Endlich waren Ferien und ich konnte mich von den stressigen Prüfungen erholen. Daher verabredete ich mich mit Eve, Gabriel, Anthony und Sam um mich auf die Ferien einzustimmen.
Wir trafen uns am alten Pier und liefen ziellos durch die Stadt, bis wir zu ’dem Laden’ kamen. ’Der Laden’ war einer der wenigen Orte, an denen wir einfach nur herumblödeln konnten ohne von Irgendjemanden schief angeguckt zu werden. Kevin, der Besitzer kannte uns und wir konnten sogar behaupten mit ihm befreundet zu sein. Er bekam immer vorab Versionen neuer Computerspiele und manchmal durften wir sogar welche umsonst testen.
„Hey, Kevin.“, Sam war neu in unserer Gruppe und versuchte jedes Mal verzweifelt mit Kevin zu flirten, der dies zu ignorieren schien.
„Hey“, sagte Kevin, als er langsam seinen Blick von einem neuen Fantasy-Roman abwandte.
„Hast du ein neues Spiel, was du uns empfehlen kannst?“, versuchte sie es weiter und rückte demonstrativ näher an ihn heran. Er hob eine Augenbraun. „Da muss ich nachgucken.“, sagte er während er mir zunickte und ging in den Lagerraum.
Sam funkelte mich böse an und ich zuckte mit den Schultern. Was konnte ich dafür, wen Kevin nun mal nicht auf sie stand? Eigentlich nichts, oder? Aber Sam schien das nicht einzusehen.
Kevin kam mit einer Kiste aus dem Lagerraum.
„Ich habe tatsächlich etwas. Aber ich muss euch warnen, es ist noch in der Testphase und nur ein Prototyp. Es können also noch einige Fehler auftreten.“ Er stellte die Kiste auf der Theke ab. „Es gibt für jeden von euch eine DVD und einen Helm. Jede der DVDs unterscheidet sich. Das soll das Spiel interessanter machen, oder so. Naja, auf jeden Fall könnt ihr es nur online spielen, auf einem extra dafür vorgesehenen Server, der dann eure Daten speichert. Es ist interaktiv, das bedeutet, dass es keine exakt vorgesehene Handlung gibt. Zumindest wurde es mir so erklärt. Sagt mir, wenn es gut ist, dann bestell ich ein paar Exemplare.“
„Na klar.“ Ich lächelte ihn an, während Sam mir von der Seite einen giftigen Blick zuwarf.
„Na dann, viel Spaß. Und sagt mir Bescheid, wie ihr das Spiel findet.“
Sam schnappte sich wütend einen lilafarbenen Helm und die dazugehörige DVD und stürmte aus dem Laden. „Sam warte!“ Eve rannte ihr hinterher und versuchte sie einzuholen, kam aber nach wenigen Minuten wieder zurück.
„Tja, da kann man nichts machen“, sagte sie Schultern zuckend.
Jeder von uns nahm sich einen Helm und eine DVD, derselben Farbe, bevor wir den Laden verließen und Kevin ein kurzes ’man sieht sich’ zuriefen.
„Ich fange auf jeden Fall noch heute an zu spielen und ihr?“, sagte Gabriel.
„Ich auch.”, antworteten Eve und Anthony fast gleichzeitig.
Alle drei schauten mich erwartungsvoll an.
„Ich weiß noch nicht, ich muss heute auf meinen kleinen Bruder aufpassen, meine Eltern wollen
heute zusammen ausgehen. Also werde ich wohl bis morgen warten müssen.“
„Schade, also sehen wir uns dann morgen ’online’.“ Es schien Eve riesige Freude zu bereiten, dass Wort online zu betonen. Sie schenkte mir eins ihrer liebeswürdigsten Lächelns und machte sich mit Anthony im Schlepptau auf den Heimweg.
„Dann also bis morgen“, sagte Gabriel, als wir schon eine Weile gelaufen waren und verschwand in einer der Gassen. Das war typisch er, niemand von uns konnte behaupten, ihn richtig zu kennen. Niemand von uns wusste, wo er wohnte oder wer seine Familie war. Er tauchte immer dann auf wenn man ihn brauchte, oder wenn man sich wünschte, dass er einfach nur da war. Er fragte nie nach, wenn man etwas lieber verschweigen wollte. Er war ein komischer Kerl, aber ich mochte ihn.
Ich wachte auf. Der Boden, auf dem ich lag, war ein alter und abgewetzter Holzboden. Als ich mich aufrichtete, spürte ich wie speckig und klebrig der Boden unter der dicken Staubsicht war. Vorsichtig stand ich auf, um nicht durch eine der knarrenden sich zersetzenden Dielen zu brechen.
Erste jetzt bemerkte ich, dass ich allein war. Das Haus in dem ich mich befand, war menschenleer. Genauso wie Stadt.
Alles hier roch nach Metall, ich konnte es förmlich auf der Zunge schmecken.
Ich blickte mich um. Ich schien mich im Wohnzimmer des Hauses zu befinden. Rechts von mir stand ein langer Eichentisch. Er war alt und speckig, das roch ich. Genau wie die Stühle die um ihn herum standen oder auch teilweise lagen, als ob das Haus eilig verlassen worden wäre. Alles deutete auf eine eilige Flucht hin, dass erkannte ich auch an den stehen gelassenen Tellern und Töpfen, die teilweise noch mit Essen gefüllt waren.
Hier war länger niemand mehr gewesen. Das Essen war verschimmelt und alles war mit einer leichten Staubschicht bedeckt.
Ich verließ das Zimmer durch die einzige Tür und gelangte in einen Flur. Direkt vor mir saß eine schwarze Katze und starrte mich an. Warum hatte ich sie vorher nicht bemerkt?
Ich starrte zurück. Sie begann zu fauchen, machte einen Buckel und stellte ihren Schwanz auf. Das tangierte mich nicht im Geringsten, ich fauchte zurück. Die Katze sprang auf und rannte davon. Sollte sie nur, hatte ich wenigstens meine Ruhe.
Ich blickte nach rechts. Eine offene Tür.
Das war fast zu leicht. Würden sie es mir diesmal wirklich so leicht machen? Diesmal war Eve an der Reihe gewesen. Sie kannte unsere Ängste. Sie wusste alles, jedes kleinste Detail. Auch wie sehr ich den Geruch von Metall verachtete. Was hatte sie vor? Würde es schlimmer werden als bei Anthony? Anthony hatte mich Tage lang ohne Orientierung und Verstand herum irren lassen. Oder würde es sogar schlimmer als bei Gabriel, der mich gegen mich selbst spielen ließ? Eins stand jedenfalls fest, wenn ich an der Reihe bin, werde ich mich rächen. Aber zu erst muss ich das hier hinter mich bringen.
Ich atmete tief durch und setzte einen Fuß vor den andern, bis ich im Freien stand. Die Sonne schien, es musste Mittag sein. Das ist nicht gut. Das ist wirklich nicht gut.
Da fiel mir wieder ein, dass ich doch allein war. So würde niemanden auffallen das ich glitzerte. Eve wäre bestimmt auch nicht so dumm gewesen so etwas zu riskieren. Gute alte Eve, sie möchte ich wirklich nicht als Feindin haben.
Ich ließ meinen Blick über die Häuser schweifen. Sie wirkten alle ähnlich auf mich, alt und schon lange verlassen. Gegenüber befand sich ein Pub. In dieses Haus würde ich wohl als erstes gehen müssen. Ich schaute nach links, da war das Sheriffbüro, Nummer Zwei auf meiner Liste. Mal sehen was es hier sonst noch so gibt, gehen wir als nach rechts. Das sieht mir sehr nach einem Marktplatz aus. Ein Brunnen gab es zumindest. Und sogleich entdeckte ich auch ein Holzschild, typisch Eve. Sie hatte in schwarzer Farbe etwas über die Steckbriefe geschrieben. Ich brauchte eine Weile um es zu entziffern. Aber ja, da stand: „Du hast drei Tage Zeit, wenn du es nicht schaffst wird Sam ein Spiel mit dir spielen wollen. Viel Glück“
Das hatte ich mir schon gedacht, nur nicht unter Druck setzen. Schließe mal eben in drei Tagen mit deiner Vergangenheit ab. Ich könnte glatt in die Luft gehen vor Wut und das meine ich wörtlich. Mehr Hinweise würde mir Eve nicht geben, das war klar. Ich sollte alles selbst herausfinden. Hier gibt es wohl nichts mehr zu entdecken, als zurück zum Pub.
Die Luft im Pub war stickig, trotz der zerschlagenen Fenster und der nicht vorhandenen Tür. Deshalb hörte ich auf zu atmen, war ja sowieso sinnlos, da kein Mensch mich jetzt sehen konnte. Die Theke war mit einigen halbvollen und umgeworfenen Biergläsern, sowie Staub bedeckt. Es roch nach Bier, Schweiß, Fliegen und Staub. Wie kann es hier nach Schweiß riechen? Hier war jahrelang keiner gewesen? Aber das war jetzt nicht wichtig. Ich sah mir die Theke näher an. Die Flaschen im Regal, waren in ähnlichen Zustand wie die Biergläser, sonst konnte ich nichts entdecken. Aber halt. Was war das, neben der alten Jukebox hangen ein paar alte Steckbriefe. Auf einem war ein Mann zu sehen, der mir bekannt vorkam. Er hatte einen Drei-Tage-Bart und kurze verwuschelte Haare. Sein Blick war ausweichend. Ich suchte den Namen. Doch der war nicht mehr erkennbar. Genauso wie die Belohnung die auf ihn ausgesetzt war. Ich riss den Zettel ab und steckte ihn ein, der würde mir später noch nützlich sein. Mehr konnte es hier kaum geben. Der Pub war ziemlich leer, nur ein altes Klavier stand noch in der Ecke. Ich hätte jetzt echt Lust was zu spielen, aber ich habe ja nur drei Tage Zeit.
Ich seufzte und machte mich auf dem Weg zum Sheriffbüro. Auf dem Weg dorthin lief mir wieder die schwarze Katze über den Weg. Ich brauchte sie nur anzustarren und schon war sie weg. Ich grinste. Irgendwie mag ich Katzen, sie verstehen etwas von Autorität.
Im Büro war es als träfe mich der Blitz. Ich sah, wie der Mann, derselbe Mann der auf dem Steckbrief in meiner Hosentasche abgebildet war vor mir stand und mich anlächelte.
Da geht wohl wieder meine Fantasie mit mir durch, versuchte ich mir einzureden. Du kannst diesen Mann gar nicht kennen. Er ist über 200 Jahre tot. Zumindest sollte es so sein. Oder etwa nicht?
Ganz ruhig, sagte ich mir. Atme erstmal tief durch. Das Durchatmen brachte mir keine physischen Vorteile, war aber überaus beruhigend.
Im Büro stand ein Kleiderständer, ein von den alter vierbeinigen die ich so liebe, ein Schreibtisch und ein dazu gehöriger Stuhl. Am anderen Ende des Raumes gab es zwei kleine Gefängniszellen, von denen eine offen stand und ein kleines Regal mit Dosen.
Ich widmete mich dem Schreibtisch. Aber ich konnte nichts entdecken außer ein paar alten unwichtigen vergilbten Papieren. Vielleicht hatte ich in der Zelle mehr Glück.
Die Zelle war mit verrottetem Stroh ausgelegt und es gab einem Eimer, in dem man wohl seine Notdurft verrichten sollte. An der Wand war mit ein Holzbrett zum sitzen und schlafen angebracht und darüber einige Kritzeleien von ehemaligen Insassen. Einige hatten wohl die Tage gezählt, andere hatten Sprüche in die Wand geritzt. Ich entdeckte nichts was von Belang für mich war. Ich wollte schon die Zelle verlassen, da entdeckte ich, dass einer der Steine lose war. Ich zog in heraus. Jemand hatte wohl den Stein feinsäuberlich entfernt und einen Hohlraum geschaffen, damit er etwas verstecken konnte. Ich tastete das Loch ab und siehe da ich zog ein kleines Buch heraus.
Es war die Bibel. Ernüchternd, ich hatte auf ein Tagebuch gehofft. Lesen wollte ich sie vorerst nicht, also steckte ich sie ein.
Ich hatte einen langen Fußmarsch vor mir und ich wollte nicht bei Tagesanbruch in einer bewohnten Stadt ankommen, sollte es der Fall sein, dass es hier in der Nähe so etwas gab, was eher unwahrscheinlich ist.
Welche Richtung sollte ich einschlagen? Ich entschied mich, Richtung Marktplatz zu gehen und auf diesem Wege die Stadt zu verlassen. Was würde mich wohl in der nächsten Stadt erwarten? Würde sie mir endlich Aufschluss über meine Vergangenheit geben? Würde ich erfahren was mit meiner Familie geschah? Oder wie ich zu dem wurde was ich heute bin?
Da mich niemand sehen konnte begann ich zu rennen. Ich würde wohl schon in den nächsten Stunden eine neue Stadt erreich. Ob es die Richtige ist? Wollen wir es hoffen. Hoffentlich hält Eve nicht noch eine Überraschung für mich bereit. Die letzte hatte mir schon gereicht.
Langsam wird es dunkel. Das hindert mich allerdings nicht daran so schnell zu rennen. Aber jede Nacht kommt es mir so vor als würde ein Teil von mir sterben. Ein Teil der weiß was ich wichtiges vergessen habe. Der weiß, warum diese vergessene Erinnerung mein einziger Lebensinhalt ist. Vielleicht würde ich in dieser Stadt die Antwort auf all meine Fragen finden.
Als ich den Helm absetzte spürte ich wie sich langsam die üblichen Kopfschmerzen breitmachten. Es war egal wie lange man spielte, sie waren da. Ich nahm an, dass es etwas mit der revolutionären Sensorik des Helms zu tun hatte. Es war erstaunlich wie genau er jede einzelne meiner Muskelbewegungen wiedergab und auch wieder etwas beängstigend.
Jedes mal, wenn ich den Helm in den Händen hielt, fühlte ich mich beobachtet und jedes mal ignorierte ich es. Wer sollte mich schließlich beobachten.
Es war mitten in der Nacht. Wiedereinmal hatte ich die Zeit beim Spielen vergessen.
Nächste Woche begann schon wieder die Schule und ich hatte fast die gesamten Ferien vor dem Computer verbracht. Nur zum Essen und Schlafen konnte ich mich noch von ihm losreißen und dann nur äußerst wiederwillig. Ab und an musste ich auch auf meinen Bruder aufpassen, was mich ganzschön auf trab hielt. Er liebte Sport, ganz besonders Fußball, und dass ließ er mich spüren. Mit ihm verbrachte ich fast jede freie Minute vor der Tür, außer ein 'wichtiges Fußballspiel' lief im Fernsehen, dann konnte ich mir von ihm anhören was die Spieler gerade richtig und falsch machten, was der Trainer sich dabei dachte und alle möglichen anderen Fakten zum Thema Fußball. Manchmal ging es mir echt auf die Nerven, aber jedes mal, wenn ich das Glitzern in seinen Augen sah und seine Begeisterung förmlich spüren konnte, blieb ich still und musste daran denken, wie lieb ich ihn hatte.
Auch heute würde ich wieder auf ihn aufpassen müssen, dass hieß ich würde nur noch vier bis fünf Stunden Schlaf bekommen. Was eigentlich viel war, nur hatte ich die letzten zwei Nächte nur zwei Stunden geschlafen.
Gähnend schleppte ich meine tauben Muskeln zum Bett. Zähne hatte ich mich schon vor Stunden geputzt, als ich meinen Eltern versicherte ich würde mich sofort hinlegen.
Ab morgen Abend hatte ich nur drei Tage Zeit um Eves Aufgabe zu lösen: Die Vergangenheit der mir gegebenen Person herauszufinden. Allen bis auf Eve musste es in diesem Moment genauso gehen wie mir. So hatte es zumindest in der Kurzanleitung geheißen, die man bei einlegen der DVD erhalten hatte.
Jede Woche setzte ein Spieler aus und durfte zu Beginn aus drei Aufgaben eine auswählen, die die anderen bewältigen mussten um in die nächste Runde zu kommen. Bisher hatten Anthony, Gabriel und Eve wählen können, fehlten noch Sam und ich. Vor welche Wahl würde wohl ich gestellt werden und wie genau würde funktionierte es sich in das laufende Spiel einzumischen? Es war davor gewarnt worden die falsche Wahl zu treffen. Geklungen hatte es wie einer der Slogans, der Spiele interessanter machen sollte, dennoch hatte ich eine Gänsehaut bekommen als ich auf 'bestätigen' geklickt hatte.
Im Gegensatz zu den meisten anderen las ich mir die Allgemeinen Geschäftsbedingungen immer ganz genau durch. Behielt dies aber für mich, denn die meisten machten sich über mich lustig, wenn ich sie darauf hingewiesen hatte, was sie da gerade 'unterschieben' hatten. So kam es auch, dass ich bemerkte, dass die üblichen Paragraphen zur Haftung eine Ergänzung hatten. In dieser Ergänzung stand, dass die Firma keinerlei Haftung oder Verantwortung übernahm, wenn sich die Spieler durch das Spiel gegenseitig physisch oder psychischen Schaden zufügten. Des weiteren würde immer und immer wieder auf die Anonymität der Spieler hingewiesen und die fehlende Chat- und Teamspeak-Funktion. Schließlich und letztendlich sei es ein Spiel, dass man alleine meistern müsse. So wie das wahre Leben auch.
Um Nummer sicher zu gehen, hatte ich die Firma im Internet überprüft. Es war eine neue Firma, die den nichtssagenden Namen '(Inner) World of a free mind' trug. Ich fand eine Geschäftsadresse, zu keiner mir bekannten Briefkastenfirmen führte, also hatte ich eingewillt. Dennoch war mir jedes mal, wenn ich den Helm ablegte nicht ganz Geheuer bei den Gedanken nicht zu wissen wer sich hinter der Firma verbarg. Andererseits vertraute ich Kevin, der mir versichert hatte, er würde den Entwickler kennen. Sei mit ihm zur Schule gegangen.
Sam hatte ich seitdem nichtmehr gesprochen. Ich hatte gehofft sie im Laden anzutreffen. Sie hielt sich schließlich viel öfter dort auf als wir. Aber vermutlich hatte auch sie schon mit dem Spielen begonnen.
Darüber grübelnd wie ich mich mit ihr versöhnen sollte, schlief ich schließlich ein.
Wie erwartet riss mich das klingeln meines Weckers viel zu früh aus dem Schlaf. Heute war ich dran mit Frühstück machen. Daher radelte ich mich noch im Halbschlaf befindend zum Bäcker. Die Frau hinter der Theke musterte skeptisch meine dunklen Augenringe.
Während sie mir die von mir bestellten Brötchen in die Tüte stopfte begann sie mir einen Vortrag zu halten. Ich sollte nicht zu spät ins Bett gehen, sonnst würde ich im Alter die Konsequenzen zu spüren bekommen. Zum Glück kam im nächsten Moment Anthonys Gesicht hinter den Vorhang hervor, der den hintern Teil des Ladens absperrte. „Ab nächster Woche ist wieder Schule. Und 13. Klasse bedeutet Abitur. Nur logisch wenn wir etwas länger wachbleiben oder?“
Auch Anthony hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er zwinkerte mir verschwörerisch zu.
„Ihr geht in die gleiche Klasse?“, erstaunt schaute sie ihren Sohn an.
„Ja Mum, und ich hatte dir schon von Lizzy erzählt.“
„Lizzy“, zischte ich wütend.
Anthony lächelte entschuldigend und verschwand schnell wieder hinter dem Vorhang.
„Wenn das so ist, entschuldige ich mich natürlich. Mein Sohn schließt sich auch schon die ganzen Ferien in seinem Zimmer ein und lernt. Es war eine Tortur ihn aus seinem Zimmer zu bekommen, damit er mal etwas an die frische Luft kommt.“
„Welche frische Luft? Den ganzen Tag sitze ich hier im Laden fest.“, hörte ich die Stimme ihres Sohnes Stimme von hinten klagen.
„Jetzt hör aber mal auf. Schließlich bezahlen wir dir so die Schule und wenn du schon nichts im Haushalt tust, dann kannst du wenigstens etwas im Laden aushelfen. Oder ist das etwa zuviel verlangt?“
Entschuldigend sah sie mich an, als sie mir die Brötchen reichte. „Es tut mir Leid, ich bin nur momentan etwas mit dem Nerven fertig.“ Sie beugte sich zu mir vor und flüsterte mir ins Ohr: “Mein Mann droht seine Stelle zu verlieren und da ist es etwas stressig Zuhause. Bitte sag Anthony nichts, er weiß noch nichts davon.“
„Mum, was hast du gesagt.“ Anthony lugte hinter dem Vorhang hervor.
„Nichts mein Schatz.“
Skeptisch musterte mich Anthony.
„Wenn du meinst“, sagte er und verschwand wieder.
Schnell bezahlte ich und verabschiedete mich höflich.
Zuhause wartete schon mein Bruder ungeduldig an der Wohnungstür. „Wo warst du denn so lange? Ich warte schon seit über einer halben Stunde! Und zum Bäcker braucht man nur zehn!“
„Die Mutter von einem Freund arbeitet in dem Laden.“, antwortete ich müde und schloss mich sofort im Bad ein. Diese verdammten Augenringe mussten verschwinden. Wo hatte Mutter nur ihren Abdeckstift versteckt?
Mein Bruder war mir gefolgt und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür. „Frühstück. Ich will Frühstück“, schrie er immer wieder in den kurzen Pausen.
Endlich, da war er tief unten in ihrer Kulturtasche.
Mittlerweile war auch mein Vater wach geworden. Da er gestern keinen Spätdienst hatte, war er relativ gut gelaunt.
„Komm schon, lass deine Schwester sich in ruhe hübsch machen. So sind die Frauen. Stundenlang verbarrikadieren sie sich im Bad und schmieren sich tonnenweise Make-up ins Gesicht.“
Als ich fertig war betätigte ich wütend die Toilettenspülung, wusch mir die Hände mit der Spezialseife meines Vaters, die wir nicht benutzen durften und stürmte wutentbrannt mit der Tüte Brötchen aus dem Bad.
In der Küche angekommen knallte ich Brötchen, Brettchen, Aufstrich sowie Belag auf den Tisch.
„Bitte sehr, die Herren.“
„Die Messer fehlen.“, keck grinste mich mein Bruder an und mein Vater stimmte ein.
„Die Messer fehlen. Messer. Messer. Messer....“
Wie hielt es meine Mutter bloß mit diesen beiden aus?
Drohend hielt ich ihnen die Messer vors Gesicht. „Wie darf ich sie aufschneiden? Schnell oder eher langsam und quälend. Wie hätten sie es gerne?“
„Oh unser Lizzielein versucht heute witzig zu sein. Vielleicht sollte es einfach mal früher ins Bett gehen. Ich sehe doch wie kleine deine Äuglein sind.“
Mürrisch ließ ich die Messer zusammen mit den Brötchen in den Brotkorb fallen.
„So viel Spaß noch.“
„Wo willst du hin?“, fragte mich mein Vater überrascht.
„Mami wecken.“
„Lass sie schlafen. Sie hatte gestern einen harten Tag. Einer ihrer Kunden hat sich direkt beim Chef beschwert.“
Schweigend nahm ich mir eins der Brötchen und ließ mich auf einen der beiden freien Stühle nieder. Doch anstatt das Brötchen nach dem aufschneiden zu beschmieren, riss ich Stück für Stück ab und stopfte es mir in den Mund.
Irgendetwas musste nicht mit mir stimmen, denn anstatt des üblichen Brotgeschmacks, schmeckte ich Metall. Mir wurde übel. Diese verdammten Nachwirkungen des Spiels.
„Liz. Wenn du keinen Hunger hast, dann leg dich doch noch etwas hin. Das Elend kann man sich ja nicht mit ansehen.“
„Dann mach ich das wohl.“
Ich stand auf und ging in mein Zimmer, aber anstatt zu schlafen setzte ich mich vor den Computer. Ich hatte noch drei Tage Zeit, dass hieß unter 72 online-Stunden.
Am Horizont, konnte man nur noch den letzten Schimmer der untergehenden Sonne erkennen. Aber das war mir egal, Tag oder Nacht, dass macht für mich keinen Unterschied mehr.
Ich erreichte die Stadt, unbewohnt, wie erwartet. Einfach. Zu einfach.
Eine Windböe wehte mir Sand ins Gesicht. Ich wischte ihn weg und ging weiter auf die Stadt zu.
Diese Stadt hatte eine Kirche, ich ahnte schlimmes.
Schon wieder eine Böe, ich blinzelte aus Gewohnheit. Plötzlich stand ein Pferd samt Reiter vor mir. Der Reiter drehte sich zu mir um, der gleiche Mann, den ich schon in der anderen Stadt gesehen hatte.
Er tippte zum Gruß an seinen Hut und ritt davon. Zurück blieb nichts als eine Staubwolke.
Schon wieder eine Halluzination. So hungrig bin ich doch gar nicht. Meine letzte Mahlzeit war gestern und ich kann doch eine Woche ohne Nahrung auskommen. Hier draußen würde ich sowieso keine finden. Da muss ich wohl oder übel durch.
Ich seufzte.
Diese Stadt war zwar größer, aber auch unheimlicher. Als ob hier früher mal etwas Schreckliches geschehen ist. Und ich hatte das starke Gefühl, dass ich ein Teil davon war.
Mein Schicksal hatte mich schon einmal in diese Stadt geführt. Da war ich mir ganz sicher. Aber was hatte das zu bedeutet? Hatte ich etwas Schreckliches getan und diese Menschen zur Flucht getrieben? Oder war ich selbst Opfer gewesen?
Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden musste ich die Kirche betreten. Ich hatte seit Jahren keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt, in ein Gotteshaus. Eigentlich hatte ich noch nie eine Kirche betreten, zumindest konnte ich mich nicht mehr daran erinnern.
Schade aber auch. Ich grinste.
Es war Nacht geworden, doch für mich war es noch Tag. Für mich war es immer Tag.
So hatte ich keine Probleme die Kirche zu erkennen.
Sie war klein, so groß wie ein Wohnhaus und auch so schmucklos. Das Einzige was sie von den anderen Häusern unterschied war ihr Turm und das Kreuz, dass über der Tür hing.
Die Menschen haben sich schon immer hinter Symbolen und Mythen versteckt. Und was hat das geändert? Nichts. Dieses Dorf war verlassen, trotz ihrer ‚heiligen Symbole’.
Ich schritt voran. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Das Kreuz hing schief und hatte sich hinter der Tür verharckt. So als ob das Kreuz die Tür für mich aufhielt.
Dadurch hatte ich keinerlei Komplikationen, als ich die Tür öffnete.
Die Kirche war leer. Es gab keine Sitzbänke mehr. Nur das Redepult des Pfarrers stand noch an seinem Platz.
Ich schritt auf das Pult zu. Es war aus Holz. Das war alles. Keine Bibel, kein Hinweis.
Ich fing an in Panik zu geraten. War dies doch die falsche Stadt? Aber ich hatte doch den Mann gesehen.
Ganz ruhig Liz, ganz ruhig.
„Du hast ja noch zwei Tage, 48 Stunden.“
Ich war wütend, unglaublich wütend.
Ich rannte aus der Kirche ohne das umgekippte Taufbecken zu beachten. Rannte immer weiter. Ich blieb erst stehen, als ich den Marktplatz erreicht hatte und sich vor mir ein abgebrannter Scheiterhaufen auftürmte.
Jetzt wusste ich, was mit den Kirchbänken passiert war, sie wurden verbrannt. Aber warum? Genau, warum? Was war es, das die Bewohner so dringend verbrennen wollten?
Zu wie es aussah hatten sie es nämlich nicht geschafft. Das Holz war zwar verbrannt und zum größten Teil zu Asche zerfallen, aber etwas anderes war ihr nicht verbrannt worden, das hätte ich gerochen. Dennoch roch es nach Blut, nach viel Blut. Der Geruch des Blutes wurde von einem stärkeren Geruch überdeckt. Dieser Geruch sorgte für die unheimliche Aura der Stadt. Es war die Angst. Todesangst gepaart mit Panik.
Ich konnte sie sehen, die rennenden Menschen, mit ihren vor Schock erstarrten Gesichtern.
Auf dem Scheiterhaufen stand höhnisch grinsen ein Mann. Er sprang herunter und erblickte mich. Sein Grinsen verschwand, allerdings nur für einen kurzen Augenblick. Er legte den Kopf schief und sagte: „Was haben wir den hier schönes?“ Er bleckte sich die Zähne und zog die Luft ein. „Köstlich. Und so etwas wollte er mir vorenthalten. Tz, tz.“ Er schüttelte den Kopf und lächelte dabei süffisant.
Er ging einen Schritt auf mich zu und Freude lag in seinem Blick. Er war amüsiert. Ich wich zurück. „Hab doch keine Angst Kleines. Dir werde ich nichts antuen, dafür bist du uns viel zu kostbar.“
Ich schluckte und blickte mich Hilfe suchend um, aber da war niemand.
Plötzlich stand er hinter mir und führ mit seinen Händen durch meine Haare.
„Hübsche Haare, so schön lang und weich.“
Ich erstarrte. Was hatte er nur vor? Und warum sollte ich kostbar für sie sein?
Er nahm eine meiner Haarsträhnen zwischen zwei seiner Finger und betrachtete sie.
Dann strich er mir die Haare von meiner linken Halshälfte und strich mit seinem Finger über meine Haut. Seine Hand war eiskalt, ich zuckte zusammen und bekam eine Gänsehaut.
Jetzt konnte ich seinen eiskalten Atem auf meiner Haut spüren, seine eiskalten Lippen. Dann war alles schwarz. Dunkelheit umgab mich.
Als ich erwachte lag ich auf dem Marktplatz. Mein Herz hätte wie verrückt geschlagen, hätte ich eins gehabt. War es das? Eine Erinnerung die nach so langer Zeit wieder an die Wasseroberfläche trat?
Vorsichtig tatstete ich die Stelle ab, wo sein Atem meine Haut getroffen hatte. Das Mal schmerzte. Ich hatte es nie genau betrachten können, da es in dieser Welt keinen Spiegel gab, aber ich konnte wenn ich meinen Kopf genug drehte etwas rotes auf meiner bronzenen Haut erkennen.
Hatte ich damals dieses Mal erhalten?
Hatte ich endlich den Ort gefunden, der mir meine Vergangenheit offenbarte?
Und wer war dieser Mann, den ich ständig sah? Auch eine Erinnerung?
Plötzlich wurde alles Schwarz.
Tag der Veröffentlichung: 15.01.2012
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