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Kalter Stahl
von Matthias Engelbertz




Früh am Morgen wachte Sebastian auf und starrte geistesabwesend an die weiße Decke des Schlafzimmers.
„Wieso habe ich sie getötet?“, war sein erster Gedanke.
Kalter Schweiß stand dem 33-jährigen auf der Stirn. Er richtete sich gerade im Bett auf und schlug die Hände vor's Gesicht. Es war verschmiert. Sebastian spürte noch die Spritzer darauf, die sich über Nacht mit seinem Schweiß zu einer schmierig roten Flüssigkeit vermischt hatten.
„Eisengeschmack“, ging es ihm durch den Kopf. Geschmack von Blut, das nicht von ihm stammte.
Letzte Nacht war es sehr spät geworden. Er wusste nicht mehr genau, wann oder wie er gestern nach Hause gekommen war. Das Einzige, an das er sich noch erinnerte, waren die leeren Schnapsgläser gewesen, die er auf dem Tresen irgendeiner schmierigen Kneipe vor sich zu einem Turm gestapelt hatte. Ohne sich von seiner weißen Kluft getrennt zu haben, war er irgendwann zwischen spät nachts und morgens entkräftet auf das Doppelbett im Schlafzimmer gefallen.
„Jeder hat mich dabei gesehen“, drang eine ängstliche, fast wahnsinnige Stimme durch seinen Kopf, der in diesem Moment zu dröhnen begann.
„Warum diese Bilder?“, unterbrach sein Gewissen die Stille, „immer und immer wieder quälen sie mich!“
Hass und Angst keimten aus seinem schlechten Gewissen hervor.
Sebastian drehte sich zur Bettkante und setzte sich hin. Er saß völlig regungslos da und verfluchte sein Missgeschick von vergangener Nacht. Er schüttelte den Kopf, um die schrecklichen Gedanken zu verbannen, doch es half nichts.
Er stand auf. Langsam schwankend bewegte er sich in die Küche, in der sie Beide immer gefrühstückt hatten. Sebastian wollte sich nicht fragen, warum sie heute nicht zusammen essen konnten, da er die schreckliche Antwort nur allzu gut kannte.
„Was habe ich getan?“, schrie er plötzlich und legte sich die Hände auf die Stirn.
Mit unglaublicher Wut riss Sebastian alles von der roten Anrichte herunter und tobte plötzlich wie ein Wilder durch die gesamte Kücheneinrichtung.
Sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen apathischer Abwesenheit und unbändiger Verzweiflung, die ihm die Tränen in die Augen trieb.
Er gab abermals unverständliche Laute von sich und schleuderte einen Stuhl gegen die Küchenwand, der daraufhin zerschmetterte.
Niemand konnte ihm die Last nehmen, die sein Herz zu erdrücken schien. Niemand war da, um ihn zu trösten; niemand wäre dazu in der Lage gewesen.
Wütend zerstörte Sebastian alles, was ihm in die Finger geriet - wie letzte Nacht.
Dann herrschte mit einem Schlag Stille. Sebastian saß nun eingekauert und verstört in einer Ecke des Raumes. Die ockerfarbene Tapete glotzte ihn teilnahmslos an. Er spürte den Schauer, der unaufhörlich und bitterlich seinen Rücken hinunterlief. Seine Augäpfel zitterten in ihren Höhlen unruhig hin und her.
Doch da: Ein metallischer Gegenstand, der unschuldig auf dem Marmorboden vor ihm lag. Dieser grinste hämisch und funkelte ihn verlockend an. Langsam hob Sebastian die Klinge auf und betrachtete sie fasziniert. Der Schmerz über den Verlust raubte ihm den Verstand. Er spürte den festen Metallgriff in seiner rechten Hand und stand mit wahnsinniger Entschlossenheit auf. Wackelig und mit dem Willen eines Mörders stellte er sich in die Mitte der zerstörten Designerküche.
„Es liegt gut in der Hand“, dachte Sebastian und bemerkte, dass seine Beine zu zittern begannen. Er drehte die Klinge, so dass sie auf seine Brust zeigte und umschloss den Griff mit all seiner Kraft. Er presste die Lider zusammen und ... stach zu.
Blut rann von der Schnittwunde über seine zerschundene Hand und fiel in einzelnen Tropfen zu Boden. Die weißen Marmorfliesen weigerten sich die verräterischen Blutstropfen aufzusaugen, sodass sich eine purpurne Lache aus Schmerzen und Verzweiflung bildete. Tränen folgten bereitwillig zu Boden und vermischten sich mit dem Blut.
„Vergib mir!“, glitt es flüsternd über seine blauen Lippen, dann geschah das Unausweichliche: Mit einem weiteren kräftigen Stoß bahnte sich der erbarmungslose Stahl den Weg durch seine Rippen. Ein Knacken war zu hören und dann ein stechender Schmerz zu spüren, der sich von der rechten Brust über den ganzen Körper verteilte. Das lange Messer ließ sich nichts anmerken, es war lediglich ein perverses Mittel zum Zweck.
Die Klinge war nun nicht mehr zu sehen und die Hand, die voller wahnsinnigem Tatendrang den schwarzen Metallgriff umschlossen hatte, glitt langsam ab und fiel schlaff am Körper hinunter. Sebastian taumelte, realisierte noch gar nicht, was er soeben getan hatte.
Dann brach er kraftlos zusammen.
Die leblose Hülle sank wie in Zeitlupe lautlos zu Boden und prallte schließlich mit einem dumpfen Schlag auf.
Reflexstörungen des sauerstoffarmen Gehirns, dessen Sekunden gezählt waren, ließen den Körper für einige Augenblicke ruckartig und unnatürlich zucken. Sebastians Augen starrten dabei gequält und unfixiert ins Leere.
Ein Klingeln zerfetzte die Totenstille, als hätte das Leben jenes Ringen mit dem Tod beschleunigt. Wieder ertönte der schrille Ton. Es war niemand mehr da, der das erlösende Gespräch hätte entgegennehmen können. Lediglich ein bisschen Wärme des toten Körpers ließ die Erinnerung an Leben nicht gänzlich verblassen.
Mit einem „Klick“ schaltete sich der automatische Anrufbeantworter ein und spielte die Begrüßung ab:
„Sie sind mit dem Anrufbeantworter von Claudia und Doktor Sebastian verbunden." Ein freudiges Lachen unterbrach die Ansage. ,,Zusammen sind wir die Arons. Wir sind gerade nicht da, also hinterlasst uns doch einfach nach dem Piiiiiiiieeeepton eine nette Nachricht.“
Als könnten die Wände um die Tragik der Situation weinen, erklang die Stimme eines sehr guten Freundes:
„Sebastian?!“
„Bist du da? Verdammt, nimm den Hörer ab! Ich versuch' Dich schon die ganze Nacht zu erreichen!“, rief die Stimme des besten Freundes erregt.
„Sie lebt, Sebastian! Claudia lebt! Du hast sie mit der OP gestern gerettet und nicht getötet. Deine Kollegen meinten, es sei ein Wunder gewesen, dass sie kurz nach deinem plötzlichen Verschwinden erwachte; trotz des enormen Blutverlustes ist sie stabil! Sie wird durchkommen, Basti“, schrie der Mann mit aufgelöster Stimme.
„Um die Formalitäten des Autounfalls kümmere ich mich. Du fährst ins Krankenhaus, sobald du wach bist. Endlich seid ihr wieder vereint. Also bis nachher. Bye.“
Ein weiteres Klicken war zu hören und der Anrufbeantworter schaltete sich wieder ab. Ein rotes Lämpchen begann periodisch zu leuchten und spiegelte sich in den starren glasigen Augen des Toten wieder, der mit rotem Cape friedlich inmitten der Küche lag.


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Tag der Veröffentlichung: 13.01.2009

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