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Er: Abschied



Es ist genauso, wie du immer gesagt hast. Nichts hat sich geändert. Nur ich, ich bin nicht mehr derjenige von dem Du dachtest er würde es alleine nicht schaffen. Aber ich habe es, musste es. Du warst ja nicht mehr da. Bist es nicht mehr. Zumindest nicht so wie früher. Aber irgendwie doch auch. Zumindest für mich. Für mich warst du nie wirklich fort. Und doch sitze ich hier, bei dir und du bist nicht da.
Seit jenem Tag denke ich, wie es wäre, wenn ich an deiner statt …, aber so darf, ich nicht denken. Nicht heute. Nicht an deinem Tag. Erinnerst du dich?
Der heutige Tag war immer dein Lieblingstag gewesen und auch der Tag, an dem wir uns kennen lernten. Wir haben ihn seitdem immer gemeinsam verbracht. Wir haben Eis gegessen, sind ins Kino gegangen, dann bist du durch die Straßen getanzt, mit deinem viel zu dünnen Kleid. Aber du hast immer nur gelacht, wenn du dann fröstelnd und klitschnass im Wohnzimmer standest. Du wolltest leben. Wolltest du schon immer. Als hättest du es gewusst. Aber dass konntest du doch gar nicht. Oder? Ich habe noch so viele Fragen. Aber sie sind alle wertlos ohne dich. Ohne dich ist so vieles wertlos.
Aber ich kämpfe. Kämpfe jeden Tag aufs Neue gegen die langsam und unaufhörlich malenden Mühlsteine unserer Zeit. So wie du es mich gelehrt hast.
Ohne dich würde ich es nicht schaffen. Würde es nicht über mich, bringen jeden Tag aufs Neue aufzustehen und abends ins Bett zu gehen. Aber ich tue es. Tue es für dich, so wie ich immer alles für dich getan habe. Auch darüber hast du nur gelacht. Hast mich nicht ernst genommen, meintest ich bräuchte dich nicht, nicht so, wie ich die Anderen bräuchte. Aber ich sah dass anders. Tue es immer noch.

Ich habe hier eine List mit Dingen, die ich dir schon immer mal sagen wollte.
Erstens: Wenn du … wenn du wirklich wieder bei mir bist, bei uns bist. Ich meine wirklich. Dann habe ich mir vorgenommen dich mitzunehmen. Mit mir mitzunehmen. Nur wir beide. Keiner sonst. Wie ein richtig kleiner Urlaub. Die hast du doch immer geliebt. Diese kleinen Urlaube am Wochenende und manchmal auch an deinem Lieblingstag. Wir sind dann immer in irgendein kleines billiges Hotel abgestiegen und haben Ausflüge gemacht, bis es dunkel wurde und wir dann nahezu kraftlos in den Schlaf sanken. Du hattest immer ein Lächeln auf deinen Lippen, bevor du einschliefst. Ich weiß es, denn ich habe es genossen dich im Schlaf zu betrachten, du sahst immer so friedlich und zerbrechlich aus. Siehst es noch immer, aber jetzt ist es anders. Ich habe Angst vor deinem Schlaf. Ich weiß nicht, wann er kommt und wenn dann wie lange. Und wenn du nicht schläfst, auch. Aber dass ist kein Leben. Das weiß ich. Und doch. Und doch hast du dich nie beschwert. Kein einziges Mal. Bis heute. Aber ich kann, dass nicht mehr und das weißt, du. Du willst es mir nur nicht schwerer machen. Deine Mutter hat mir dein Tagebuch gezeigt. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass du eins führst. Aber sie schon. Dabei dachte ich, ich kenne dich besser. Besser als kein Anderer. Aber das du, dass dieses Buch schrieb, kannte ich nicht. Hätte es gern gekannt. Aber dass geht ja nicht mehr. Heute ist dein letzter Tag.


Du wirst nicht wie ein Wunder wieder bei mir sein, oder? Daher kann ich meine Liste vergessen. Sie ist ja sinnlos ohne dich. Nicht aber du und die Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben. Sie wird mir ewig in Erinnerung bleiben, bis ich alt und grau bin. Das hätte dich zum Lachen gebracht, nicht war? Ist es ja auch, und dennoch. Dennoch bringt es mich zum Weinen. Es sind Tränen des Abschieds, denn ich weiß aus diesem Koma wirst du nicht wieder erwachen. Dennoch will mein Herz nicht glauben. Will nicht glauben, dass es nun vorbei ist. Sagt, es ist ja noch Zeit, noch Hoffnung, nichts ist verloren, wird es nicht sein.
Es kostet mich jedes mal Kraft mich von deinem Bett loszureißen. Jedes Mal. Jedes Mal aufs Neue trifft es mich beim Verlassen des Zimmers wie ein Schlag, dass du jetzt, endgültig, in der Abteilung des Krankenhauses liegst, die mir am meisten verhasst ist, die am stillsten von allen ist. So still wie vor einem Sturm. Dem Sturm meiner Gefühle, deren ich kaum noch Herr bin, während ich das Krankenhaus verlasse. Draußen werde ich ganz ruhig. Es ist als würde ich mit jedem Schritt, mit dem ich mich entferne, um deinen Zustand vergessen. Tue es aber nie ganz. Denn wenn ich nach Hause komme, bist du nicht da. Das Haus ist leer. Leer ohne dich und kalt. Kalt wie meine Hände, die jetzt zitternd deine Hand halten, wissend um den kommenden Abschied, mit dem sie ihrer letzten Wärme entrissen werden. Sie wissen nicht darum, dass sie in einem Jahr diese Hand nicht mehr halten können und dennoch. Dennoch zittern sie, als wäre es das letzte Mal. Aber es kommen noch Tage, Monate, wenn auch nur wenige. Nicht genug, nicht genug, ruft meins Herz und beginnt zu rasen. Es bleiben noch 41 Tage. 41 Tage, an denen ich bei dir sein kann, an denen ich dich sehen kann. Der Heutige ist zu Ende. Aber die Übrigen liegen noch vor uns. Tage des Abschiedes. Morgen beginnt der Einundvierzigste. Morgen … wir sehen uns morgen.

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Tag der Veröffentlichung: 24.02.2010

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