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Wochenlang war er durch karge Ödnis gewandert, die nur von wenigen Bäumen und noch wenigeren Menschen bevölkert gewesen war. Und jetzt endlich hatte er sie erreicht – die Eiswüste. Dahinter lag das Land der Trolle. Vielleicht fand er dort ja endlich Unterstützung für seinen Kampf gegen den Usurpator, der in den Südlanden immer mehr an Macht gewann. Das heißt, falls er es jemals lebend erreichte.
Beodin strich sich müde über die Stirn. Das Eis, das auf seinen dicken Handschuhen klebte, kratzte scharf über seine Haut und der Schnitt brannte in der klirrenden Kälte der Nacht. Erschöpft ließ er den Blick über die endlose weiße Ebene vor sich schweifen, die im Mondlicht glitzerte, als wäre sie mit reinsten Diamanten bestäubt. Zum ersten Mal seit Wochen war Beodin dankbar für die beständige Dunkelheit der Polarnacht. Wäre er dieser Pracht im Sonnenschein begegnet, wäre ihm das Augenlicht wohl nicht mehr sicher gewesen. So aber hatte er nur das Gefühl, den Boden einer Schatzkammer zu betreten, als er den Fuß auf die dicke, gefrorene Schneedecke setzte. Es herrschte absolute Windstille, der Himmel war wolkenlos und von so großen klaren Sternen erfüllt, wie Beodin sie noch nie, noch nicht einmal in den langen Wochen seiner einsamen Wanderung durch die schneebedeckte Tundra gesehen hatte.
Und es war kalt. So furchtbar kalt, dass er ohne die Drachenmagie, die heiß in seinen Adern rann und sein Herz erwärmte, schon längst erfroren wäre. Sein Atem gefror, sobald er nur seinen Mund verließ und fiel in unzähligen winzigen Eiskristallen zu Boden. Wenn er ganz still hielt, konnte er sogar das leise Klirren hören, das sie machten, wenn sie auf die gefrorene Schneedecke trafen.
Kein Wunder, dass selbst die Vinkiiner nur mit Ehrfurcht von der Eiswüste sprachen, die ihr Land von dem der Trolle trennte. Ein Schneesturm in dieser eisigen Unendlichkeit, die dem Wanderer keinen Schutz und kein Versteck bot, würde jedem zum Verhängnis werden. Er warf noch einen prüfenden Blick in den Himmel, bevor er sich weiter von dem kargen Schutz der niedrigen, verkrümmten Bäume entfernte. Nirgends war auch nur der kleinste Wolken- oder Nebelschleier zu sehen.
Er wusste nicht, wie lange er unterwegs gewesen war. Es hätte eine Stunde oder ein ganzer Tag sein können. Die Zeit verlor an Bedeutung in dieser ebenmäßigen, funkelnden, vom Mondschein erhellten Unendlichkeit. Als die erste Schneeflocke fiel. Besorgt blickte Beodin hoch. Der Himmel war noch immer sternenklar und es war so kalt, dass die Luft selbst zu gefrieren schien. Und mitten aus dem Nichts schwebten rund um ihn immer weitere Schneeflocken zu Boden. Schwerelos wie Federn und beinahe genauso groß fielen sie gespenstisch still herab und bedeckten den vereisten Boden mit einer luft-leichten, flauschigen, silbrig glänzenden Schicht. Beodin blieb regungslos stehen, um dem zauberhaften Treiben um ihn herum zuzusehen. Er vergaß die Müdigkeit und auch die Kälte, während er hingerissen dem leisen Klirren, Rascheln und Klingen lauschte, das die Flocken auf ihrem Weg zur Erde hinterließen.
Beodin hatte in seinem Leben viel gesehen und viele Wunder erlebt, doch er würde niemals diesen Augenblick vergessen, als er in einer klirrend kalten, magischen Nacht im Mondlicht gestanden und zugeschaut hatte, wie die Luft selbst gefror und Schnee aus klarem Himmel fiel, während er dem leisen Lied der Eiswüste lauschte.


Impressum

Texte: Text: Elvira ZeißlerCoverbild: Coverwerkstatt
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2012

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