„Wie trist die Welt doch ist“, dachte Peter Gregory und schmunzelte, während er in die tiefe und verregnete Nacht hinaussah. Starker Regen prasselte gegen das große Fenster des Hillary – Hotels, sodass die einzelnen Lichtquellen aus der Stadt verschwammen. Ein greller Blitz mit anschließendem heftigen Donner erhellte den Himmel. Er offenbarte das Grausame in der dunklen Wohnung. Bei jedem kraftvollen Aufhellen und Donnern kroch das Blut ein paar Zoll weiter den Parkettboden des Wohnzimmers entlang.
Die Minibar war noch offen gewesen, Frank hatte sich in der Nacht noch bedienen wollen, als er plötzlich durch eine dünne Klaviersaite in die Realität zurück gezogen worden war. Zwanzig Jahre alter Sherry, den der berühmte Journalist zuvor noch in seiner verängstigten Hand gehalten hatte, war gleichzeitig Opfer und Zeuge des bezahlten Mordes geworden.
Frank Warron, dessen Name nun nicht mehr unter einem aufreißenden Artikel über Drogenmaschinerien stehen würde, gehörte fortan der Vergangenheit an. Der Journalist hatte zu gut recherchiert, was einigen mächtigen Leuten nicht gefallen hatte.
In den letzten Sekunden seines Lebens hatte er sich mit aller Kraft zu wehren versucht, während sich seine herausquillenden Augen langsam blutrot gefärbt hatten. Der erfolgreiche Schreiberling der New York Times hatte um sein Leben gestrampelt, obwohl er wusste, wie selbstsicher ihm der Tod ins Angesicht gegrinst hatte. Diese maternde Machtlosigkeit gegenüber seines Schicksals war viel stärker gewesen als der widerlich erdrückende Schmerz, der zunehmend Besitz von seiner fetten Kehle genommen hatte. Sechsundfünfzig Sekunden mit einer Klaviersaite waren ausreichend gewesen um ihn sicher zu erledigen.
Peter schaute noch einmal zum Toten hinab und sah ihm in die starren Augen. Wenig später erhellte abermals ein Blitz die Wohnung und die schwarze Gestalt war verschwunden.
Die Wohnungstür des Hotelzimmers wurde lautlos geschlossen, Peter schaute sich mit routinierten Blick im Flur um und verschaffte sich Gewissheit darüber, wie perfekt, ja kaltblütig gut und unsichtbar er seine Arbeit verrichtet hatte.
Ein langer, schlanker Finger unter einem schwarzen Lederhandschuh drückte in dem luxuriös verzierten Fahrstuhl des Hotels die „EG“ – Taste; die digitale Anzeige im Fahrstuhl zeigte in gold-orangefarbenen Lettern 23:59 Uhr an; dann verwandelten sie sich in 00:00 Uhr: Mitternacht, es war vorbei.
Ein Klingeln schallte einen Tag später störend durch die kaum eingerichtete Wohnung des Killers.
Er nahm ab: „Ja“, sagte Peter mit monotoner Stimme.
„Gut gemacht“, hauchte die kratzige Stimme am anderen Ende, „ich will, dass du noch etwas für mich erledigst. Die Bezahlung verdoppelt sich, da es eine etwas“, der Mann am anderen Ende nahm sich eine Sekunde Zeit, „heikle Angelegenheit ist.
Peter schwieg.
„Gut. Elm-Street 500. Ein Irrenhaus außerhalb der Stadt, es ist nicht zu übersehen. Kümmere dich um die Patientin 2571B. Das Geld ist bereits auf deinem Konto.“
Beide legten zeitgleich den Hörer auf. Peter hatte die notwendigen Informationen erhalten und musste vor Auftragsantritt nur noch eine Kleinigkeit überprüfen. Er schlug seinen Laptop auf und vergewisserte sich seines Geldes, welches in fünfstelliger Pracht auf seinem Konto eingegangen war; damit war das Todesurteil von 2571B besiegelt.
Wenig später rollte der schwarze Lincoln beinahe lautlos aus der breiten Einfahrt und schoss kurz darauf über die Jeremy-Street in Richtung des weiter entfernt liegenden Außenbezirks voran. Nach etwa drei Meilen passierte Peter die Washington-Avenue und bog in eine weitführende Straße ein, an deren Ende in weiter Ferne eine blaue Leuchtreklame zu erkennen war. Rundherum war nur freies Feld mit kurzgeschnittenem Gras zu sehen, kein einziger Baum, nichts weiter. Eine kühle Nachtböe trug den Geruch frischgeschnittenen Grases durch das halb geöffnete Fenster des Lincoln herein, der unterdessen von vielen Schlaglöchern hin und her geworfen wurde. Das gelbliche Licht der Straßenlaternen tauchte die Umgebung in eine Welt, die an einen Traum erinnerte. Peter verfiel dieser Verlockung und schwelgte schon bald in Gedanken.
In letzter Zeit war er bei seinen Aufträgen zwar immer erfolgreich gewesen, stellte sich aber zunehmend mehr Gedanken darüber, was er tat: War es richtig zu töten? Ergab es einen Sinn? Gab seine Existenz einen Sinn?
„Fuck“, fluchte Peter plötzlich und trat mit aller Kraft auf die Bremse, während er das große Lederlenkrad bis zum Anschlag gegen den Uhrzeigersinn drehte. Der große Wagen geriet ins Rutschen und glitt mit quietschenden Reifen seitwärts ein kleines Stück die sanierungsbedürftige Straße entlang. Der Lincoln wackelte bei einige Schlaglöchern bedrohlich hin und her, hielt sich aber auf den Reifen und kam schließlich zum Stehen. Peter umschloss immer noch das Lenkrad seines Wagens. In diesem Moment verfluchte er sich, dass er in letzter Zeit so wenig bei der Sache war. Wütend über seine Träumereien verließ er seinen Wagen, der nun quer auf der Landstraße stand und vergewisserte sich, ob er das Wesen, das plötzlich auf die Straße gerannt war, getroffen hatte. Mit einer Stiftlampe leuchtete er den Asphalt ab und sah, dass er einen Hasen tödlich verwundet hatte. Peter beugte sich zu dem Tier herunter, welches noch atmete. Er beobachtete es und sah ihm in die Augen. Die Augen funkelten leicht auf und das Tier hörte auf zu atmen. Es war tot.
Peter stieg zurück in den Wagen und startete den Motor, während er zügig die Fahrertür schloss. Er schaltete auf ‚Drive’ und fuhr weiter.
„St. Hellen Mental Hospital“, las Peter nun klar und deutlich auf der blauen Leuchtreklame, schaltete den Motor aus und verließ seinen Wagen. Leise huschte er über den Kieshof des Besucherparkplatzes und passierte einen hohen Maschendrahtzaun. Er holte einen Seitenschneider aus seiner Sporttasche hervor und schnitt ein Loch hinein. Wenig später betrat er das eingezäunte Gelände, sah sich um und schlich zu der Hausecke der Südostseite des Gebäudes. Er schaute auf den Grundrissplan und ging nach mehrmaligem Ausspähen zu einer Tür hinüber, deren oberes Sichtfenster mit einem Gitter versperrt war. Eine Gardine verhinderte die Einsicht in das dahinter liegende Zimmer. Leise zog er seine Sporttasche über den Tau bedeckten Rasen zu sich heran und entnahm zwei Dietriche, mit denen er lautlos die Tür öffnete. Als er sie wieder hinter sich geschlossen hatte, wartete er einige Sekunden und wagte nicht zu atmen. Er lauschte. Niemand schien das Quietschen der Tür vernommen zu haben, sodass Peter routiniert fortfuhr. Er griff in seine Sporttasche und holte einen weißen Ärztekittel samt gefälschtem Ausweis heraus. Nachdem er sich umgezogen und den in Plastikschutz gehüllten Ausweis an die rechte Brusttasche gesteckt hatte, versah er seine 9 mm Beretta mit einem Schalldämpfer und versteckte sie unter dem Ärztekittel. Dann verstaute er die schwarze Tasche unter dem Regal zu seiner rechten.
Peter schaute zum Medikamentenregal hinüber und schien etwas zu suchen. Er wurde fündig und entnahm eine Spritze mit Kanüle. Er steckte die Kanüle auf die Spritze und füllte sie mit einer letalen Dosis Valium. Daraufhin versah er die Spritze mit einer Schutzkappe und verstaute sie ebenfalls in seinem Kittel. Der Auftragskiller ging zur Tür hinüber und schaute durch das Schlüsselloch. Niemand da.
Er betrat den beleuchteten Flur im Erdgeschoss der psychiatrischen Anstalt. Unbemerkt gelang er in das zweite Stockwerk, wo sich außer der Patientenkartei, auch 2571B, das Opfer, befand. Peter betrat zielgerichtet den östlichen Korridor mit den Zimmernummern 45B-75B. Einige lautlose Schritte später stand er vor dem Schild mit der Aufschrift: ‚2571B Clarissa Barrets’. Er trat ein und erschreckte eine Pflegerin mit blonden Haaren fast zu Tode.
„Heiliger“, fluchte sie, „haben Sie mich erschreckt!“ Sie fasste sich mit erleichtertem Gesichtsausdruck auf die üppige Brust. „Ich dachte Dr. Higgens hat heute Schicht?“, sie blickte Peter fragend an und schaute auf den Ausweis. Peter sah sich nervös um und bevor er etwas sagen konnte, bemerkte die etwas ältere Pflegerin: „Ach so, sie sind der neue junge Pathologe.“ Sie lächelte freundlich und nahm einen verschlossenen Karton mit dem Namen der Patientin von dem frisch bezogenen leeren Bett, drehte sich zu Peter um und drückte ihm diesen in die Arme.
„Danke“, sie schaute abermals auf den Ausweis, „Garry. Dann muss ich nicht in die Pathologie laufen. Übrigens haben wir eine Kanüle gefunden; sie wird sich also selbst umgebracht haben.“ Die knapp fünfzigjährige Pflegerin ging an Peter vorbei in den Flur hinaus und gab ihm beim Vorbeigehen einen Klaps auf den Hintern, bevor sie zum Abschied sagte: „Sei nicht so schüchtern!“ Dann verschwand sie.
Der Auftragskiller stand nun allein und völlig perplex in dem ehemaligen Zimmer des Opfers. Niemals hätte er damit gerechnet ein bereits totes Ziel vorzufinden, geschweige denn dessen persönliche Sachen in Händen zu halten. Obwohl er hätte froh sein können, sich Abreit erspart zu haben, war er es nicht. Im Gegenteil. Ihn überkam ein eigenartiges Gefühl der Melancholie, als ob ihm der Tod dieser Frau Leid täte. Verwirrt ging er in den Korridor hinaus, suchte das Treppenhaus und stieg die Stufen bis ins Untergeschoss hinab, wo sich die Pathologie befand. Auf dem Weg dorthin lief ein junger Arzt an ihm vorbei, der Peter misstrauisch nachschaute. Ein paar Treppen weiter passierte der Auftragskiller eine Flügeltür und gelangte in die Pathologie. Ein Arzt war in der schaurigen kalten Atmosphäre beschäftigt. Er schnitt gerade einem männlichen Leichnam den Brustkorb auf und stoppte die Kreissäge, als er Peter sah. Der blutverschmierte Pathologe nahm die Kunststoffschutzbrille ab, die mit Kochen- und Blutresten beschmiert war, und ging auf den vermeintlichen Arzt zu.
„Kann ich ihnen weiterhelfen? Wer sind sie?“
„Ich bin vom neurologischen Institut der Universität und bin auf der Suche nach dem Leichnam von Clarissa Barrets“, antwortete Peter überzeugend.
Dr. Egon sah ihn skeptisch an und sagte: „Ich kenne Prof. Dr. Brians vom neurologischen Institut sehr gut und korrespondiere sehr häufig mit ihm. Heute sowie den ganzen Monat sind keine Subjektübereignungen eingetragen.“ Die Gesichtszüge des blutverschmierten Doktors wurden mehr und mehr skeptischer.
„Ich bin für eine Begutachtung hier, Dr. Egon, und habe hier die persönlichen Sachen der kürzlich Verstorbenen. Dabei handelt es sich selbstverständlich nicht um eine Übereignung“, die Gesichtszüge Peters spannten sich verärgert an, „bitte zeigen sie mir den Leichnam, damit ich endlich nach Hause kann.“
„Ach so, nun gut. Anscheinend hat es Roger einfach nur vergessen zu erwähnen. Folgen sie mir bitte.“ Sie durchquerten die geflieste kühle Halle, passierten einige Seziertische aus Edelstahl und gelangten schließlich an die nummerierten Kammern, in denen die Toten auf Bahren gelagert wurden. Das monotone Licht der Halogenröhren tauchte die bläuliche Haut der attraktiven Einunddreißigjährigen in eine emotionslose Wachsfigur. Beim Anblick der Toten krampfte sich Peters Magen schlagartig zusammen, sodass er vor Schmerz das Gesicht verzog.
„Alles in Ordnung?“, fragte der misstrauische Arzt.
„Es geht schon. Ist der Stress. Ich mache nur schnell den Bericht fertig und dann lasse ich sie in Ruhe.“
„Ist gut. Lassen sie die Kammer nicht zu lange offen“, warnte der Pathologe, drehte sich um und setzte seine Arbeit an der Kreissäge fort.
,Was ist los? Reiß dich zusammen Peter!' Er blickte zu dem beschäftigten Arzt zurück, dann überprüfte er sogleich den Puls an der Hauptschlagader der Toten. „Sicher ist sicher“, dachte er und stellte ihren Tod fest.
Ohne genau zu wissen, was er gerade tat, legte er die linke Hand auf die geschlossenen Oberlider ihrer Augen und öffnete diese. Als er in die toten Augen blickte, hatte er für den Bruchteil einer Sekunde eine Art Vision. In dieser stand er vor einem Spiegel in einer Toilette und sah in ein Paar toter Augen, die plötzlich zu weinen begannen.
Wieder in der Gegenwart schrak er von der Toten zurück, drehte sich verwirrt um, schnappte sich die Kiste mit den persönlichen Sachen und verschwand. „Hey, Sie müssen noch unterschreiben!“, rief der Pathologe dem Flüchtigen hinterher. „Die Bahre ist ja auch noch offen! Was soll das?“ Dr. Egon griff zum Telefon und wählte die Notfallnummer für den internen Sicherheitsdienst. Indes war Peter schon in das Erdgeschoss geeilt, um durch den Medikamentenstauraum des Instituts wieder zu verschwinden. Kaum hatte er die Tür des Stauraumes hinter sich geschlossen, hörte er laute Sirenen, die das Institut verräterisch alarmierten. Jetzt wurde die Zeit knapp; Peter entkleidete sich bis auf seinen schwarzen Dress, verstaute die Kiste in seiner Sporttasche, die er mittlerweile wieder hervorgeholt hatte und verschwand, wie er gekommen war.
Die Hinterreifen des Lincoln bekamen beim heftigen Anziehen des Gaszuges vorerst keinen Halt auf dem Kiesboden, sodass den Verfolgern harttreffende Kieselgeschosse entgegenrasten und dem raffinierten Eindringling die Flucht ermöglichten. Peter sah auf die Sporttasche, die auf dem Beifahrersitz lag und musste unwillkürlich an die Kiste denken, deren Inhalt einmal Clarissa Barrets gehört hatte.
„Warum macht mich diese Frau so traurig?“ Der Gedanke an sie, ließ ihn nicht mehr los.
Er schloss seine Appartementtür und ging zügig ins Wohnzimmer hinüber, räumte mit einem Armstoß den Tisch ab und stellte die Sporttasche darauf. Mit zittrigen Händen entnahm er die Kiste. Er öffnete sie und sah hinein. Zwischen den vier Wänden befand sich nicht viel: Ein kleines in Leder gebundenes Buch, eine Art Erkennungsarmband, wie es in Anstalten Pflicht war, und ein goldener Ring. Ansonsten war sie leer. Peter war nun sehr neugierig geworden, nahm den Ring zwischen Zeige- und Mittelfinger und begutachtete ihn, bis er eine Gravur erkannte, die sich auf der Innenseite befand. Es war ein Ehering mit den Insignien eines Paares. „Martha und John Barrets 28.07.1975“, las Peter und legte den goldenen Ring auf den Holztisch, um ein weiteres Mal in die Kiste zu greifen, aus der er diesmal das Armband herauszog. Mit einem flüchtigen Blick erkannte er Name und Nummer der verstorbenen Insassin und legte nun auch dieses traurig beiseite. Zu guter Letzt ergriff er das in Leder gebundene Buch, löste den Lederriemen, der es verschloss, und öffnete es:
„14.März.1996,
Überschrift meines Lebens: Vom Waisen- ins Irrenhaus
Die Ärzte halten mich für krank und haben festgestellt, dass ich eine posttraumatische Schizophrenie aufweise [...] Ich bin nicht krank, sondern sie ist es, die mich dazu zwingt [...] Ich glaube nicht daran; ich bin doch nur so allein[...]“
Peter runzelte die Stirn und las weiter, während er in dem schwach beleuchteten Zimmer mit den großen Fenstern neugierig auf und ab ging.
„04.Oktober.1999,
Heute stürmt es gewaltig und ich wäre gerne auf dem Dach und würde mich hinunter stürzen, nur um bei meinen Eltern zu sein!“
Peter übersprang ein paar Seiten, da die schizophrenen Aufschriebe nur schwer zu verstehen waren und landete schließlich bei einem ganz besonderen Tag:
„29.April.2004,
Dr. Hiller sagte mir heute, dass sich mein Zustand extrem gebessert hat und ich sogar die Möglichkeit habe wieder ein normales und freies Leben zu führen. Meine Schizophrenie [...]“
Ein paar unleserliche Schriftzeichen folgten.
„Ich werde wieder gesund.“
"04.November.2004,
Liebes Tagebuch, es ist unglaublich! Heute war es endlich soweit. Der Detektiv, den ich vor ewigen Zeiten beauftragt hatte, hat mir heute einen Brief zugesandt, in dem hoffentlich die Namen meiner Familienangehörigen stehen, falls ich noch welche besitzen sollte. Ich werde ihn jetzt öffnen, drück mir die Daumen!“
Die folgenden Seiten waren leer geblieben und Peter fragte sich, wo dieser Brief bloß stecken mochte, da die Kiste ja bereits leer war. Instinktiv schüttelte er das Tagebuch und wie erhofft, flatterte ein zusammengefalteter Zettel heraus, den Peter vor dem tiefen Sturz bewarte und öffnete:
„Sehr geehrte Miss Barrets, 02.November.2004
zweifelsohne musste ich einige Kontakte spielen lassen, um zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen. Somit freue ich mich Ihnen nun endlich mitteilen zu können, dass Sie in der Tat noch lebende Verwandte besitzen, die im Anhang aufgeführt werden.
Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute und viel Erfolg bei der Kontaktaufnahme mit ihren Angehörigen.
Freundliche Grüße
Arthur Williams“
Peter nippte an seinem Whiskeyglas und nahm die zweite Seite des Schreibens zur Hand. Was er dort las, ließ sein Herz einen Schlag überspringen. Das bekannte stechende Gefühl tauchte wieder oberhalb seines Magens auf, doch diesmal stärker und unausweichlicher als je zuvor. Er ließ sich auf die braune Ledercouch fallen, während er ungläubig auf den Brief starrte:
„Ihr Vater: ehemals: John Barrets; gesucht wegen mehrfachen Mordes jetzt: Theodor Parker; wohnhaft in Michigan, genauer Aufenthaltsort unbekannt. (Ich rate von einer Kontaktaufnahme ab)
Ihr Zwillingsbruder: ehemals: Peter Barrets, jetzt: Peter Gregory; wohnhaft in Michigan, Detroit. Jeremystreet 202“
Diese vier Zeilen verschlugen Peter die Sprache; er war perplex, schaute sich verwirrt in der Wohnung um und realisierte noch gar nicht, was sich ihm gerade offenbart hatte.
Dann keimte Wut in ihm empor, wie er sie noch nie in seinem Leben verspürt hatte. Jemand hatte seine Schwester tot sehen wollen und ihn, Peter, als perverses Werkzeug benutzt.
„Big Boss“, ging es ihm schlagartig durch den Kopf. Das Whiskeyglas zerschellte bei dem Gedanken an der Zimmerwand. Tränen rannen über Peters Gesicht, seine Handknöchel knackten, während sie sich zu einer Faust zusammenzogen. Der Sinn seiner Existenz, den er solange gesucht hatte, war seine Schwester gewesen. Nichts hätte er sich mehr gewünscht. Und nun war sie tot. Er schwankte zwischen Traurigkeit und Wut. Er bebte innerlich, als würde in ihm ein Kampf ausgetragen werden. Schließlich siegte die Wut und er beschloss dem ‚Big Boss’ persönlich einen Besuch abzustatten.
Schnellen Schrittes eilte er in die Küche, öffnete die Bar, nahm einen ordentlichen Schluck aus der Whiskeyflasche und begab sich dann wieder ins Wohnzimmer, wo er den altmodischen Hörer von der Gabel nahm und wählte.
„Ja? Wer ist da?“, krächzte die raue Gangsterstimme.
„Hier ist Peter“, antwortete der Auftragskiller und versuchte seine Wut zu unterdrücken, damit er so ruhig wie möglich sprechen konnte, „ich muss dich treffen.“
„Was ist los?“
„Nun, ich habe einige Dokumente von Clarissa Barrets erhalten, die dich sicherlich interessieren dürften.“
„Was sind das für Dokumente?“
„Das sollte ich dir nicht am Telefon erzählen“, überzeugte ihn Peter.
„Gut. Wir treffen uns in einer Stunde unter der Brücke bei Dock 21“, forderte die raue Stimme.
Beide Seiten legten zeitgleich den Hörer auf.
Eine Stunde später stand Peter vor seinem Lincoln unter der Brücke am Dock 21. Weißer Odem verließ beim Ausatmen seinen Mund und verflüchtigte sich in die kalte Januarnacht. Er lehnte an seinem Wagen, die Beretta geladen und schussbereit.
Da. Scheinwerfer passierten eine Biegung und kündigten einen Wagen an, der sich als Stretchlimousine entpuppte. Zwei Meter vor ihm kam der lange, schwarze Wagen zum Stehen und schaltete den mächtigen V-8 Motor aus. Die hintere Tür und die Fahrertür öffneten sich. Vorne stieg ein bulliger Kerl aus, der lange schwarze Haare trug, die er nach hinten zu einem Zopf zusammen gebunden hatte; hinten ein etwas älterer Mann mit Hut, der die Tür hinter sich schloss und auf Peter zuschritt.
„Wo sind die Dokumente?“, fragte der alte Mann mit Schnurrbart fordernd und schaute Peter fragend an. Dieser holte langsam eine weißen Brief aus seiner Manteltasche.
„Gut gemacht, Peter“, der Gangsterboss verstaute den Brief in seiner Innentasche und sagte: „Das hast du wirklich gut und schnell erledigt; das soll mir eine Extraprämie wert sein.“ Der Ergraute mit dem schwarzen Armani griff in seine Hosentasche und holte sein Portemonnaie heraus, das vor Dollarscheinen fast zu platzen schien. Plötzlich hielt der alte Mann inne und wagte sich nicht mehr zu bewegen. Er fühlte den kalten Lauf einer Pistole auf seiner Stirn.
„Ganz ruhig Chauffeur, sonst ist dein Boss tot!“, rief Peter ruhig aber deutlich zu dem bulligen Fahrer hinüber. „Wirf deine Waffe langsam hier rüber. Eine schnelle Bewegung und ich puste dem Arsch hier die Gehirnwindungen weg!“ Der Chauffeur war mit der Situation überfordert, tat aber, was ihm aufgetragen wurde.
Stille.
Dann: ein Schuss. Es roch nach Blut, Gehirnwindungen und Schießpulver. Der bullige Kerl versuchte zu fliehen, wurde aber kurz darauf von drei präzisen Kugeln daran gehindert.
Leises Prasseln tauchte die Januarnacht nun in einen nebligen Schleier. Peter hatte die Beretta mit aufgesetztem Schalldämpfer herunter genommen und blickte nun traurig zu Boden. Er dachte an seine Schwester, erinnerte sich an seine Traurigkeit im St. Hellen Mental Hospital, an das Tagebuch und eine Frage nahm mehr und mehr Besitz von ihm. Eine Frage, die er sich schon viel früher hätte stellen sollen: „Warum sie? Sie war doch harmlos gewesen und außerdem nicht im geringsten eine Gefahr. Warum also hatte dieser Mistkerl ihren Tod gewollt?“
Der ehemalige Auftragskiller überlegte und lehnte sich wieder an seinen Wagen. Tränen stiegen seine Wangen hinab, bis ihm wieder die Brieftasche seines Auftraggebers einfiel, die durch die Wucht des Geschosses weggeschleudert worden war. Peter hob sie auf und entnahm den Ausweis. Der Name schlug ihm wie eine Panzerfaust ins Gesicht: Es war Theodor Parker, ehemals John Barrets, der Vater, der seine eigene Tochter hatte töten wollen. Peter war unfähig es zu begreifen und sah verwirrt umher. Er war unfähig seine Gedanken zu ordnen. Er taumelte einen Augenblick und wusste schließlich was als nächstes zu tun war:
„Dann werden wir letztendlich wieder zu einer Familie“, sagte Peter und legte sich den Lauf der Beretta an die Stirn. Es schlug Mitternacht, es war vorbei.
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2009
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