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Der Nachtmahr

Die Tür zum traumhaften Albtraumhaus der de Temples öffnete sich wie immer gespenstisch leise. Trotzdem huschte Tiger, die dicke, getigerte Katze von David genervt aus dem Flur und in die Küche. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, mich ebenfalls wie immer nach oben zu schleichen und eine Begegnung mit dem Rest der Familie bis zum Abendessen hinauszuzögern. Schließlich hatte David mich nur aus dem Auto geschmissen, um gleich wieder abzudüsen. Es gab also keinen „Zeugen“ für den Zeitpunkt meiner Rückkehr, ergo konnte es auch keine Standpauke für das Abtauchen geben.

Dann fiel mir ein, dass Klaus und ich das Kriegsbeil begraben hatten – und ich zum ersten Mal aus der Wir-schicken-sie-wieder-ins-Internat-Saint-Blocks-Gefahrenzone war. Ich konnte mir also ein Brot schmieren, ohne mir um meine aktuelle Zukunft Sorgen machen zu müssen. Ein ganz ungewohntes Gefühl!

Beschwingt bog ich vom Flur in die Küche ab, hinter der unerträglichen Katze her und stellte fest, dass ich mir oben genannten Gedankengang ruhig hätte sparen können. Der große Zettel auf dem Tisch verkündete: Hallo, bin auf der Arbeit, komme um 21 Uhr wieder. Meg

Kurz knapp, präzise und unmissverständlich. Aber welcher Arbeit, verdammt noch mal? Ich drehte den Zettel mehrfach in der Hand, konnte aber keinen Hinweis auf dieses neue Mysterium finden, nicht einmal einen versteckten. Auch die restliche Küche bot keinen Hinweis. Es war einfach nur die Küche, in der Meg seit Jahren vor sich herpfuschte, in der Hoffnung, einmal eine begnadete Köchin zu werden. DER Job fiel dann wohl schon mal aus.

Das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben, steigerte sich noch, als ich den Kühlschrank öffnete. Leere gähnte mich an. Naja fast. Es gab eine halbe Packung Käse und eine abgelaufene Butter. Ansonsten nada, nichts. Dasselbe Bild fand ich in der Brotbox und im Vorratsschrank vor.

„Grundgütiger!“

Hatte sie vor der Arbeit radikal aufgeräumt und entsorgt, oder war sie wirklich so eine schlechte Hausfrau?

Immerhin fand ich in der Gemüsekiste noch einige große Kartoffeln. Zusammen mit dem Käse und der Butter – sie war zwar abgelaufen, aber noch nicht ranzig – konnte man daraus etwas zaubern, für das man auf jedem Weihnachtsmarkt viel Geld loswerden konnte: Eine Backkartoffel mit geriebenem Käse.

Besser als nichts.

Aber erst einmal musste ich dafür den Backofen säubern. Wie konnte ein Haushaltsgerät, das so gut wie nie benutzt wurde, so aussehen? Selbiges galt für die Kochtöpfe und den Kühlschrank. Wenn hinter der Leere eine Aufräumaktion steckte, hatte Meg nach der Hälfte aufgegeben und den wichtigsten Schritt vergessen.

Ich fluchte immer noch leise vor mich hin, als Klaus nach Hause kam. Ohne groß auf seine Ankunft zu reagieren, nutzte ich den Restschaum auf dem Lappen, um dem Obstfach in der untersten Kühlschranketage den letzten Wisch zu geben.

„Was machst du da?“

„Wonach sieht es aus?“ Ich befreite mich aus dem doppelseitigen, kalten Ungeheuer und deutete auf die saubere Kühl-, Gefrierkombination. Ohne eine Antwort abzuwarten ergänzte ich: „Es gibt Kartoffeln mit Käse. Mehr ist nicht da.“

„Großartig!“, behauptete Klaus. „Wenn du es gemacht hast, kann man es wenigstens essen.“

Bevor mir etwas Schlaues – oder auch Dummes – einfiel, war er im Wohnzimmer verschwunden und hatte die Tür hinter sich verschlossen. Erst dann fiel mir auf, dass auch Megs´ Zettel fort war.

Ich seufzte leise. Anscheinend hatte sich doch weniger in meinem Leben verändert, als ich gehofft hatte. Noch immer gab es genug Geheimnisse und Ungereimtheiten für Sherlock Liz. Leider fühlte ich mich kein bisschen nach Detektivarbeit; ich wollte einfach nur ein normales Leben.

Deswegen widerstand ich der Versuchung zu klopfen und Klaus auszuhorchen. Stattdessen ging ich nach oben in mein Zimmer. Die Kartoffeln konnten auch ohne mich kochen.

Am Treppenabsatz der ersten Etage angekommen verharrte ich. Wenn ich die Augen schloss, war es ein leichtes, mir vorzustellen, die Tür zu Davids Zimmer würde offen sein, er mir entgegensehen und sein Blick mich einladen einfach einzutreten. Etwas, was ich wirklich vermisste. Aber eher würde ich mir die Zunge abbeißen, als das zuzugeben.

Kopfschüttelnd betrat ich mein Reich. Es fühlte sich immer noch fremd an. Trotz aller Versuche, mich heimisch einzurichten und dem Raum „meinen Touch“ aufzuzwingen, fühlte ich mich nicht zu hundert Prozent wohl. Würde es wahrscheinlich niemals tun.

Denn trotz aller Modernisierungsversuche gelangen einige Dinge absolut nicht. Zum Beispiel das Bett zu meinem Bett zu machen. Egal welche Matratze ich kaufte, nach spätestens einer Woche war sie wieder so weich wie die davor. So fluffig und nachgiebig, dass man in ihr versinken konnte. Auch die Kissen, die ich in regelmäßigen Abständen aussortierte, schienen ein Eigenleben zu haben und immer wieder zurückzukehren (oder sie vermehrten sich heimlich, ein Gedanke, den ich noch unheimlicher fand). So kam es, dass ich das riesengroße Monster auch dieses Mal anstarrte und überlegte, wie ich es loswerden konnte. Es fraß kleine Kinder und irgendwo in den Untiefen des Ungetüms war die verschwundene 9te Legion des römischen Reiches zu finden. Und nein … ich übertrieb keineswegs. Als Nachtmahr hatte man eben eine blühende Fantasie. Außerdem mochte ich die Dunkelheit, die immerfort unter dem massigen Möbel lauerte kein bisschen. Zwar gab es dort keine Boogeyman oder andere Ungeheuer mehr – dafür hatte meine schlechte Laune als Königin eben dieser angesprochenen Unwesen im Laufe der letzten Zeit gesorgt – aber allein die Möglichkeit reichte, um mir an den meisten Tagen eine Heidenangst zu machen. Herrgott noch mal! Ich war nicht halb so tough, wie alle Welt immer meinte.

Mit Schwung warf ich mich auf das matratzige Wohnaccessoire, sank kurz ein und tauchte wieder auf, nur um in eine halbwegs bequeme Position zu schwimmen. Immerhin waren die Kissen Dank meines vorletzten Geburtstagsgeschenks von Klaus inzwischen nicht mehr rosarot sondern schwarz-rot, was eine kleine Verbesserung war. Das letzte Geschenk von ihm – ein postalisch verschickter Gutschein – hatte es mir an meinem siebzehnten Geburtstag erlaubt, einen großen Teil der Möbel ebenfalls meinem Geschmack anzupassen. Hatte bei dem Schrank und dem Schreibtisch perfekt funktioniert. Nur die Sache mit der Matratze … die entzog sich meiner Macht.

Leider genau wie die Hausaufgaben.

Ich griff nach dem Rucksack, den ich vor dem Bett hatte fallen lassen und purzelte beinahe kopfüber aus der Flauschzone, als das Telefon direkt neben mir losschrillte, als hätte es nur auf mein Näherkommen gewartet.

Sekundenlang starrte ich das renitente Ding an, doch der veraltete Hörer vibrierte weiter auf der Gabel. Dass ich das ganze Teil inzwischen rot lackiert hatte, konnte leider an dem penetranten Ton nichts ändern. Und ganz offensichtlich dachte Klaus gar nicht daran an den Apparat unten zu gehen. Eine weitere Arbeit, die an mir hängen blieb.

„Bei de Temples“, meldete ich mich so freundlich ich konnte.

„Herrgott, Liz! Du heißt auch de Temples.“

„Hallo, Daria. Es ist wie immer eine Freude dich am Telefon zu haben. Gut gelaunt und charmant“, soufflierte ich hilfsbereit. Beste Freundinnen waren doch dazu da, um einen aufzumuntern, oder?

„Wir haben ein Problem!“

„Wenn jemand wie du sagt, es gibt ein Problem, denke ich an den nächsten Weltkrieg … außerdem finde ich das wir an dieser Stelle merkwürdig … ich liege nämlich im Bett und kann kein Problem finden ...“

„Jessica ist kurz nach der Fahrstunde vollkommen abgedreht.“

„Sie ist nicht abgedreht, das ist ihr Charakter.“

„Ich meine damit, dass sie die ganze Zeit etwas von wegen Heirat gefaselt hat und Brautsprüche auswendig ausgesagt hat – und beinahe jede Bibelstelle, die etwas mit Liebe und Ehe zu tun hat.“

„Seltsam, aber ich habe schon seltsameres gesehen und gehört.“

„So etwas wie schlafende und nicht mehr erwachende Mädchen?“

„Okay“, meinte ich deutlich interessierter, aber immer noch nicht überzeugt. Wenn es nach mir ginge, musste sich Jessica schon mehr einfallen lassen, um mich aus den Socken zu hauen. Einschlafen und nicht mehr aufwachen hätte ich jetzt zum Beispiel bei ihr mal so richtig gut gefunden. Eine Nervensäge weniger in meinem Leben.

„Was habt ihr mit ihr gemacht?“, erkundigte ich mich, wurde aber von einem Geräusch unterbrochen, so dass meine natürliche Paranoia eingriff. „Leg auf!“, fauchte ich. Sekunden später hatte ich jemanden in der Leitung. Meine Atemgeräusche mit der Hand dämpfend wartete ich. Natürlich nur um herauszufinden, ob derjenige vorgehabt hatte, mich zu belauschen – nicht etwa, um selbst zu lauschen. Das wäre ja unschicklich.

Aber es waren nur Geräusche zu hören. Geräusche, die ich erst als Wählen einordnen konnte, als am anderen Ende der Leitung jemand abnahm. Eine Frau, die sich mit sehr verschlafener Stimme meldete. Sehr sinnlich und kein bisschen wütend, weil ihr der Schlaf entzogen wurde.

„Hallo, Schatz. Was kann ich für dich tun?“

Schatz. Urgs … Aus einem seltsamen Grund war ich stillschweigend davon ausgegangen, dass Klaus keine Affäre mehr hatte. Zumindest die dralle Blondine aus dem Eiskaffee war nirgends mehr aufgetaucht. Aber was wusste ich schon? In den Monaten, in denen er für Davids Inthronisierung in der ganzen Welt unterwegs gewesen war, konnte er ja Gott weiß was getrieben haben.

Ups … ganz blödes Wortspiel.

Vorsichtig und sehr sehr leise legte ich auf. Liebesschmus war wirklich das letzte, was ich gebrauchen konnte.

Wie von selbst flogen meine Gedanken wieder zu dem unterbrochenen Gespräch mit Daria zurück. Erst tanzte Dominique nackt im Regen, dann probte Jessica für ihre Hochzeit. Waren die beiden der Theater AG beigetreten oder hatte sie eine Überdosis der Serie „Glee“ erwischt? Wahrscheinlich war die Lösung so blöd und simple, dass ich mir später wünschen würde, keine Gehirnkapazität für die beiden Hirnis verschwendet zu haben.

Oh nein, stimmte ja gar nicht … den Wunsch hatte ich ja jetzt schon.

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 15.10.2013

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