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Wanne play?


Es war mein erster Tag an der neuen Schule.
Meine neue Klassenlehrerin hatte mich nach der Stunde zu sich gerufen um mir eine Einweisung zu geben, daher waren schon alle Schüler in die Pausenhalle gegangen, nur ich nicht.
Sie erzählte mir nichts Neues. Ich hatte den Verhaltenskodex schon dreimal gelesen und die Schulleitung hatte mir einen zweistündigen Vortrag über zusätzliche Paragraphen gehalten. Ich hatte weniger Rechte als die meisten Anderen, die diese Schule besuchten, schließlich war ich nur dank eines Stipendiums hier.
Als sie fertig war und mir wünschte, ich möge doch schnell Anschluss finden lächelte ich ihr zu und bedankte mich für ihre freundliche Einführung. So verlangte es der Kodex.
Und so kam es schließlich, dass ich den elitären Gang ohne Begleitung durchschritt. Es war erschreckend leise. Die Türen schienen den Hall ziemlich gut zu dämpfen.
Als ich die Treppe schon fast erreicht hatte, kamen zwei Hände wie aus dem Nichts und hielten Mund und Augen zu. Ich geriet in Panik. Da löste sich die Hand von meinem Mund und eine tiefe Stimme flüsterte mir ins Ohr: „Zu schreien wird dir hier nichts nützen. Du kannst es ja mal probieren.“
Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, während der Unbekannte mich höhnisch lachend in einen Raum stieß.
Er schloss die Tür und ließ die Hand, die meine Augen verdeckte, langsam sinken.
Er stand immer noch hinter mir und das Einzige, was ich erkennen konnte war, dass wir uns in einem der Klassenräume befanden.
„Ist das ein Streich, den ihr allen Neuen spielt?“, fragte ich mit zittriger Stimme, während ich mich langsam zu ihm umdrehte.
„Nein, das ist nur für dich.“ Seine Stimme ließ mich erschaudern und kurz innehalten, bevor ich ihn ansah.
Er war 1,90 groß, hatte kurze schwarze Haare und trug die grüne Uniform, die hier jeder tragen musste, samt den Schuhen.
Er lehnte sich ans Lehrerpult und musterte mich grinsend. „Du bist also die Neue.“
„Ähmmm, ja und?“ brachte ich stotternd hervor.
Was wollte er von mir?

“Claire White, oder?”
Ich nickte.
„Ich habe hier deine Akte.“ Er hob eine Mappe vom Tisch auf und begann sie durchzulesen.
„Durchweg Einsen, beeindruckend. Doch wirst du das auch halten können? Die Brownwood ist deutlich leistungsorientierter.“ Er sah mich durchdringend an.
Wollte er mir drohen?
„Was hältst du davon, wenn wir ein kleines Spiel spielen? Nichts ernstes, versteht sich.“
Er legte die Akte wieder auf den Tisch und stellte sich so vor mich, dass ich ihm unmittelbar in die Augen schauen musste. Sie waren braun, ein wunderschöner warmer Braunton, im Übrigen meine Lieblinsfarbe.
„Und was sagst du?“
„Was willst du von mir?“
Er lachte.
„Ich will ein Spiel mit dir spielen. Es ist hier immer so langweilig, doch du versprichst Abwechslung.“ Er beugte sich vor, so dass ich seinen Duft einatmen konnte und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Als er bemerkte wie ich erstarrte lächelte er.
„Du hast doch nicht etwa Angst vor mir oder?“, fragte er sichtlich amüsiert.
Ich war durch seinen umwerfenden Duft von Eichenholz und seine hypnotisierenden Augen immer noch so abgelenkt, dass ich kaum atmen konnte. Wie sollte ich da antworten?
„Du bist wohl nicht sehr gesprächig, was?“, sagte er grinsend, während er wieder ein paar Schritte zurücktrat.
Ich schüttelte den Kopf, ich musste mich wieder fangen.
„Das ist schon OK, dass macht es sogar noch etwas spannender.“
Er schien zu überlegen, bevor er weiter sprach. „Ich hatte mir folgendes überlegt: Du erzählst allen, ich sei dein Freund. Ich meine dein fester Freund, der mit dem du gehst. Du weißt schon, den ganzen Kram von wegen: „Ich liebe ihn, er hat mir zum Valentinstag Rosen geschenkt oder irgendetwas von dem Zeug, was ihr Mädchen so toll findet.“ Als er bei der Stelle angekommen war, wo er sagte ’Ich liebe ihn...’ musste ich anfangen zu lachen, denn er hatte versucht seine Stimme so zu verändern, dass er wie ein Mädchen klang.
Er starrte mich irritiert an, doch dann schien er zu begreifen und musste grinsen.
„Du weißt schon, was ich meine.“, sagte er wieder mit ernster Stimme.
Als ich mich wieder gefangen hatte. Antwortete ich: „Ja, schon klar. Aber wofür das ganze? Was bringt dir dass alles?“
„Das geht dich nichts an!“ fuhr er mich wütend an. „Tu es einfach.“
Er machte eine Pause, um sich wieder zu beruhigen.
„Wir sind in den gleichen Kursen, du wirst dich von nun an neben mich setzten.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Ich habe Wege und Mittel.“, sagte er. „Du willst doch auf dieser Schule bleiben, oder?“
Ich nickte benommen, die Brownwood war eine der besten Privatschulen. Wer hier seinen Abschluss machte, dem standen alle Türen offen. Meine alte Schule hingegen. Daran wollte ich gar nicht denken.
„Das ist gut, du wirst mir also keine Probleme bereiten.“

The Rules


„Die Pause ist fast vorbei und gleich haben wir Englisch.“, sagte ich zögernd.
Er blickte auf und schaute mir in die Augen. „Stimmt. Komm mit.“ Er griff nach meiner Hand und zog mich mit sich. „Ach ja und wehe du sagst irgendetwas, was mich gegen dich aufbringen könnte. Verstanden?“ Er ließ mir keine Zeit zum antworten, denn waren ziemlich spät dran und unser Englischlehrer stand schon an der Tafel und schreib Informationen über unsere nächste Lektüre an.
Als wir den Raum betraten ließ er meine Hand los, gab mir aber mit einem Blick zu verstehen dass mit ihm nicht zu spaßen war. Ich schluckte und blieb am Lehrerpult stehen.
„Du musst die neue Schülerin sein. Claire White, richtig?“ Ich nickte und reichte ihm den Zettel, denn ich im Sekretariat erhalten hatte und ließ ihm vom Lehrer unterschreiben. Dann drehte ich mich um und setzte mich auf den mir ’so großzügig’ angebotenen Platz neben ihn. Da fiel mir ein, dass ich seinen Namen noch gar nicht kannte. Ich versuchte auf einem seiner Hefte irgendetwas zu erkennen, doch anscheinend gehörte er zu der Art von Menschen, die es sein ließen ihre Besitztümer mit ihrem Namen zu versehen. Schade. Plötzlich traf mich eine Papierkugel am Hinterkopf. Ich drehte mich um, in der Reihe hinter mir saß ein Mädchen, das mir erwartungsvoll einen Zettel hinhielt. Irritiert nahm ich ihn an und verstaute ihn erst einmal unauffällig in meinem Mäppchen. Ich hoffte zumindest, dass weder der Lehrer noch mein Nachbar etwas mit bekommen hatten. Um nicht aufzufallen begann ich die ISBN-Nummer, Autor und Titel des Buches abzuschreiben.
Der Lehrer wies auf den anstehenden Arbeitstermin hin und verteilte einen Bogen mit Aufgaben, die sich auf die Lektüre bezogen. Bei den meisten Aufgaben handelte es sich um Einzelarbeit, allerdings mussten wir über das verhalten einzelner Personen mit unseren Tischnachbar diskutieren.
Als der Lehrer seine Ansprache vollendet hatte verließ er den Raum mit den Worten: „Ich muss noch etwas im Lehrerzimmer klären. Bitte verhaltet euch ruhig, sonst drohen euch ein Haufen Sonderaufgaben und ein Schreiben an eure Eltern.“
Mein Nachbar hatte sich abgewandt und redete mit einigen anderen Jungs über irgendeinen anstehenden Schulausflug, von dem ich keine Ahnung hatte. Ich wendete mich dem Brief in meinem Mäppchen zu.

Hi, ich bin Nina.
Ich wollte dich nur fragen, ob du vielleicht Lust hättest in der Pause mit uns zu essen.
Dann könnten wir uns ein bisschen kennen lernen. =)

P.S. Woher kennst du Robert?

Ich drehte mich um. Sein Name war also Robert.
„Hey, ich bin Claire, wie du sicher schon weißt“, sagte ich und lächelte sie an. „Es würde mich freuen in der Pause mit euch zu essen.“
Ob Robert damit einverstanden war?
„Oh, dass ist toll.“, sagte Nina mit einem verzückten Lächeln auf den Lippen. „Das ist Lisa, meine Zimmergenossin und beste Freundin.“ Sie schubste ihre Nachbarin an, welche sie lachend zurück schubste. „Und dass sind Tiffany und Michelle.“ Die beiden Mädchen, die in der Reihe hinter ihr saßen lächelten mir freundlich entgegen und vertieften sich dann wieder in ihr Gespräch.
Nina hatte blaue Augen und lange blonde Haare, außerdem wirkte sie ziemlich sportlich und war braungebrannt. Lisa hingegen hatte braune lockige Haare und eine Brille, die ihre ebenfalls braunen Augen betonte.
„Weißt du schon, wo dein Zimmer ist?“
Ich schüttelte den Kopf. Mein Vater hatte mich heute Morgen hierher gefahren und wir waren so spät dran gewesen, dass ich meinen Zimmerschlüssel und meine Bücher noch nicht abgeholt hatte.
„Dann begleiten wir dich. Vielleicht bekommst du ja ein Zimmer ganz in unserer Nähe. Währe das nicht toll.“ Es schien fast so, als würde sie fröhlich auf und ab hüpfen.
„Auf welche Schule bist du denn vorher gegangen?“
„Hmm, ich bin in Arizona zur Schule gegangen. Ich glaube kaum das du die Schule kennst.“
„Kann sein, hier in Kalifornien kenn ich ja auch nicht alle Schulen. Aber das macht ja nichts. Hattest du viele Freundinnen auf deiner alten Schule? Oder sogar einen Freund?“
„Nina, reiß dich doch mal zusammen, warum musst du gleich über jeden Neuen so herfallen?“, fiel ihr Lisa ins Wort. Nina zog einen Schmollmund. „Ach lass mich doch, so schlimm bin ich nun auch wieder nicht.“ Ich musste lachen, Nina und Lisa starrten mich erst irritiert an, aber dann stimmten sie in mein Lachen mit ein.
„Achtung! Mr. Banner kommt zurück! Und er scheint gar nicht gut gelaunt zu sein!“, rief einer der Jungs, die an der Tür Wache geschoben hatten. Alle flitzten zurück auf ihre Plätze und es wurde ganz still als Mr. Banner eintrat.
Robert flüsterte mir ins Ohr: „Musste das eben sein? Oder willst du das ich dich bestrafe?“
Ärgerlich riss ich ein Blatt aus meinem Block, woraufhin mich Robert irritiert anstarrte. Dann nahm ich meinen Kugelschreiber und schrieb: ‚Was hätte ich den deiner Meinung nach tun sollen? Sie vielleicht anschreien sollen und die Arme über dem Kopf erhoben schreiend davon laufen sollen?‘
Dann schob ich das Blatt zu seiner Seite des Tisches, in der Hoffnung das Herr Banner nichts davon mitbekam, weil er sich gerade zwei Schüler zur Brust genommen hatte und sie aus irgendeinem mir unbekannten Grund anschrie.
Ich bemerkte, wie ein Lächeln über Roberts Gesicht huschte bevor er mir eine Antwort aufs Blatt schrieb.
‚Du hättest auf die Frage mit dem Freund antworten sollen und sagen sollen, dass du mit MIR zu Mittag isst.‘

Idiot, Angeber. Für wen hielt er sich? Und viel wichtiger, wie hatte er es geschafft das ganze Gespräch mit anzuhören, während er doch eigentlich abgelenkt gewesen sein musste?
‚Und wie, wann und wo haben wir uns bitte kennen gelernt? Und warum komme ich ausgerechnet an deine Schule?‘
Nachdem er meine Fragen gelesen hatte starrte er eine Weile nachdenklich vor sich hin, bevor er antwortete.
‚Unsere Eltern sind zusammen zur Schule gegangen und wir haben uns auf einem Klassentreffen kennen gelernt. Dann haben wir zufälligerweise im gleichen Ort Ferien gemacht. Seitdem schreiben wir uns E-Mails. Das mit der Schule ….‘
Herr Banner stand vor mir. Ich hatte es gerade noch geschaffte den Zettel unter meinem Block zu verstecken. „White, sie werden nach der Stunde hier bleiben und sie auch, Black.“
Aber wieso? Robert trat mir gegen das Schienenbein und sagte höflich: „Aber natürlich Mr. Banner. Nicht war Claire?“ Ich nickte und versuchte die Tränen zu unterdrücken, die mir in die Augen stiegen. Hätte er mich wirklich so stark treten müssen. Ich hasste ihn schon jetzt. Wie sollte ich die nächsten drei Jahre mit diesem Idioten überstehen?
Als die Stunde vorbei war packten alle ihre Sachen und beeilten sich den Raum zu verlassen.
Nina winkte mir noch hinter her und rief: „Vielleicht ein anderes Mal.“ Dann war auch sie verschwunden.
Jetzt waren außer mir nur noch Robert und Mr. Banner in Raum.
„Ich hatte noch gar keine Zeit mich dir Vorzustellen. Ich bin Mr. Banner, dein Englischlehrer. Ich hoffe du kommst bis jetzt gut zurecht.“ Ich war mir nicht sicher, ob der letzte Satz als Frage gemeint war. Sicherheitshalber nickte ich.

„Das ist gut, wirklich sehr gut. Wenn du dennoch irgendwelche Fragen haben solltest kannst du dir ruhig an Black wenden, er ist der beste im Kurs. Es ist gut dass du neben ihm sitzt, so kann er dir leicht helfen dich bei uns einzugliedern.“ Er holte tief Luft und rieb sich nervös die Hände. „Ich würde sie bitten Mr. Black, dass sie Miss White in der Schule herumführen.“
„Ja, Mr. Banner.“, sagte Robert und zog mich mit sich.
Als wir den Raum verlassen hatten rieb ich mir mein Schienenbein und sagte zu ihm: „Du hättest nicht so kräftig zuzutreten brauchen.“
„Doch hätte ich.“, sagte er und drückte mich an die Wand. „Du hörst mir jetzt gut zu. Wenn du dich weiter so aufführst wird das ernsthafte Konsequenzen für dich haben. Du scheinst mich wohl immer noch nicht verstanden zu haben. Was muss ich denn noch alles tun, um dir zu verstehen zu geben, dass ich es verdammt ernst meine.“
Ein paar kichernde Mädchen kamen vorbei.
„Du wirst schon sehen.“, flüsterte er mir ins Ohr und presste seine Lippen auf meine. Er küsste mich! War er von allen guten Geistern verlassen? DAS ging jetzt wirklich zu weit! „Wie kannst du es wagen…“ Er drückte seine Hand auf meinen Mund und flüsterte mir ins Ohr: „Du wirst schon sehen. Ich werde herausfinden wie ich dich dazu bringen kann zu tun was ich möchte. Denn niemand ist ohne Geheimnisse.“ Lachend lief er den Gang entlang.
Ich war frei! Es blieb nur die Frage für wie lange und wie sollte ich ihn aufhalten?

Game started


Ich beschloss zuerst einmal in die Pausenhalle zu gehen, denn die nächste Stunde würde erst in zehn Minuten beginnen.
Auf dem Weg begegneten mir einzelne Schüler die mir keine Beachtung schenkten. Für sie war ich nicht die Neue. Ich war nur irgendeine Schülerin der man keine Beachtung zu schenken braute, was mir nur recht war, denn so konnte ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen und brauchte kein fröhliches Lächeln aufsetzten.
Als ich dann allerdings die Tür zur Pausenhalle erreicht hatte hielt ich kurz inne, setzte ein fröhliches Gesicht auf und atmete tief durch. Showtime.

Die Pausenhalle war erfüllt von Gelächter und Stimmengewirr. Ich lehnte mich an die Wand, hier würde ich hoffentlich meine Ruhe haben. Doch falsch gedacht. Als ich gerade mein Buch aus dem Rucksack geholt hatte und mein mp3-player mir mein Lieblingslied vorträllerte tauchte Nina vor mir auf. Deprimiert schaltete ich meinen mp3-player aus und lächelte sie an.
„Hey.“, sagte ich.
Ninas Lächeln wurde breiter.
„Willst du dich nicht zu uns setzten? Es ist noch ein Platzt frei.“
„Ja gerne doch.“, sagte ich und lächelte sie freundlich an.
Freudig schnappte sie sich meinen Arm und zog mich mit sich. Als ich einen Blick zur Seite warf erblickte ich Robert, er stand im Mittelpunkt einer Gruppe von Jungs und schien ihnen etwas Lustiges zu erzählen, denn sie lachten alle und er mit ihnen. Plötzlich hob er seinen Kopf und sah mir direkt in die Augen. Einer seiner Mundwinkel zuckte freudig nach oben, dann wand er seinen Blick von mir ab.
„Das ist Claire. Sie ist neu. UND sie kennt Robert.“, stellte sie mich ihren Freundinnen vor.
Nina zog mich zu sich auf die Bank.
„Du kennst Robert?“, fragte mich eine Rothaarige.
Ich nickte, was hätte ich auch sonst tun sollen. Aus dieser Nummer kam ich nicht mehr raus. Außerdem hätte ich schwören können, dass Robert mich genau in diesen Moment beobachtete. Nur nicht auffällig werden, dacht ich mir, dann ist alles vorbei.
Jetzt starrten mir fünf erwartungsvolle Augenpaare entgegen. „Wie ist Robert so? Woher kennst du ihn?“
In diesem Moment begann ich meine Hoffnungen auf einen Neuanfang zu begraben und zu akzeptieren, dass ich auf meiner alten Schule hätte bleiben sollen. Aber es war zu spät und ich würde kämpfen müssen.
„Ähm, nun ja.“ Ich lief rot an. Immer noch starrten mir fünf erwartungsvolle Augenpaare an.
Ich holte tief Luft. „Ich bin – mit Robert zusammen.“ Jetzt war es raus. Ich konnte schon förmlich dass Messer an meiner Kehle spüren. Bitte lass sie mir glauben. Bitte lass sie nicht weiter nachfragen. Bitte lass sie mich einfach in Ruhe lassen. Zumindest für die nächsten drei Jahre.
Aber das Glück war mir nicht holt.
Jetzt saßen alle fünf Mädchen mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern da und starrten mich an. Warum konnte sich der Boden nicht einfach unter mir auftun und mich verschlingen? Warum musste Robert mir dass antun? Warum ausgerechnet MIR?
Nina fing sich als erstes wieder. „Damit hätte ehrlich gesagt niemand von uns gerechnet. Du musst unsere Reaktion entschuldigen. Robert hat zwar immer behauptet, dass er eine Freundin hätte, aber so richtig konnte dass niemand von uns glauben und dann kommst du … Ich meine niemand von uns hätte das geahnt.“
„Ich weiß. Ich kann selbst kaum glauben, dass ich mit Robert zusammen bin.“
Das konnte ich tatsächlich nicht, denn schließlich wusste ich es ja erst seit heute.
Und jetzt kam die Frage, der ich so gehofft hätte aus dem Weg zu gehen: „Wie ist es so mit Robert zusammen zu sein? Du musst wissen, wir alle hatten uns Hoffnungen gemacht vielleicht irgendwann mit ihm zusammenzukommen.“
Jetzt durfte ich nichts Falsches sagen. Ich spürte Roberts brennenden Blick in meinem Nacken. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und so weit wie möglich weggerannt. Aber wie hätte ich das meinen Eltern erklären sollen?
Ich musste meinen Mitschülerinnen einfach irgendetwas schmalziges nullachtfünfzehn Mäßiges an den Kopf werfen, hoffentlich würden sie mich dann nicht weiter löchern.
„Nun ja.“, druckste ich herum und lief wieder vor Nervosität rot an. „Erst waren wir nur befreundet, aber mit der Zeit haben wir gemerkt, dass da noch etwas mehr ist.“ Mein Gott musste ich diesen Mädchen wirklich solche ’intimen’ Dinge anvertrauen? Noch immer starrten sie mich erwartungsvoll an. Robert hatte sich von seinen Freunden getrennt und saß nun an einem Tisch gegenüber von mir und blickte amüsiert in meine Richtung.
„Naja, unsere Eltern kennen sich und so habe ich Robert kennen gelernt. Wir fanden gleich einen Draht zueinander und so tauschten wir E-Mail Adressen aus. Einige Jahre lang schickten wir uns E-Mails, in denen wir einander irgendwelche unwichtigen Dinge erzählten. Doch eines Tages trafen wir uns zufälligerweise wieder und ….“ DING
Die Pause war zu Ende.
„Du musst uns nachher unbedingt erzählen, wie es weiter gegangen ist. Ja?“, fragte mich Nina.
Ich nickte erleichtert und fühlte mich elendig zumute.
Die fünf Mädchen waren schon zu ihren Kursen davon gerauscht und ich stand nun unschlüssig in der großen Halle. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Ich führ herum.
Robert stand vor mir und grinste mich schief an.
„Da hast du dich aber gut herausreden können. Richtig süß, wie du rot geworden bist. Allerdings hättest du ruhig ein wenig mehr ins Detail gehen können.“, sagte er mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen. „Übrigens wollte ich mich für mein Verhalten vorhin entschuldigen. Ich war wohl etwas zu ... wie soll ich sagen, zu herrisch. Wenn ich dir ein bisschen Leine gebe scheinst du es tatsächlich nicht gegen mich auszuspielen. Ich hoffe es bleibt so. Es ist besser für dich, besser für uns beide. So kann ich beruhigt schlafen und bin viel besser gelaunt und dass kann dir ja nur zugute kommen.“
Als er sich entschuldigte war ich schon kurz davor ihn sympathisch zu finden, doch nun. War ich sein Schoßhündchen?
Ich lief stumm neben ihm her, dass schien ihn allerdings nicht weiter zu stören, denn er pfiff fröhlich vor sich hin und schenkte mir ab und zu ein Lächeln. ’Wie freundlich’, als ob ein Lächeln von ihm irgendetwas an meiner stillen Wut gegen ihn ändern würde. Er würde schon merken, dass mit mir nicht gut Kirschenessen war.
„Und was willst du ihnen erzählen?“, er blieb vor der Klassenraumtür stehen und lehnte sich lässig gegen den Türrahmen.
„Wem was erzählen?“ Er hatte mich aus meinen Gedanken gerissen.
„Was willst du deinen neuen Freundinnen über uns erzählen?“ Er betonte jede einzelne Silbe des Wortes ‚Freundinnen’ sarkastisch und schien dabei große Genugtuung zu empfinden.
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Es ist überaus erstaunlich, dass sie mir bis jetzt jedes Wort geglaubt haben. Ich finde die ganze Geschichte klingt wie aus einem schlechten Liebesroman. Dass sie es mir abkaufen, damit hätte ich wirklich nicht gerechnet.“
„So rot wie du geworden bist, da hättest du ihnen alles erzählen können. Gib schon zu, dass du dir sehnlichste wünscht wirklich mit mir zusammen zu sein.“ Als er dies sagte kam er mich gefährlich nahe, nahm dann aber nur meine Hand und führte mich zu einer der Tischreihen.
Er schien ganzgenau zu wissen, wie er mich zur Weißglut bringen konnte. In mir tobte ein Sturm den ich nur schwer zurückhalten konnte, als die ganze Klasse aufstand um unsere Mathematiklehrerin zu begrüßen. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie ein neckisches Lächeln seine Lippen umspielte.
Die Lehrerin schenkte mir keine Beachtung und begann sogleich einige Logarithmen an die Tafel zu schreiben, mit denen wir uns in dieser Stunde beschäftigen sollten.
Sie seufzte, als sie bemerkte, das sich niemand außer Robert am Unterricht beteiligen zu schien. Ich meinerseits krakelte wütend auf meinem leeren Heft herum.
Die ganzen zwei Stunden wirkte Robert wie ausgewechselt. Er wirkte sogar richtig nett. Warum war er so anders, wenn er mit mir allein war?
„Hey Claire.“ Robert stieß mich von der Seite mit dem Ellenbogen an. Erschrocken blickte ich auf. Die Lehrerin hatte mich dran genommen. Mechanisch blickte ich auf die Tafel und antwortete. Ich lag richtig. Die Lehrerin nickte anerkennend und begann den desinteressierten Schülern meine Vorgehensweise zu erklären.
„Nicht schlecht.“, flüsterte mir Robert ins Ohr. „Aber reicht das wirklich um mich zu schlagen?“
„Ich will dich doch gar nicht schlagen.“, gab ich mürrisch zu Antwort.
„Oh, ist unser Prinzesschen heute aber schlecht gelaunt. Hat wohl zu viele schlechte Liebesromane gelesen.“, neckte er mich.
„Hahaha, wie lustig.“, sagte ich ironisch und malte weiter die Kästchen in meinem Matheheft aus.
Robert gab ein Lachen von sich und schob mir einen Zettel zu.
‚17 Uhr. Haus 4. Raum 34.’

Ich starrte ihn irritiert an. „Sei pünktlich.“, sagte er und fing an die Hausaufgaben von der Tafel abzuschreiben.
Arg, was ein Typ. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Wütend kritzelte ich die Hausaufgaben in die Ecke meines Matheheftes. Es läutete.
Bis zum Nachmittagsunterricht hatte ich noch gut zwei Stunden Zeit. Diese Zeit wollte ich nutzen, um meine Bücher abzuholen und mein neues Zimmer zu beziehen.
Ich stand auf und ließ den immer noch amüsierten Robert zurück.

Als ich meine Habseligkeiten in Zimmer verstaut hatte warf ich einen Blick auf die Uhr: Es war 17.15! – zu spät!
Voll Panik rannte ich zur Tür, riss meine Jacke vom Hacken. Durch den abrupten Ruck fiel der Hacken klirrend zu Boden. Keine Zeit.
Kaum hatte ich das Zimmer verlassen, rannte ich den Gang entlang. Ich konnte die Kurve nicht schnell genug nehmen - und da passierte es: Ein Widerstand. Ich kam nicht weiter. Jemand stand vor mir.
Schuldbewusst blickte ich auf, in sein Gesicht. Sein Gesicht?!
Seine Augen waren schmale Schlitze, die mich wütend anfunkelten. Mit einem festen Ruck zog er mich mit sich.
Ich war zu ängstlich, um auch nur einen Laut von mir zu geben, also schwieg ich.
Auch er schwieg und zog er mich mit sich.
Aus dem Wohnkomplex.
Durch das große Eisentor, dass das Emblem der Schule trug, einen Dachs.
Nach einer Weile lockerte sich sein Griff und ich begann neben ihm herzulaufen.
Auf die Leute, die wir passierten mussten wir wie ein Paar wirken. Ein schweigendes Paar, das ein gemeinsames Ziel hatte.
Schüchtern wagte ich einen Blick in Roberts Richtung.
Die Sorgenfalten waren verschwunden. Sie waren einem melancholischen, ausdruckslosen Gesichtsausdruck gewichen. Eine Seite von Robert die mich noch mehr ängstigte.
Abrupt blieb er stehen.
Vor uns lag ein See. Er war umgeben von Bäumen. Mein Atem stockte, als ich die beruhigende Aura dieses Ortes wahrnahm.
In der Mitte des Sees wuchsen Sträucher und Bäume, in denen sich Schwäne, Möwen und Enten niedergelassen hatten. Doch sie waren nicht die einigen Vögel. Solche fremdartigen Vögel hatte ich noch nie gesehen. Ihr Gesang war hypnotisierend. Man konnte nicht anders, als sich hier wohl zu fühlen.
Das Wasser schlug kleine Wellen, wenn es von einer Windböe aufgewühlt wurde.
Wir waren nicht allein. Es wimmelte nur so von Familien, die Ausflüge mit ihren kleinen Kindern machten.
Ein kleines Mädchen trug ein hellgelbes Kleid, saß auf einer Baumwurzel und spielte mit einer Schwanenfeder. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich die Eltern bemerkte, die ihre Kamera bereithielten um jede Bewegung ihres Kindes festzuhalten.
Robert blieb vor einer Bank stehen und forderte mich mit einem durchdringenden Blick auf mich zu setzten. Ich hatte nicht vor seiner Aufforderung zu folgen und blieb noch immer staunend stehen. Aus dem Augenwinkel konnte ich sein Schulterzucken erkennen. Wortlos setzte er sich und starrte wie ich in die Mitte des Sees.

Nach einer Weile des Schweigens konnte ich seine Stimme vernehmen.
Er schien eher mit sich selbst zu sprechen, als mit mir.
„Es gibt keinen Ort wie diesen. – wie ein Tor zwischen zwei Welten – unberührte Natur…“
Seine Stimme stockte, als bereue er es diese Worte laut ausgesprochen zu haben.
Meine Beine begannen zu schmerzen, als setzte ich mich neben ihn.

Ab und zu konnte ich ein leises Seufzen vernehmen.
Allerdings begann er nicht wieder zu sprechen.
War es das was er mir zeigen wollte?
Das konnte doch nicht alles sein!

Sein Arm lag auf der Bank, genau hinter meiner Schulter und ich spürte die Wärme, die er ausstrahlte, als es begann kälter zu werden. Meine Augenlider wurden immer schwerer und irgendwann musste ich eingenickt sein, denn ich wachte von einem leisen melodischen Pfeifen auf.
Robert saß noch immer neben mir. Er hatte mir seine Jacke übergehängt, um mich zu wärmen.

„Ausgeschlafen?!“, fragte er mit einem kecken Lächeln auf den Lippen.
Wann hatte sich seine Stimmung geändert? Und wie spät war es eigentlich?
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte antwortete er: „Es ist spät, wir sollten zurück zur Schule gehen.“

Wer oder was war Robert? Und was ging in seinem Kopf vor?
Seine Worte und Handlungen ergaben für mich keinen Sinn.
Ich war mir sicher, dass ich, obwohl ich ihn kaum einen Tag kannte schon mehr Fassetten seiner Persönlichkeit gesehen hatte, als seine Freunde je zu Gesicht bekommen würden.
Hatte Robert eine gespaltene Persönlichkeit oder einfach sehr starke Gefühlsschwankungen?
Bedeutete seine Gegenwart eine große Gefahr für mich oder war es besser um mich bestellt, wenn ich ihm gehorchte?

Deed of arrangement


Als wir die Schule erreichten drehte sich Robert zu mir um und sagte: „Du musst doch hungrig sein, schließlich hast du seit heute Morgen nichts gegessen.“
Erstaunt blickte ich auf. Woher wusste er, dass ich noch nichts gegessen hatte? Hatte er mich beobachtet?
Er sah mich weiter forschend an. Mein Magen knurrte. Robert lachte und rieb sich die Hände.
„Die Cafeteria müsste jetzt geschlossen haben, aber ich weiß, wo wir noch etwas essen können. Folge mir.“
Das war kein Befehl. Das war eine freundliche Aufforderung. Verwirrend.
Mit großen Augen starrte ihn an.
„Verträgst du meine Freundlichkeit so schlecht.“, scherzte er. „Ich kann auch anders.“
„Nein.“ Entsetzt schüttelte ich den Kopf.
„Dann ist ja gut. Folge mir.“
Wir betraten den kleinen Anbau des Hauptgebäudes, in dem sich der verlassene Gemeinschaftsraum befand.
„Um diese Uhrzeit ist hier keiner mehr.“, erklärte er mir und nach einem Blick auf die Uhr fügte er hinzu: „In einer guten Stunde ist Ausgangssperre, wir können uns also Zeit lassen.“
Er führte mich zu einer unscheinbaren Tür am Ende des Gemeinschaftsraumes, die sich direkt neben den Toiletten befand. Währe ich alleine gewesen hätte ich gedacht hinter ihr befände sich die Besenkammer. Aber ich war nicht alleine und würde gleich erfahren, was sich hinter dieser Tür befinden würde.
„Bereit?“, fragte Robert und lächelte mich dabei verschwörerisch an.
„Bereit.“, sagte ich und atmete langsam aus.
„Na dann.“
Robert schloss die Tür auf. Er hatte einen Schlüssel? Man brauchte einen Schlüssel?
„Ich hab eine Idee.“
Robert trat hinter mich und hielt mir mit einer Hand die Augen zu. Ich hörte wie er mit der anderen langsam die Tür öffnete und mich dann langsam in den Raum schob.
Ein Stuhl kratzte über den Boden. Es war doch ein Stuhl? Ja, es war einer. Robert drückte mich sachte auf die Polsterung des Barhockers, zumindest wirkte es wie einer. Er kicherte, dann gab er mir mein Augenlicht wieder.
„Wow.“, war alles was ich herausbrachte.
„Beeindruckend, oder? War meine Idee und auch meine Ausführung.“
Robert befand sich auf der anderen Seite der Theke, hatte seine Ellenbogen aufgestützt und beobachtete meine Reaktion.
„Es ist umwerfend. Und du hast das wirklich ganz alleine gemacht?“
Hinter Robert befanden sich zwei große Kühlschränke, mit durchsichtigen Scheiben. In ihnen befanden sich allerlei Erfrischungsgetränke. Etwas weiter rechts konnte ich eine Tiefkühltruhe erkennen auf der ein schwarzer Gettoblaster stand.
„Jap, allerdings mussten mir ein Elektriker helfen die Kabel zu verlegen und ich konnte die schweren Geräte auch nicht ganz alleine schleppen. Auch wenn du es nicht glauben kannst, ich bin nicht Superman.“
Ich musste schmunzeln.
„Hätte ich ehrlich gesagt auch nicht gedacht. Tut mir leid.“
„Macht nichts. Ich habe ja immer noch das hier.“
Er hielt einen kleinen glitzernden Gegenstand in der Hand. Eine Fernbedienung.
„Was möchtest du sehen?“
Als er auf den Knopf drückte führ ein riesengroßer Flachbildfernseher aus der Decke. Er war wirklich riesig.
„Woher hast du denn das ganze Geld, wenn man fragen darf?“
Das alles musste ihn ein Vermögen gekostet haben. Allein auf der gegenüberliegenden Seite des Fernsehers befand sich eine rote 11-teilige Couchgarnitur deren Preis ich nicht zu schätzen wagte, von dem nierenförmigen Glastisch in dessen Mitte ganz zu schweigen.
„Darfst du aber nicht. Außerdem ist es eine echt gute Investition. Es darf nicht jeder diesen geheiligten Ort betreten.“
Zufrieden mit meiner Reaktion breitete er großspurig seine Arme aus, um mir zu verdeutlichen, dass dies sein Reich war. Sein Reich, in dem seine Regeln galten.
„Ach ja, verlangst du Eintritt oder Mitgliedsbeiträge?“, gab ich sarkastisch zurück.
„Ach Quatsch, dass habe ich nicht nötig. Allerdings bringst du mich da auf eine gute Idee.“
„Was?!“
Er sah mich an, als ob ihm gerade eine Idee gekommen war, die mir absolut nicht gefallen würde.
„Ich… habe mir überlegt. Ob …du nicht vielleicht. Hier arbeiten möchtest.“
„Nicht dein ernst!“
Irgendetwas in mir war begeistert von dieser Idee. Vielleicht würde ich sogar Geld dafür bekommen. Dann könnte ich meinen Eltern finanziell etwas entlasten. Aber irgendwie vertraute ich dieser Vorstellung auch wieder nicht. Robert hatte irgendwelche Hintergedanken, da war ich mir sicher.
So begeistert wie ich zu Beginn gewesen war, so skeptisch musterte ich ihn jetzt.
Robert blickte mir mit einer regelrechten Unschuldsmine entgegen. Man könnte fast glauben er wäre eine männliche Mutter Teresa, die mir und allen Menschen nur helfen möchte und keinerlei Hintergedanken hätte. Aber ich wette selbst Mutter Teresa hat nicht ohne
Eigennutzen gehandelt. Dafür war sie zu viel Mensch. Genau wie Robert.

„Ich würde dich natürlich bezahlen. Allerdings musst du mir dafür einen Gefallen tun. Würdest du das tun?“
Hätte ich einen Bruder gehabt hätte ich schwören können, dass dieser genauso ein Engelsgesicht aufgesetzt hätte, wenn er mein Lieblingspaar Sportschuhe dem Hund zum spielen gegeben hätte.
„Und was wäre das?“
„Nur eine Kleinigkeit. Ich glaube es würde dir sogar gefallen.“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Es würde mir gefallen?
Er seufzte, griff in seine Brusttasche und zog eine Eintrittskarte heraus.
„Würdest du mit mir auf eine Wohltätigkeitsparty meiner Eltern gehen?“
Erwartungsvoll schaute er mir in die Augen. Seine braunen Augen funkelten verführerisch. Ich wurde schwach. So schlimm konnte es ja nicht werden. Oder? Schließlich war ich noch nie auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung oder einer Party gewesen. Das könnte durchaus interessant werden. Außerdem hielten sich doch immer viele einflussreiche und bekannte Persönlichkeiten auf solchen Veranstaltungen auf. Das könnte meine Chance sein.
„Geht klar.“
Ich nahm die Eintrittskarte entgegen.
„Gut.“ Robert atmete erleichtert aus. „Jetzt sollten wir erstmal etwas essen. Ich schaue mal, wo ich etwas auftreiben kann und du bleibst hier. Verstanden!?“
Ich nickte eingeschüchtert. Er schaffte es seine Stimme wie ein Waffe einzusetzen, die einem die Haare zu Berge stehen lies und einen den Angstschweiß auf die Stirn trieb.
Im weggehen rief er noch: „Du kannst dir was zu trinken aus dem Kühlschrank nehmen, geht übrigens auf mich.“
„Ähmmm, danke.“
Bedeutet das etwa, dass ich ihm jetzt etwas schuldete?

Ich schlenderte zur anderen Seite der Theke und nahm mir eine der kleinen Plastikwasserflachen, die ganz unten im Kühlschrank standen. Mit Sprudel. Ich liebte Sprudelwasser. Ich begann mich umzusehen.
Am Kühlschrank hing ein Flaschenöffner, der mit einem Bindfaden befestigt war. Gott war die Scheibe sauber, ich konnte mich glatt drin spiegeln. Ich bekam Schuldgefühle, denn man konnte deutlich erkennen welchen der beiden Kühlschränke ich geöffnet hatte. Meine Fingerabdrücke schienen geradezu zu leuchten. Schnell drehte ich mich um, um mir die Hände zu waschen. Die Bank im Park war garantiert nicht die sauberste gewesen.
Auf der suche nach Seife zog ich einige der Schubfächer unter der Theke auf, ein paar waren verschlossen. Doch was ich fand, war keine Seife. Es waren Flaschen. Haufenweise Flaschen. Alkoholflaschen. War so etwas nicht an einer Schule verboten?
Hinter mir hörte ich Schritte. Ich wischte mir meine noch immer nassen Hände an meiner Hose ab und huschte zurück auf meinen Platz.
„Bitte schön, die Spezialität des Hauses. Lassen Sie es sich schmecken.“
Robert reichte mir einen Teller vollgefüllt mit allerlei Gemüse. Broccoli, Karotten, Paprika und Tofu.
Ich nahm mir eine der Plastikgabeln die Robert zusammen mit den Servierten neben die Teller gelegt hatte und begann schweigend zu essen. Vorsichtig linste ich zu ihm hinüber.
Robert selbst hatte sich auch eine Portion aufgewärmt. Er schien noch hungriger als ich zu sein und schlang sein Essen förmlich hinunter.
Als er fertig war warf er das Geschirr achtlos in die Spüle.
„Wenn du fertig bist, kannst du abwaschen.“
Er zog ein BlackBerry aus seiner Hosentasche und setzte sich in die Sitzecke.
Viel konnte ich von dem Gespräch was er führte nicht verstehen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es sein Vater war mit dem er sprach und der schien über irgendetwas nicht sehr erfreut zu sein. Robert gestikulierte wild und war ziemlich aufgebracht. Sobald er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, stand er auf und verließ den Raum, aber nicht ohne mir einen drohenden Blick zuzuwerfen.

Da er nicht zurückkam und ich bereits das Geschirr abgewaschen hatte, untersuchte ich die Theke, der ich den Alkohol gefunden hatte. Ich wusste nicht genau, was genau es mit dem Raum auf sich hatte, daher verwendete ich ein Geschirrhandtuch um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Normalerweise wäre mir so etwas übertrieben vorgekommen, aber jede Situation verlangte ihre Mittel. Robert hatte mich in der Hand und wenn ich aus der ganzen Sache heil rauskommen wollte, so musste ich etwas finden, was ihn belastet. Egal was es war und jetzt war die beste Gelegenheit. Abgesehen von den Alkoholflaschen, entdeckte ich mehrere kleine Dosen, in denen sich Pillen und Tabletten in verschiedenen Farben befanden. Sie waren an den Unterseiten der Schubladen angeklebt worden. Ich war entsetzt. Vorsichtig klebte ich sie wieder an Ort und Stelle. Es mussten Drogen sein, ganz sicher. Für was würde man den sonst einen solchen Aufwand betreiben? Ich hatte schon von mehreren Internaten gehört, an denen die Schüler Drogen nahmen um ihre Leistungen zu stärken, oder sich von dem Druck zu erholen. Aber Brownwood gehörte zu einen der strengsten Schulen, die so etwas auf keinen Fall billigen würden. Oder etwa doch? Dieser Raum konnte einfach nicht unbemerkt umgebaut worden sein. Robert hatte gesagt, ich würde hier arbeiten. Bedeute das, dass ich Drogen und Alkohol verkaufen würde?! Oder hätte ich von alldem nichts mitbekommen und wäre dann trotzdem mitschuldig? Was sollte ich tun? Jetzt wo ich es wusste, war ich verpflichtet etwas dagegen zu unternehmen, oder Robert hätte noch mehr gegen mich in der Hand. Ich könnte es einem Lehrer sagen, aber ich war mir sicher, dass dieser Raum nicht allein von Schülern wie Robert betrieben wurde. Wem konnte ich also trauen?
Stille Panik breitete sich in mir aus. Es blieben immer noch die verschlossenen Schubladen. Was befand sich in ihnen und wieso waren diese hier nicht abgeschlossen gewesen? Hatte Robert gewollt, dass ich den Inhalt fand. Oder war das ganze ein Test?

Als er zurückkam, saß ich auf der Couch und überlegte, wie ich ihm gegenüber treten sollte. Einen richtigen Entschluss hatte ich noch nicht gefasst, aber ich würde fürs erste schweigen, denn ich brauchte mehr Informationen.
„Oh, die mag ich.“
„Hmmm… Was?“
„Die beiden Köche“, er stellte den Ton lauter.
Damit war das Gespräch beendet und wir starrten beide auf den Fernseher, jeder in seine Gedanken verloren.
„Was denkst du?“, fragte er, als die Show zu Ende war und er den Fernseher ausgeschaltet hatte.
Ich zuckte zusammen.
„Worüber?“, fragte ich nervös.
„Über mich.“
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Nur so.“ Erwirkte geknickt. „Also, was denkst du?“
„Ich weiß nicht. Wie lange kenne ich dich jetzt? Einen Tag? Und wie würdest du die Beziehung beschreiben, die wir haben? Freundschaftlich? Unter diesen Umständen habe ich nicht gerade das beste Bild von dir, auch wenn die meisten hier anderer Ansicht sind.“
„Also magst du mich nicht, oder wie soll ich das verstehen? Hasst du mich?“
„Nun ja, hassen würde ich es nicht direkt nennen. Es ist schwer die Beziehung zwischen Erpresser und Erpresster zu beschreiben.“
„Du fühlst dich also erpresst?“
„Natürlich. Wie sollte ich mich den sonst fühlen? Bedroht? Ja, vielleicht ein bisschen. Aber auf jeden Fall erpresst.“
Er schien sich wieder gefangen zu haben.
„Verstehe, dann brauche ich dir ja auch nicht mehr zu erklären, dass unsere Beziehung erst dann beendet ist, wenn ich es sage. Morgen um sechs komme ich noch mal bei dir vorbei, wir müssen noch einiges klären.“
Er brachte mich zurück zu meinem Zimmer und gab mir zu verstehen, dass wenn ich nicht wach war und ihm die Tür öffnen würde, mein Leben so wie ich es kannte vorbei seien würde. Zum Schluss reichte er mir noch ein BlackBerry, das genauso aussah wie seins.
„Damit wirst du es hier einfacher haben. Alle haben eins und die Lehrer setzen voraus, dass du jederzeit telephonisch erreichbar bist.“
Fragend blickte ich ihn an.
„Ich werde einpaar Tage weg sein und erwarte von dir, dass ich dich rund um die Uhr erreichen kann, verstanden?“
Ich nickte.
„Gut, wenn mein Vater anruft, und dass wird er. Sagst du ihm“, er holte tief Luft. „dass du mit mir zur Party gehst. Wenn er dich irgendetwas über unsere Beziehung fragt, schweigst du. Und du erzählst ihm auch nicht wer du bist, dass ist meine Aufgabe.“
„Warum dieser Aufwand?“
Anstatt zu antworten, drückte er mir das Aufladekabel in die Hand und ließ mich stehen. Auch gut. Ich musste mir überlegen, was ich jetzt tun sollte. Wie sollte ich handeln?

Time Out


Es war viertel vor sechs und ich lag hellwach und angezogen auf der durchgelegenen Matratze des großen Holzbettes in meinem neuen Zimmer. In der Nacht hatte ich kaum ein Auge zu tun können, so aufgekratzt war ich. Gestern war mein erster Tag gewesen und alles war so anderes als ich es mir vorgestellt hatte. Besser? Nicht wirklich, obwohl ich es auch keine Katastrophe nennen konnte, zumindest nicht nach dem jetzigen Stand der Dinge. Dass knarren alten Gitterbettes hatte auch nicht wirklich geholfen, auch wenn ich es irgendwie beruhigend fand, abgesehen von der Befürchtung es konnte jederzeit zusammenbrechen. Ich würde mich an die Verwaltung wenden müssen um ein neues zu bekommen, sonst würde ich auf dem Boden schlafen müssen. Eigentlich keine große Sache, wäre die Matratze in Ordnung. Mein Rücken schmerzte schon jetzt, und das in meinem Alter. Aber viel wichtiger war es meine jetzige soziale Situation zu klären. Um sechs würde Robert kommen. Nervös starrte ich auf das hell erleuchte Display meines neuen Mobiltelefons, sofern man dieses kleine schwarze Multitalent so nennen konnte. Es konnte so viel mehr…
„Ähmm.“
Erstaunt schreckte ich auf. Robert stand vor mir.
„Wie konnte es …“, begann ich stotternd. „Ich meine wie genau bist du hier rein gekommen?“, verwirrt wanderte mein Blick von Robert zur Tür und wieder zurück.
Ich hätte schwören können, dass ich die Tür abgeschlossen hatte.
Wortlos zog er einen Schlüsselbund aus seiner Tasche.
„Ist ja gut, ich verstehe schon.“
Er deutete mir ihm Platz zu machen, so dass er sich neben mich auf die Matratze setzen konnte.
„Sperrmüll.“
„Was?“
„Das Mobiliar.“
Stille.

Ich hielt es nichtmehr aus.
„Du hattest gestern gemeint, wir müssten noch einiges klären.“
Erstaunt sah er mich an. Es war als hätte er vergessen, dass er sich in meinem Zimmer befand.
Nachdem er sich wieder gefangen hatte, reichte er mir einen Stapel Dokumente. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass Robert eine kleine Reisetasche neben meinem Bett abgestellt hatte. Wo war ich nur mit meinen Gedanken?
„Dies ist der Vertrag zwischen uns. Ich habe ihn schon unterschrieben“
Das Papier wog schwer in meiner Hand. Er musste Wochen an dem Vertrag gesessen haben.
„Was hättest du getan wenn ich nicht gekommen wäre?“
Erst vor einer Woche hatte ich mein Stipendium verliehen bekommen. Die meisten Stipendien waren für Sportlergewesen. Es war also kein Wunder, dass nur selten ein Mädchen die Chance kam nach Brownwood zu kommen.
„Ich habe Mittel und Wege...“
„Ist schon gut!“
Nachdenklich überflog ich die Seiten. Jedes kleinste Detail war festgehalten.
„Der Vertag geht über vier Jahre.“, stellte ich erstaunt fest.
„Er kann verlängert werden.“
Verlängert?!
„Das beantwortet nicht meine Frage. Warum über vier? Warum nicht drei?“
Ich war gereizt.
Er saß da, als redeten wir über den Speiseplan der Cafeteria.
„Im vierten Jahr trenne wir uns.“
„Warum nicht im Dritten?“
Drei Jahre seine perfekte Freundin spielen zu müssen, waren mehr als genug. Jede Minute mit ihm gab mir das Gefühl en Verstand zu verlieren. Was immer Robert tat würde auch mit mir in Verbindung gebracht werden. Der geheime Raum war bestimmt nicht sein einziges Geheimnis.
„Ich bin schlecht in Fernbeziehungen.“
„Wie bitte?“
„Ich bin schlecht in Fernbeziehungen.“
Fragend sah ich ihn an.
„Es ist realistischer, wenn wir uns im vierten Jahr trennen. Wir müssen keine Trennung inszenieren.“
„Ich würde mir gerne den ganzen Vertrag durchlesen, bevor ich ihn unterschreibe.“
Robert erhob sich.
„Es wäre am besten, wenn du heute noch damit anfängst. Und denk daran ihn gut zu verstecken. Wenn ihn jemand findet, oder du jemanden von ihm erzählst wirst du deine Zukunft vergessen können. Das gleiche passiert übrigens auch bei Vertragsbruch. Auch wenn du ihn noch nicht unterschrieben hast.“
Warum sollte ich ihn dann überhaupt unterschreiben?
„Damit ich etwas in der Hand habe, wenn du unsere Beziehung gefährdest.“
Er hatte mal wieder meine Gedanken gelesen.
„Ich gehe dann mal. Komm nicht zu spät zum Frühsport.“
Entsetzt starrte ich auf die Uhr. „Du...“
Doch ich kam nicht weiter. Er hatte mich an sich gepresst.
„Ein Abschiedskuss.“, sagte er grinsend und schon war die Tür hinter ihm zugeschlagen.
„Idiot!“ Warum küsste er mich, wenn uns niemand dabei sah?
Zu gerne hätte ich mir die Zähne geputzt, doch ich war spät dran, dank Robert. Was für ein Idiot. Ich würde schon einen Weg finden es ihm heimzuzahlen.

Frühsport ging von sieben bis viertel vor acht. Somit hatte man eine Viertelstunde um sich für den Unterricht fertig zu machen. In der Brownwood gab es keinen normalen Sportunterricht. Vor dem Unterricht und in der Mittagspause, gab es eine kurze Sporteinheit um sich fitzuhalten. Letzteres sollte den Appetit anregen und den Körper nach dem langen sitzen wieder zu entspannen. Abgesehen davon, musste man sich noch in einem Sportclub anmelden.

Ich kam gerade noch rechtzeitig um mich unbemerkt in eine Gruppe schlaftrunkener Mädchen zu mischen.
Es war die reinste Hölle. So früh am Morgen, ohne Frühstück, quer über den Schulhof zu sprinten.
Nur wer mitmachte bekam sein Frühstück. Was für eine dämliche Regel das war, merkte man daran, dass die reichen Schüler ihre Mahlzeit sowieso bekamen. Es befanden sich nicht einmal dreißig Schüler auf dem Hof. Der Extrapunkt, den man für jede Teilnahme bekam, war alleine kein großer Anreiz.
Hungrig schleppte ich mich zusammen mit den anderen Stipendiaten in die Cafeteria.
Fünf Minuten Zeit zum essen. Wie sollte man das schaffen?
Essen mitzunehmen war verboten, trotzdem konnte ich beobachten, wie viele Brötchen und Croissant unterm Tisch verschwinden ließen. Nächstenmal würde ich auf jeden Fall weitere Klamotten anziehen, nahm ich mir fest vor.
Wer Reste auf dem Teller zurückließ bekam Punktabzug. Ich hasste Brownwoods Regeln schon jetzt, an meinem zweiten Tag. Wie sollte ich das ganze drei Jahre aushalten?
Vollgestopft lief ich so schnell ich konnte zu meinem Zimmer. Rennen war verboten. Schon gestern hatte ich dagegen verstoßen. Zum Glück war es nur Robert gewesen, der mich erwischt hatte.

„Hallo, Clair.“ begrüßte mich eine Rothaarige.
Ich erinnerte mich nicht an ihren Namen, also lächelte ich nur freundlich zurück. „Hallo, du hast auch Deutsch gewählt?“
Sie nickte. „Wir sind zu siebt. Mit dir sind wir jetzt acht.“ Suchend sah sie sich um. „Ich dachte du kommst zusammen mit Robert.“
„Nein, der kommt heute nicht.“
„Oh, ist er krank?“, fragte sie besorgt.
„Nein, keine Angst,“ versuchte ich sie zu beruhigen. „Er ist geschäftlich unterwegs.“
Das war er doch oder?
„Er muss wohl wieder seinem Vater helfen.“
„Tut er das denn öfter?“
Sie nickte. „In der achten hat er fast das ganze Jahr gefehlt. Nur zu den Prüfungen ist er wieder gekommen.“
„Woher weißt du so viel über Robert?“
Sie wurde rot. „Ich bin nicht in ihn verliebt, wenn du dass meinst.“
Schnell schüttelte ich den Kopf. „Dass hatte ich auch nicht gedacht.“
Erleichtert atmete sie aus. Sie hatte wohl Angst ich könnte denken sie wolle mir den Freund ausspannen.
„Robert ist eine Art Idol für mich, und für andere. Er ist nicht nur gut in der Schule und nett zu allen, sondern er sieht auch noch gut aus.“
Er sah gut aus?
Darüber hatte ich bisher noch nicht nachgedacht. Was ich in ihm sah, war kein gutaussehender exzellenter Schüler, sondern einen verzogenen machtbesessenen kleinen Jungen.
„Du bist mir doch nicht etwa böse.“
„Nein keine Angst. Ich bin bloß erstaunt wie beliebt Robert hier ist.“
„Robert hat uns schon erzählt, dass es an deiner alten Schule anders war. Aber ich kann wirklich nicht verstehen, warum gute Noten ein Verbrechen sein sollen.“
Er hatte es ihnen schon erzählt? Wann hatte er das getan? Schlagartig musste ich an den Vertrag denken. Er hat das ganze geplant, wurde mir schlagartig klar.
„Aber ich bin erstaunt, Robert meinte, dass du viel schüchterner bist.“
War dies Teil seines Idealbildes seiner perfekten Freundin, oder ersetzte ich nur jemanden?
„Robert hat also erzählt, dass ich an eure Schule komme?“
Sie nickte.
„Alle dachten zuerst er sagt das zur so daher, weil Sarah ihn immer wieder bedrängt hatte. Aber jetzt wissen wir ja, dass er die Wahrheit gesagt hat. Es hat mich allerdings erstaunt, dass du zwei Wochen früher gekommen bist.“
Zwei Wochen früher?
„Robert meinte, du müsstest noch etwas länger in Krankenhaus bleiben.“
Krankenhaus?
„Du weißt aber wirklich viel.“
„Ich bin ein wenig mit Robert befreundet. Hat er nie von mir erzählt?“
„Nein tut mir leid, wir haben nicht so viel über die Schule gesprochen.“
„Das braucht dir nicht leid zu tun. Wir waren wirklich nur leicht befreundet.“
Ich wollte gerade etwas aufheiterndes sagen, da wurde die Tür aufgerissen.
Eine kleine schlanke Brünette stand schwer atmend in der Tür.
„Es tut mir leid, dass ich zu spät bin, ich musste mit dem Direktor noch einiges klären.“, sagte sie in perfekten Deutsch, während sie sich ihre langen glatten Haare aus dem Gesicht strich.
„Du musst Clair sein.“
Sie hielt mir die Hand hin. Verdutzt schüttelte ich sie.
Sie trat hinter Pult und verkündete: „Heute beginnen wir 'Die Leiden des jungen Werthers' von Goethe zu lesen. Ein deutscher Klassiker.„
Das Mädchen neben mir stöhnte und auch der Rest der Klasse sah nicht besonders begeistert aus.
„Können wir nicht mal was Anständiges lesen?“, kam es von einem der Jungen aus der letzten Reihe.
„Wieso etwas Anständiges? Werther ist etwas Anständiges. Es ist ein Klassiker. Er beschreibt eine einzigartige Liebe, die über Grenzen der Stände herausgeht. Wie romantisch...“
„Es fängt wieder an.“, sagte das Mädchen neben mir. „Wenn sie einmal zu schwärmen anfängt hört sie nicht so leicht wieder auf.“
„...ihm bleibt zum Schluss nichts anderes als den Tod zu wählen. So stark ist seine Liebe zu ihr. Und das mit dem Gewehr des Mannes seiner Angebeteten. Welch eine Ironie.“
ich musste ihr zustimmen, meine neue Deutschlehrerin schien eine abnormale Begeisterung für ihr Fach entwickelt zu haben.
„Clair, würdest du uns bitte anfangen zu lesen?“
„Ich habe noch kein Buch.“
„Du kannst meins haben,“ sagte die Rothaarige. Sie schien sichtlich erleichtert nicht selbst lesen zu müssen.

Standalone


Die ausschweifenden Naturbeschreibungen trieben mich nahezu zur Verzweiflung. Ich hatte angefangen Deutsch zu lernen weil mich deutsche Märchen und Sagen faszinierten und nicht die Stimmungsschwankungen eines reichen arbeitslosen Verliebten.
„Clair. Es reicht.“
Ich erschrak. Hatte ich etwa laut gedacht?
„Etwas mehr Gefühl bitte. Der junge Mann schüttet uns gerade sein Herz aus.“
„Entschuldigungen Sie.“
„Nein ist schon gut. Du bist vermutlich viel zu jung um zu verstehen wie sich wahre Liebe anfühlt. Es ist besser wenn ich weiter lese.“
Meine Nachbaren flüsterte mir beruhigend ins Ohr: „Keine Angst das macht Sie bei jedem. Vermutlich brachst du jetzt das ganze nächste Jahr nichtsmehr vorzulesen.“

Die Stunde zog sich hin wie Kaugummi. Wie sollte ich den so eine gute Deutschnote bekommen. Schon an meinem ersten Tag hatte ich mich so über Robert geärgert dass ich kaum mitgearbeitet hatte und der erste Eindruck ist bekanntlich der Wichtigste. Besorgt starrte ich auf meinen Stundenplan. Was hatte mich nur getrieben so viele Kurse zu belegen?
„Clair?“
Erschreckt starrte ich auf. Ich hatte nicht mitbekommen das es zum Ende der Stunde geläutet hatte. Vermutlich war ich kurz eingenickt. Schlafmangel bekam mir nicht.
„Sie scheinen Deutsch wirklich zu mögen.“
„Ähm, ja, Miss ….“
„Miss Meyer. Aber du kannst mich Maria nennen.“
Ich nickte.
„Was habt ihr den so an eurer alten Schule gelesen?“
„Ganz Verschiedeneres. Meist moderneres. Brecht und Kafka zum Beispiel.“
„Das nennst du modern?“
Moderner als Goethe allemal. Abgesehen davon war ich von allem 'wirklich modernen' nicht sehr begeistert. Für mich waren Brecht und Kafka modern genug. Um vom Thema abzulenken ergänzte ich: „Von Goethe haben wir Faust gelesen.“
„Faust ist gut. Aber etwas zu mythologisch.“
Natürlich war es das. Aber ich nahm an das ihr Problem eher in der zu kurz kommenden Liebe lag. Gretchen starb. Helena starb. Und das war's dann auch schon an Romantik.
„Ich mag Mythologie“, gestand ich.
„Mythologie hat etwas romantisches an sich. finden sie nicht auch? Ich bin erstaunt das jemand so junges wie du dafür interessiert.“
„Meine Eltern meinten das Fernsehen schlecht für mich sei. Daher habe ich schon sehr früh angefangen viel zu lesen.“
Vielleicht ließ sie locker wenn ich ihr etwas privates erzählte. Ich wollte nicht unhöflich wirken aber im Moment hatte ich andere Probleme als mich mit meiner Deutschlehrerin über Literatur zu unterhalten. Unter normalen Umständen hätte ich es vielleicht sogar genossen. Aber seit gestern schien nichtsmehr normal. Was war überhaupt normal?
„Wenn ich sie so ansehe scheinen ihre Eltern damit richtig gehandelt zu haben.“
Was in drei Teufels Namen meinte sie damit?
„Nun ja, ich möchte dich nicht länger aufhalten. Die nächste Stunde müsste gleich beginnen.“
„Vielen Dank, … Maria.“
Zögernd nahm ich die Bibliothekskarte, auf der die Lektüren für das nächste halbe Jahr eingetragen waren, entgegen und verließ erleichtert den Klassenraum.
Gerne hätte ich mich noch mir dem rothaarigen Mädchen unterhalten. Erst jetzt viel mir auf das ich ihren Namen gar nicht kannte. Genug Zeit zum grübeln blieb mir allerdings nicht ich musste mich beeilen um rechtzeitig zum Naturwissenschaftstrakt zu kommen.
Sofort musste ich enttäuscht feststellen das der Biologie Unterricht daraus bestand stundenlang stumm auf die ausgeteilten Arbeitsblätter zu starren. Mündliche Leistung schien es hier nicht zu geben. Immer noch müde verbrachte ich die Stunden damit vor mich hin zu dösen, was niemanden aufzufallen schien. Der Lehrer hatte mich zwar zu Beginn der Stunde registriert und meinen Namen in seiner Liste abgeharkt, aber dabei war es auch geblieben.
Betrachtete man das ganze positiv so konnte ich mich in den kommenden Biologiestunden etwas von meinem anscheint überbelegten Stundenplan erholen.

Ich hatte mich so auf die neue Schule gefreut aber alles was ich im Moment empfand war Unbehagen. Keine meiner Taten oder Gedanken war mehr Clairtypisch. Robert hatte dafür gesorgt das ich mir schon jetzt wie eine arrogante Zicke vorkam. Mürrisch brachte ich den Rest des Tages hinter mich ohne zu registrierte was um mich herum geschah. Sogar in der Mittagspause hatte ich es geschafft vollkommen allein zu bleiben. Ohne Robert war ich unsichtbar, so schien es.
...Unsichtbar?
Ich war wieder Clair.
Niemand interessierte sich für meine Person.
Es ging nur um Robert.
Ich war uninteressant.
Es war gut so. Oder?
Robert brachte mir nur Schwierigkeiten. Ich sollte meine Zeit ohne ihn sinnvoll nutzen. Vielleicht fehlte er ja wieder ein ganzes Jahr. Hoffentlich...

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Tag der Veröffentlichung: 12.08.2012

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