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Miri und das verschwundene Königreich

Verträumt schaute Miri aus dem offenen Fenster. Das Hausaufgabenheft lag ausgebreitet vor ihr, doch ihre Gedanken waren sehr weit davon entfernt. Sachkunde war ja soo langweilig. Lieber genoss sie den Sonnenschein auf ihrem Gesicht und stellte sich vor, wie fröhliche kleine Feen in dem großen Baum vor ihrem Fenster ausgelassen tanzten. Wie viel lieber wäre sie jetzt bei ihnen, als ihre Hausaufgaben zu machen. Oder auch nur bei ihrem kleinen Bruder Timmi, der im Garten schaukelte. Er musste keine Hausaufgaben machen. Aber er war ja auch noch klein und würde erst im nächsten Schuljahr in die Schule kommen. Miri selbst war schon groß, fast acht, naja siebeneinhalb.

Das Mädchen seufzte. Je schneller es die Hausaufgaben machte, desto schneller konnte es raus und spielen. Miri wandte sich wieder ihrem Heft zu und stutzte. Ein kleines Männchen kletterte plötzlich von außen auf ihre Fensterbank. Das Wesen war nur etwa fünfzehn Zentimeter groß und in einen blauen, etwas abgenutzten Anzug gekleidet. Es schnaufte schwer und ließ sich erschöpft auf der Fensterbank nieder.

Das Mädchen rieb sich die Augen und sah vorsichtig noch einmal hin. Doch das Männchen war immer noch da. Es richtete sich langsam zu seiner vollen Größe auf und verbeugte sich leicht. „Hallo, Mädchen“, sagte das Männchen.

„Hallo, Männchen“, erwiderte Miri höflich, wenn auch etwas vorsichtig. Schließlich wusste sie nicht, woher das Männchen kam und was es von ihr wollte. Aber es schien nicht gefährlich und so beschloss sie, sich mit ihm zu unterhalten.

„Wo kommen Sie denn her?“ fragte sie neugierig.

Ihr Besucher seufzte schwer. „Aus Avanlea“, sagte er sehr, sehr traurig. „Zumindest kam ich von dort“, fügte er hinzu.

„Avanlea?“ fragte Miri nach. „Wo liegt denn das?“

Die Miene des Männchens wurde womöglich noch trauriger. „Das ist eine lange Geschichte.“

„Und warum sind Sie hier?“

„Ich habe dich gesucht.“

„Mich?“ fragte das Mädchen verwundert. Außer ihren Eltern hatte sie noch nie jemand gesucht.

„Ja, zumindest glaube ich das“, räumte das Männchen ein. „Du bist doch sieben Jahre alt, oder?“

„Ja“, sagte Miri vorsichtig. „Woher wissen Sie das?“

„Nun“, das Männchen zögerte kurz. „Du siehst eben aus wie ein nettes siebenjähriges Mädchen.“

„Ich werde aber bald acht“, stellte Miri klar.

„Natürlich wirst du das“, stimmte das Männchen zu. „Am achten September, nicht wahr?“

Das Mädchen sah den Besucher mit großen Augen an. Wie konnte er das bloß wissen? „Sind Sie ein Zauberer?“ fragte sie neugierig. Bei kleinen Männchen, die auf einmal auftauchten und Sachen über einen wussten, konnte man schließlich nie sicher sein.

Das Wesen gluckste belustigt. „Nein, ich bin kein Zauberer. Leider“, fügte es wieder traurig hinzu. „Weißt du vielleicht auch, um welche Uhrzeit du geboren wurdest?“ fragte es dann weiter.

„Wieso wollen Sie das denn wissen?“ erkundigte sich Miri misstrauisch.

„Es ist sehr wichtig. Es geht um Leben und Tod.“

„Ach so.“ Das Mädchen nickte verständnisvoll. „Aber leider kann ich Ihnen nicht helfen“, sagte sie bedauernd. „Ich weiß es nicht.“

„Oh“, sagte das Männchen. Es schien sehr enttäuscht.

Plötzlich hellte sich Miris Miene auf. „Warten Sie! Es steht bestimmt in meinem Babybuch.“

„Deinem Babybuch?“ wiederholte das Männchen verständnislos.

„Ja, das ist ein Buch, das Mama kurz nach meiner Geburt angelegt hatte“, erklärte sie hastig. „Da steht es bestimmt drin. Ich hole es gleich!“ Sie sprang auf und lief zur Tür. Das war ja soo viel besser als Sachkunde-Hausaufgaben. An der Tür blieb sie jedoch stehen und schaute skeptisch zu ihrem Gast zurück, der nun auf ihren Schreibtisch gehüpft war und sich neugierig über ihr Heft gebeugt hatte. Dabei berührte seine lange Nase fast das Papier. „Sie verschwinden doch nicht einfach wieder, solange ich weg bin, oder?“

„Was?“ Das Männchen richtete sich auf und schüttelte so stark seinen Kopf, das es fast das Gleichgewicht verlor. „Natürlich nicht! Ich warte hier auf dich.“

Beruhigt wandte Miri sich ab und holte das Buch aus dem großen Bücherschrank im Wohnzimmer. Als sie zurück kam, fürchtete sie fast, das Männchen wäre doch verschwunden. Aber zum Glück war es noch da und streckte ungeduldig die Hände nach dem Buch aus.

„Was steht denn da? Was steht denn da?“ fragte es aufgeregt.

„Jetzt warten Sie doch mal“, sagte Miri streng, so wie es ihr ihre Oma sonst sagte, wenn sie selbst ungeduldig war. „Ich muss erst die richtige Seite finden. Ah! Da steht es!“ Sie klopfte mit ihrem Zeigefinger auf die richtige Stelle. „9 Uhr 47“.

„Endlich!“ rief ihr Gast aus und fiel auf die Knie.

„Ist das jetzt gut?“ fragte Miri verunsichert.

„Ja, oh ja!“ Das Männchen strahlte sie an. „Endlich habe ich dich gefunden, du wunderbares, wunderbares Kind.“ Es versuchte, ihre Hände zu küssen.

„Danke“, sagte das Mädchen zögernd, während sie ihm ihre Hände entzog. „Und was wollen Sie nun von mir?“ Allmählich wurde es ihr doch unheimlich. Und sie überlegte schon, ob sie nicht besser ihre Mama rufen sollte, die im Garten mit Timmi spielte.

„Verzeih mir“, sagte das Männchen, als es ihre Verwirrung bemerkte. „In meiner Aufregung habe ich meine Manieren ganz vergessen.“ Es erhob sich und verbeugte sich feierlich vor ihr. „Mein Name ist Zerbiatus Zott, aber meine Freunde nennen mich einfach nur Zerb.“

„Angenehm“, sagte Miri, wie man es eben sagt, wenn man jemanden kennen lernt. „Ich heiße Miriam, aber alle nennen mich Miri.“

„Wenn es uns gelingt, mein Land zu retten, wirst du bestimmt Prinzessin Miri sein!“

„Danke“, sagte das Mädchen verlegen. „Aber Miri reicht mir, denke ich.“ Sie war sich nämlich nicht sicher, ob sie ein ganzes Land retten konnte. Immerhin musste sie zur Schule gehen und Hausaufgaben machen. Obwohl es bestimmt richtig spannend wäre. Sie atmete tief durch. „Wieso erzählen Sie mir nicht einfach, worum es geht?“ bat sie ihren Besucher.

„Aber natürlich, natürlich. Wie gesagt, die Aufregung...“ Er begann, auf und ab zu gehen. „Wo soll ich nur anfangen?“

„Vielleicht am Anfang?“ fragte Miri, erstaunt darüber, dass Zerb nicht von allein darauf kam.

„Sicher, sicher.“ Er sammelte sich kurz. „Ich komme aus dem Königreich Avanlea. Das ist ein kleines Königreich, das den meisten Menschen nicht einmal bekannt ist. Besser gesagt, das war es. Denn nun ist es verschwunden.“

„Verschwunden?“ fragte das Mädchen erstaunt nach. „Geht das denn?“

„Anscheinend.“ Zerb nickte ernst. „Obwohl wir auch nicht damit gerechnet hätten. Wir waren sehr glücklich in unserem Königreich, das waren wir wirklich. Bis zu dem Tag, als unser geliebter König Arkan unsere geliebte Königin Helene heiratete.“

„War das denn nicht gut?“

„Doch, doch, das ganze Volk hat sich sehr gefreut. Bis auf die böse Zauberin Mauran. Die wollte nämlich selbst unseren König heiraten und Königin werden. Dann hätten wir alle nicht viel zu lachen gehabt.“ Zerb machte eine bedeutungsvolle Pause.

„Das ist ja furchtbar“, sagte Miri mitfühlend, weil sie das Gefühl hatte, dass es angebracht war, etwas zu sagen.

„Das schlimmste kommt aber noch“, erklärte Zerb ihr düster. „Mauran schwor Rache. Sie schlich sich in den Palast am Abend der Hochzeit und vollführte einen furchtbaren Zauber.“

„Was hat sie denn gemacht?“ fragte Miri ungeduldig.

„Sie hat das ganze Königreich in ein Buch gebannt!“

„In ein Buch?“ fragte das Mädchen erschüttert nach. „Und was ist mit all den Menschen passiert?“

„Sie sind alle verschwunden. Das ganze Königreich ist weg, selbst der Palast und der Schlossgarten, einfach alles. Es ist nur noch eine Geschichte in einem Buch.“

„Das ist ja furchtbar“, wiederholte Miri und dieses Mal brauchte sie ihr Mitgefühl nicht zu heucheln. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ihre Familie und ihr Haus und alle, die sie kannte, plötzlich in einem Buch verschwinden würden. Sie schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Sie würde niemals zulassen, dass ihrer Familie so etwas zustieß. Es sei denn... Es sei denn... sie selbst würde auch in ein Buch gesperrt, dann könnte sie natürlich nichts machen. Miri schluckte schwer. Dann kam ihr ein Gedanke und sie schaute Zerb misstrauisch an. „Wie kommt es, dass Sie noch hier sind? Hätten Sie nicht mit allen anderen verschwinden müssen?“

„Hah! Das hätte der Zauberin so gepasst. Aber ich war schneller. Als ich merkte, was sie vorhatte, habe ich mich rasch in ihren Rockfalten versteckt und mich an ihr festgehalten. Und weil ich so klein bin, hatte sie mich gar nicht bemerkt. Dann bin ich ihr gefolgt und habe gehört, wie sie sich damit gebrüstet hatte, dass der König sich jetzt bestimmt wünschte, er hätte sie geheiratet. Doch nun war es zu spät und er konnte für immer zwischen den Buchseiten versauern. Es sei denn...“ Er verstummte und blickte Miri feierlich an.

„Es sei denn, was?“ drängte sie ihn.

„Es sei denn, der Fluch wird aufgehoben.“

„Wie denn?“

„Durch ein Mädchen, das genau zu der Zeit geboren wurde, als der Zauber gesprochen wurde.“

„Und wann war das?“ fragte Miri atemlos.

„Vor über sieben Jahren, am 8. September, um 9 Uhr 47.“

„Aber das ist ja genau mein Geburtstag!“ rief sie aufgeregt.

„Ich weiß! Deswegen habe ich dich ja gesucht.“

„Und wieso kommen Sie erst jetzt? Das ist doch schon so lange her.“

„Nun, zuerst musste ich warten, bis du alt genug warst. Du hättest mir wohl kaum helfen können, wenn du ein kleines Baby gewesen wärst, oder?“

„Vermutlich nicht“, stimmte das Mädchen ihm zu. „Aber ich bin schon sehr lange kein Baby mehr.“

„Das sehe ich“, sagte Zerb ernst. „Aber hast du eine Ahnung, wie viele kleine Mädchen am 8. September geboren wurden? Da war es gar nicht so einfach, dich zu finden.“

„Aber dann hätten die anderen Mädchen Ihnen doch auch helfen können“, sagte Miri enttäuscht. Sie hatte schon angefangen, sich als etwas ganz Besonderes zu fühlen. Aber das mit dem geteilten Geburtstag stimmte natürlich, selbst in ihrer Klasse gab es ein Mädchen, die eingebildete Anne Gilbert, die am selben Tag Geburtstag hatte.

„Du vergisst die Uhrzeit, Miri“, erinnerte sie ihr Besucher. „Du bist die einzige, die um die richtige Uhrzeit geboren wurde.“

Miri erstrahlte. So toll Anne sich auch finden mochte, ein verschwundenes Königreich würde sie nicht befreien können. „Ich würde Ihnen wirklich gern helfen. Was muss ich tun?“ fragte sie.

„Oh du wunderbares, wunderbares Kind!“ rief Zerb glücklich aus. „Gleich als ich dich gesehen hatte, wusste ich, dass du mich nicht im Stich lassen würdest.“

„Ich werd’s zumindest versuchen“, sagte sie bescheiden, doch innerlich glühte sie vor Stolz. Timmi

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Elvira Zeißler
Bildmaterialien: Elvira Zeißler, www.morguefiles.com
Tag der Veröffentlichung: 04.01.2012
ISBN: 978-3-7309-3309-1

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