehen wurde. Er lag auf dem kalten Asphalt und war unfähig sich zu bewegen. Sein Körper fühlte sich so unglaublich schwer an und Michael wurde müde. Er begriff, dass es mit ihm zu Ende gehen würde.
Da sah er eine faltige Hand auf ihn zu kommen.
Gerettet, dachte Michael und bewegte mit aller Kraft seinen Kopf in die Richtung, aus der die Hand gekommen war. Er schaute nun in zwei völlig klare Augen, die alles zu wissen schienen.
Die Hand griff nach dem Buch und klappte es auf: „Und als ich den alten buckligen Mann aus dem Laden sah, gefror mir das Blut in den Adern. Er hatte das Buch aufgehoben und las mir daraus vor. Ich blickte ihn an und begann zu weinen. All der Hass gegen andere Menschen, all meine Wut und Arroganz waren die ganze Zeit nur der Deckmantel für einen weichen verletzbaren Kern gewesen. Ich habe immer versucht unangreifbar zu sein und habe dabei gar nicht gemerkt, wie mich alle Menschen allmählich verlassen haben. Jetzt begreife ich, was man sich über den letzten Moment kurz vor dem Tod erzählt. Man versteht, wie wertvoll das Leben war, das man hatte und versucht alles Schlechte abzulegen.“
Der bucklige Mann schaute nickend zu Michael hinab und nahm seine Hand. Michael lächelte schwach und schaute in die klaren mandelbraunen Augen des Buchhändlers, die ihn fesselten und schließlich mit sich nahmen.

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Tag der Veröffentlichung: 13.10.2009

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