Prolog
Zärtlich strich Elinor über das mit weicher Spitze versetzte Deckchen, das ihre schlafende Tochter bedeckte. Obwohl die Geburt schon beinahe einen Mond zurücklag, konnte sie dieses Wunder noch immer nicht fassen. Neben ihr lächelte ihr Gatte, Fürst Th’emidor, und zog ihre Hand sanft fort.
Das Baby gähnte und schmatzte schläfrig mit den Lippen.
„Komm schon, Elinor, lass unsere Kleine jetzt schlafen.“
Als sie sich abwandte, streifte ihre Hand ein filigranes, handflächengroßes silbernes Blatt, das wie ein Talisman über dem Kopf des Babys hing. Ein verirrter Sonnenstrahl verfing sich in der spiegelnden Oberfläche und schickte blendend helle Lichtreflexe quer durch den gesamten Raum. Die Mutter streckte die Hand aus, um den kleinen Spiegel ruhig zu stellen, damit sein Glanz das eben eingeschlafene Baby nicht störte.
Noch während sie das Blatt festhielt, verdunkelte sich plötzlich seine Oberfläche und der silbrige Glanz wurde von einer rauchigen Tiefe abgelöst. Die Oberfläche des Spiegels schien einen Augenblick lang zu wabern. Dann, ganz langsam, formten sich Buchstaben, erst kaum erkennbar, dann immer klarer, bis ein Text in glühenden Lettern sich deutlich von den Nebelschwaden des Hintergrunds abhob.
Die Tochter des Hauses Th’emidor wird einst am Scheideweg der Weltordnung stehen. Heil denen, die sie auf ihrer Seite wissen. Und wehe denen, die sich ihr in den Weg stellen – sie werden untergehen.
Erschrocken ließ Elinor den Spiegel los und griff nach ihrer Tochter, als könnte sie dadurch das Kind vor jeglicher Gefahr beschützen.
In seinem Schlaf gestört, fing das Baby an, protestierend zu weinen.
„Ist ja gut, mein Liebling, Mama ist da. Dhalia, mein Schatz, schhht, schlaf weiter, Kleines. Mama ist ja da“, versuchte sie das Kind zu beruhigen, während ihr eigenes Herz wie wild pochte. Gebannt starrten Th’emidor und sie weiter auf das kleine Blatt, denn die Schriftzüge veränderten sich und ein weiterer Satz erschien.
In achtzehn Jahren wird sich der Auserwählten ihr Schicksal offenbaren.
So plötzlich, wie sie gekommen waren, verschwanden die Buchstaben auch schon wieder, und nichts deutete darauf hin, dass das kleine Blatt etwas Anderes war als ein meisterhaft gearbeiteter Spiegel. Vergeblich warteten die Eltern darauf, dass noch irgendetwas sonst geschah.
„Was war das?“ Elinor blickte ihren Mann in der Hoffnung an, dass er nichts gesehen hatte, dass es nur eine Sinnestäuschung oder ihre Einbildung gewesen war.
Doch sein Blick bestätigte ihr, dass er es auch gesehen hatte. Er wirkte sehr ernst. „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ich hatte keine Ahnung, dass so etwas möglich ist. Aber du weißt ja, was das hier ist.“ Er deutete vorsichtig auf den kleinen Spiegel.
„Ja, ich weiß es, und ich wollte nicht, dass es über Dhalias Kopf hängt. Es scheint, ich hatte recht damit“, antwortete sie besorgt.
Verwundert blickte Th’emidor seine Frau an. „Aber, meine Liebe, das ist doch nichts Böses. Was auch immer unsere Tochter erwartet, es ist besser, wenn wir vorgewarnt sind.“
„Glaubst du? Und was geschieht wohl, wenn der Herrscher davon erfährt? Wirst du immer noch sagen, dass dieses Ding es gut mit uns gemeint hatte, wenn sie uns unsere Tochter wegnehmen?“ Ihre Stimme hatte einen panischen Unterton. Beschützend drückte sie das hilflose kleine Wesen in ihren Armen an ihre Brust.
Fürst Th’emidor sah seiner Frau fest ins Gesicht. Sein ganzer Körper und noch mehr seine Stimme strahlten eine ruhige Entschlossenheit aus, als er sagte: „Das wird er nicht. Niemand außer uns Dreien wird jemals etwas davon erfahren. Doch was auch immer Dhalias Schicksal eines Tages sein wird, wir werden sie auf ihre Aufgabe vorbereiten und ihr beistehen, wenn es soweit ist.“
Dhalia machte einen gewagten Schritt nach vorn und ließ ihr Schwert mit aller Macht niedersausen. Doch der Mann vor ihr wich ihrem Hieb geschickt aus und parierte ihn mit seiner eigenen Klinge. Die Wucht des Aufpralls jagte einen brennenden Schmerz durch Dhalias Arme bis in ihre Schultern hinauf. Doch sie verzog keine Miene.
Herausfordernd umkreiste ihr Gegner sie. „Was ist los, Schätzchen, ist das alles, was du kannst?“ Er versuchte, sie in Rage zu bringen.
Doch sie blieb ruhig und beobachtete sorgfältig jede seiner Bewegungen. Seine Stimme hatte sie völlig ausgeblendet und konzentrierte sich darauf, seine Schwachstelle zu finden. Das war gar nicht so leicht. Sie täuschte einen Ausfall vor, doch er fiel nicht darauf rein und startete stattdessen einen Gegenangriff. Wieder prallten die zwei Klingen aufeinander, so fest, dass Funken sprühten. Dhalias Arme schmerzten. Lange würde sie diesen Kampf nicht mehr aushalten. Sie war zwar geschickter und schneller als die meisten Männer, an purer Kraft war sie ihnen jedoch einfach unterlegen. Aber sie hatte mittlerweile gelernt, diesen Mangel zu kompensieren.
„Mehr hast du nicht drauf, Mädchen?“ spottete er weiter. „Kannst du nicht einmal einen alten Mann besiegen?“
Ohne auf die Bemerkungen einzugehen, umfasste sie den Griff ihres Schwertes ganz fest mit beiden Händen und führte eine schnelle Folge von kurzen Schlägen aus, so dass es aussah, als wäre ihr Schwert lebendig und würde sich geradezu um das Schwert ihres Gegners winden. Ehe er sich versah, hatte sie es ihm schon aus der Hand geschlagen. Schwer atmend und stolz hielt sie ihm ihre eigene Schwertspitze vors Gesicht.
„Für einen alten Mann reicht es noch allemal, Vater.“
Er lachte herzlich. „Wo du recht hast, hast du recht, Kleine. Wann hast du denn diese Finte wieder gelernt? Ich habe sie dir bestimmt nicht beigebracht.“
Sie zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht, ist mir eben so eingefallen.“
„Das war verdammt gut. Ich habe gar nicht gemerkt, was du vorhattest, bis ich deine Schwertspitze an meinem Hals spürte.“ Voller Stolz betrachtete ihr Vater ihre aufrechte, schlanke Gestalt, die langen blonden Haare, die sie zu einem schlichten Zopf geflochten hatte, damit sie sie beim Kampf nicht störten, und ihre vor Anstrengung rosigen Wangen. Wenn man sie betrachtete, wäre man nie auf den Gedanken gekommen, dass sie ein Schwert mit tödlicher Präzision zu führen vermochte oder dass sie reiten konnte wie der Wind oder dass sie mit ihrem Bogen auch auf hundert Schritte Entfernung immer ins Schwarze traf. Es war erstaunlich, was dieses Kind, denn das war sie trotz allem noch immer für ihn und würde es auch immer bleiben, in den letzten fast achtzehn Jahren gelernt hatte. Er hoffte, es würde genug sein. Nein, er wusste es ganz sicher. Jedes Mal, wenn er sie ansah – die anmutige und stolze Haltung des Kopfes, die verborgene Kraft der geschmeidigen Glieder, den funkelnden Glanz ihrer so ungewöhnlich grünen Augen – spürte er, dass ihr ein außergewöhnliches Schicksal bevorstand. Er brauchte keine Prophezeiung, um daran glauben zu können.
Dhalia spürte, wie sie unter dem wohlwollenden Blick ihres Vaters errötete. Doch sie war stolz auf sein Lob zu ihrem Kampf. Es machte ihr Spaß, neue Figuren auszuprobieren, und es freute sie, wenn sie erfolgreich waren. Der Schwertkampf war für sie einem Spiel oder einem Tanz vergleichbar, es ging um Geschicklichkeit, Strategie und Ausdauer. Sie konnte sich nicht vorstellen, damit einem lebendigen Wesen etwas anzutun. Sie bezweifelte, dass sie jemals die Kraft haben würde, durch lebendes Fleisch zu schneiden, oder dass sie ihr Schwert nach so einer Tat jemals wieder würde in die Hand nehmen können.
Gedankenverloren spielten ihre Finger mit dem silbernen Blatt, das an einem Lederband um ihren Hals hing. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie es immer bei sich gehabt. Und immer noch schaute sie mehrmals am Tag hinein. Doch außer ihrem eigenen Spiegelbild konnte sie darin rein gar nichts erkennen. Seit dem denkwürdigen Tag, von dem ihr ihre Eltern so oft erzählt hatten, hatte der Spiegel nie wieder etwas gezeigt.
Sie fragte sich oft, ob ihre Eltern die Geschichte nicht bloß erfunden hatten, denn sie fühlte sich so überhaupt nicht zu Höherem berufen.
Ihr Vater, der ihr Mienenspiel verfolgt hatte, legte einen Arm um sie, während sie zum Essen in die Burg zurückkehrten. „Du wirst es schon schaffen, das weiß ich.“
Sie blieb stehen und sah ihn scharf an. „Was? Was soll ich schaffen? Wie soll ich etwas tun, wenn ich noch nicht einmal weiß, was dieses etwas ist und warum ich es tun sollte? Du erwartest doch nicht ernsthaft von mir, dass ich losziehe, um die Welt zu verändern, ohne zu wissen, wie und wieso, bloß weil ihr vor achtzehn Jahren etwas in diesem Dingsda gesehen habt!“ Frustriert ließ sie das Blatt gegen ihre Brust fallen.
Ihr Vater blieb ruhig, doch sie spürte, dass sie ihn verärgert hatte. Er sah sie lange und ernst an, während sie sich immer kleiner vorkam und sich wünschte, im Erdboden zu verschwinden. „Es ist gut, dass du nachdenkst, Dhalia. Und es ist gut, dass du skeptisch bist. Wie du richtig erkannt hast, würden wir niemals von dir erwarten, dass du etwas tust, nur weil Andere es so gesagt haben, wenn du davon nicht überzeugt bist.“
„Ich weiß einfach nicht, wie ich das tun soll, was ihr von mir erwartet.“
„Wenn die Zeit reif ist, wirst du schon erkennen, wie du ihn besiegen kannst.“
Zweifelnd blickte sie hoch. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das bewerkstelligen sollte. Ich meine, er hat Armeen und er beherrscht große Magie. Während in unserem Reich Magie sogar völlig verboten ist. Niemand, den ich kenne, hat je etwas Magisches auch nur gesehen.“
Lächelnd sah ihr Vater sie an. „Und was glaubst du dann, was du um den Hals trägst?“ fragte er ruhig.
Sie nahm ihr Amulett ab und betrachtete genauer die silbrige Oberfläche, die trotz der Zeit nichts von ihrem Glanz eingebüßt hatte. „Einen Glücksbringer? Einen Talisman, der ab und zu verrücktes Zeug redet?“ Sie versuchte, der Unterhaltung wieder einen scherzhaften Ton zu geben.
Doch ihr Vater ging nicht darauf ein. „Das ist ein Unterpfand der Freundschaft.“
„Zwischen wem?“
„Zwischen unserer Familie und dem Volk der Feen.“
„Den Feen?“ Ihr erster Impuls war, den Anhänger fallen zu lassen, als könnte er sie verbrennen. Doch sie beherrschte sich, denn sie gab ihren Ängsten nicht gerne nach. Außerdem war sie neugierig. „Warum sollte unsere Familie mit den Feen befreundet sein? Sie stehen doch alle auf der Seite des Herrschers.“
„Das war nicht immer so.“
Sie hatten die Eingangspforte erreicht. Dhalia wollte hineingehen, doch ihr Vater hielt sie zurück. „Warte, ich möchte lieber noch ein wenig hier draußen bleiben.“
Dhalia nickte, sie wusste, warum. Drinnen war man nie vor den neugierigen Ohren der Dienerschaft sicher. Bei diesem Thema konnten sie nicht vorsichtig genug sein. Rasch blickte sie sich um. Außer einem Milchmädchen, das in einer Ecke des Hofes die Butter schlug, war niemand zu sehen. Sie winkte mit ihrem Kopf in Richtung der Pferdekoppel, auf der ihr Hengst Bruno ruhig graste. Als sie sich der Umzäunung näherten, stieß er ein freudiges Wiehern aus und trabte heran. Während Dhalia für Bruno einen Apfel aus ihrer Rocktasche hervorzauberte, nahm ihr Vater seinen Erzählfaden wieder auf.
„Du kennst doch die Geschichten über die Dunkelfeen?“
„Du meinst die Gruselgeschichten, die man den Kindern erzählt, um sie zum Gehorsam zu zwingen? ‚Iss deinen Brei auf, sonst holen dich die Dunkelfeen, die bringen dich dann zu ihrem Herren und dann wärst du sehr froh, etwas von diesem leckeren Brei zu haben’.“
Tadelnd sah Th’emidor seine Tochter an. Heute wollte sie einfach nicht ernst bleiben. „Jedes Ammenmärchen hat einen Funken Wahrheit.“
„Ja, ich weiß.“ Sie streichelte den Kopf des Pferdes und lachte auf, als er durch Anstupsen mit seiner Schnauze nach weiteren Leckereien verlangte. „Ich habe leider nichts mehr für dich“, erklärte sie. Der Hengst tat seinem Unmut durch lautes Schnauben kund, ließ sich jedoch weiter von ihr streicheln. Dhalia wandte sich wieder zu ihrem Vater, der geduldig neben ihr gewartet hatte. „Also gut, ich weiß, dass die Dunkelfeen wirklich existieren und dass sie dem Herrscher dienen. Es heißt, sie hätten große Macht und führten geheime Aufträge für ihn aus. Ich habe aber noch nie eine gesehen“, schloss sie beinahe bedauernd.
„Das ist auch gut so“, erwiderte ihr Vater nachdrücklich. „Eine Begegnung mit ihnen bedeutet nur Ärger.“
„Hast du schon einmal eine gesehen, Vater?“ Sie sah ihn eifrig an.
„Nein. Wir haben es immer geschafft, derart großen Ärger zu vermeiden, der die Anwesenheit eines Einsatztrupps erfordert hätte.“
„Was ist ein Einsatztrupp?“
„Das ist eine Dunkelfee, die zwei Menschen unter ihrem Kommando hat. In der Regel reichen die drei aus, denn die Angst vor den Feen ist groß. Vielleicht größer als ihre tatsächliche Macht, doch ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Den Krieg hatten sie damals jedenfalls gewonnen.“
„Du meinst den Krieg, der uns zum Teil des Großen Reiches machte?“
„Genau den, der unserem Land jede Freiheit nahm und es zu einer Provinz des Großen Reiches machte. Einer Provinz neben vielen anderen.“
Ich weiß, dachte Dhalia bei sich. Und ich allein soll das alles ändern, das ist doch Wahnsinn. Das Mädchen, das auszog, die Welt vom Bösen zu befreien. Sie war zwar jung, doch so naiv war sie schon lange nicht mehr. Aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihrem Vater darüber zu streiten. Für ihn gab es nichts, was sie nicht schaffen konnte. Die Gewissheit, dass sie ihn eines Tages zwangsläufig enttäuschen musste, schmerzte sie tief. Kein Mensch könnte jemals die großen Erwartungen erfüllen, die er in sie setzte. Doch sie verdrängte diese Gedanken, vielleicht würde es ja gar nicht dazu kommen. Vielleicht war die Prophezeiung nichts weiter als ein Lichtreflex in einem kleinen Spiegel gewesen. Es war müßig, jetzt darüber nachzudenken.
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, was wir mit den Dunkelfeen zu tun haben“, wandte sie sich wieder an ihren Vater.
„Nicht die Dunkelfeen, Dhalia, andere.“
„Es gibt noch andere Feen? Ich habe nie von ihnen gehört.“
„Vor langer Zeit gab es welche, die den Menschen wohl gesinnt waren. Sie schenkten unseren Vorfahren dieses besondere Pfand der Freundschaft.“
„Und wo sind sie jetzt?“
Ihr Vater zuckte mit den Achseln. „Ich weiß es nicht. Sie scheinen sich aus unserer Welt zurückgezogen zu haben. Doch dies“, er deutete auf das Blatt, das sie noch immer in ihren Händen hielt, „ist ein Beweis dafür, dass es sie gibt.“
„Und wie soll mir das jetzt weiterhelfen?“
„Ich weiß es nicht. Doch du wirst wissen, was zu tun ist, wenn es soweit ist. Denn du bist die Auserwählte, und das ist alles, was zählt. In einer Woche wirst du achtzehn und dann werden wir weitersehen.“
Na toll, dachte Dhalia, sie waren wieder am Ausgangspunkt ihres Gesprächs angelangt. Laut sagte sie jedoch nur: „Wir sollten jetzt reingehen. Wenn wir das Essen kalt werden lassen, wird Mutter schimpfen. Und ich weiß ja nicht, wie es dir so geht, doch ich finde, der Zorn der Dunkelfeen ist nichts dagegen.“
* * *
Noch bevor Dhalia am Morgen ihre Augen aufmachte, wusste sie, was es für ein Tag war – ihr achtzehnter Geburtstag. Der Tag, den sie schon seit so vielen Jahren mal voller Vorfreude und mal voller Angst erwartet hatte.
Was wäre, wenn heute nichts geschah? Wenn ihre Eltern sich geirrt hatten. Dann wäre sie nichts Besonderes, sie wäre nicht zu einem großartigen Schicksal bestimmt.
Sie würde ihre Eltern so sehr enttäuschen. Das wäre wahrscheinlich das Schlimmste an der ganzen Sache. Für ihre Eltern war alles immer völlig klar gewesen. Ihr Weg würde sich ihr offenbaren und sie würde in die Welt hinausziehen und irgendwelche Heldentaten vollbringen.
Für sie selbst war das noch nie so einfach gewesen. Obwohl sie schon ihr ganzes Leben lang Zeit hatte, sich auf diesen Tag vorzubereiten, war sie sich noch immer nicht sicher, was sie sich eigentlich wünschte. Sie wollte gar nicht fort von Zuhause. Gewiss, es wäre spannend, mal Abenteuer zu erleben und etwas Bedeutendes zu leisten. Doch sie wusste auch, dass es nicht so einfach sein würde, wie in den Liedern, die die Barden sangen.
Nun ja, was auch immer geschah, einen Trost hatte sie immerhin – wenn es sein sollte, wenn sie tatsächlich die Auserwählte war, dann würde sie auch wissen, was zu tun war, sobald die Zeit dafür kam. Und wenn nicht, würde sie zwar nicht in der Lage sein, etwas zu bewirken, aber es würde dann auch nicht von ihr erwartet. So oder so, der nun angebrochene Tag würde es schon zeigen.
Sie öffnete die Augen. Es war Zeit, sich dem Tag zu stellen. Dhalia setzte sich auf und suchte mit ihren nackten Füßen nach ihren Pantoffeln, dann ging sie zum Spiegel und betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Es hatte sich nicht verändert. Sie ging einen Schritt zurück, um ihre ganze Gestalt betrachten zu können. Ihr Zopf, den sie sich für die Nacht geflochten hatte, war ganz zerzaust, sie musste ziemlich wirr geträumt haben, auch wenn sie sich an rein gar nichts erinnern konnte.
Ihr Nachthemd fiel in weichen Falten bis auf den Boden. Sie hob den Saum bis zu den Knien an, danach besah sie sich ihre Arme. Es war definitiv alles beim Alten. Sie seufzte tief. Es war also keine körperliche Veränderung, die ihr bevor stand. Nun, das hatte sie auch nicht ernsthaft erwartet, sie hatte nur ganz sicher gehen wollen. Sie griff nach dem Wasserkrug und goss etwas Wasser in die Waschschüssel. Doch anstatt ihr Gesicht zu waschen, stützte sie ihre Arme an dem Toilettentisch ab, schloss die Augen und versuchte, ganz tief in sich hinein zu horchen.
In dieser Pose fand sie dann auch Sylvia, ihr Kammermädchen, als sie hineinkam, um Dhalia beim Ankleiden zu helfen.
„Herrin, du hast dich ja noch nicht einmal gewaschen. Deine Eltern warten schon unten auf dich.“
„Wie?“ Dhalia schreckte aus ihren Gedanken hoch. „Ach, du bist es. Guten Morgen, Sylvia.“
„Was schaust du denn so bekümmert drein? Es ist dein Geburtstag, da musst du doch zumindest lächeln.“ Sylvia strahlte sie an und Dhalia konnte sich ihrer guten Laune einfach nicht entziehen. Dankbar lächelte sie zurück, während sie die Tunika entgegennahm, die Sylvia ihr reichte. Geduldig wartete sie, bis das Kammermädchen ihr das Haar gekämmt hatte, so dass es in sanften Locken auf ihre Schultern und ihren Rücken fiel und sich golden vom Himmelblau ihrer Kleidung abhob. Dann erhob sie sich und ging zur Tür. Doch an der Schwelle blieb sie zögernd stehen. Irgendwie widerstrebte es ihr, die schützenden Mauern des Zimmers zu verlassen, in dem sie ihre Kindheit verbrachte hatte. Sie wusste nicht, was sie unten erwartete, doch sie war sicher, dass es ihr Leben verändern würde.
Als sie in die Halle kam, blickten ihre Eltern sie erwartungsvoll an. Sie konnte nur mit den Achseln zucken und hilflos lächeln. Noch war nichts passiert.
Es wurde ein sehr eigenartiger Geburtstag für Dhalia. Da weder sie noch ihre Eltern wussten, was sich alles an diesem Tag ereignen könnte, wurde keine Feier veranstaltet. Der ganze Tag verlief in einem Gefühl gespannter Erwartung und sich steigernder Nervosität. Alle drei waren bemüht, das Thema der Prophezeiung nicht zu berühren, obwohl ihre Gedanken nur darum kreisten.
Dhalia war ruhelos. Sie konnte sich mit nichts beschäftigen und selbst ein Gespräch mit ihren Eltern kam nur schleppend zustande. Als gegen Mittag noch immer keine Zeichen erschienen waren, fühlte sie sich, als hätte sie versagt. Als ob es irgendwie ihre Schuld war, dass sie keine Eingebung bekam oder auf einmal Wunder wirken konnte. Ihre Unruhe weitete sich auch auf ihre Eltern aus, doch sie unterdrückten sie um Dhalias Willen und ermahnten sie, sich in Geduld zu üben.
„Es ist noch früh am Tag, Dhalia. Du darfst dich nicht unter Druck setzen. Was geschehen soll, wird geschehen. Wir können das genauso wenig beschleunigen, wie wir es aufhalten könnten. Hier sind höhere Mächte am Werk“, versuchte ihre Mutter sie zu beruhigen.
„Vielleicht kann der Spiegel uns doch mehr dazu sagen.“ Zum wiederholten Male nahm Dhalia ihr Amulett vom Hals und blickte angestrengt hinein. „Wenn ich nur wüsste, wie er funktioniert“, murmelte sie ratlos.
Aufmunternd streichelte ihre Mutter ihr über den Rücken. „Wir lassen dich jetzt ein wenig allein. Vielleicht gelingt es dir ja tatsächlich, den Spiegel zum Reden zu bringen.“
„Ja, vielleicht habe ich diesmal mehr Erfolg“, meinte Dhalia alles Andere als überzeugt. Das kleine Blatt so fest in der Hand umklammert, dass es fast schmerzte – sie hatte schon vor langer Zeit die Angst verloren, sie könnte den Spiegel beschädigen – flüchtete sie in den Garten, wo sie im Schatten einer Eiche mit angewinkelten Knien zwischen den Wurzeln Platz nahm. Gedankenverloren streichelte sie über das kühle Moos, das die Wurzeln des Baumes bedeckte. Während sie jede Unebenheit mit ihren Fingerspitzen ertastete, wurde ihr bewusst, dass dieser Ort für sie schon immer etwas Magisches an sich gehabt hatte. Ein uralter Baum, knorrige, fast verwunschen wirkende Wurzeln und ein kleines Baumloch, in dem sie früher ihre Schätze versteckt hatte.
Sie sah nun, wie ein letzter Tropfen des Morgentaus wie ein Juwel in einem Spinnennetz glitzerte, als die leichte Brise das zarte Gebilde einem stetigen Wechsel von Licht und Schatten unterwarf. Genauso ein Sonnenstrahl wie der, der jetzt in dem kleinen Wassertropfen funkelte, muss damals das Spiegelblatt zum Sprechen gebracht haben. Wenn es einen Ort oder einen Zeitpunkt gab, an dem sich dieses Wunder wiederholen konnte, dann war es bestimmt hier und jetzt.
Sie ließ sich von der Ruhe und der Kraft, die dieser Ort auszustrahlen schien, durchdringen und nahm das Spiegelblatt in beide Hände. Langsam, aber entschlossen senkte Dhalia ihren Blick und schaute ganz tief hinein. Sie war überzeugt, dass es ihr jetzt gelingen würde, und entschlossen, den Ort nicht eher zu verlassen, bis sie einige Antworten gefunden hatte auf die vielen Fragen, die sie schon seit Jahren quälten.
Der Nachmittag war bereits sehr stark fortgeschritten, als Dhalia zu ihren Eltern zurückkehrte. Sie wusste nicht genau, wie lange sie versunken in das Spiegelblatt gestarrt hatte, als könnte sie es allein mit ihrem Willen dazu bringen, etwas zu tun. Es dazu zu bringen, etwas von sich zu geben – ein Bild, einen Ton. Von ihr aus hätte es sich auch in Luft auflösen können, auch das wäre ein Zeichen, ein Anhaltspunkt für sie gewesen. Nun aber kehrte sie mit nichts zu ihren Eltern zurück.
Sie hatten sich abseits gehalten, um ihre Tochter nicht zu stören. Wie hätten sie auch wissen können, dass es nichts gab, wobei sie sie hätten stören können, dachte sie bitter.
Während sie die letzten Schritte aus dem Park herausging, versuchte sie, ihre Enttäuschung zu meistern. Sie hatte ohnehin nicht ernsthaft an die Geschichte geglaubt. Wahrscheinlich war es sogar besser so. Sie setzte eine gleichgültige, fast verächtliche Miene auf, als sie zu ihren Eltern trat, die unter einem Baldachin Schutz vor der Sonne gesucht hatten.
„Ich habe euch doch schon immer gesagt, dass das alles nur Ammenmärchen waren. Wie es aussieht, hatte ich recht.“ Seelenruhig hängte sie sich das Blatt wieder um den Hals. „Ist ein ganz netter Anhänger, aber nichts weiter.“
„Das darfst du nicht sagen!“, brauste ihr Vater auf. „Deine Mutter und ich haben beide gesehen, was damals passiert ist, wir haben es uns weder eingebildet, noch haben wir es erfunden. Wir wissen genau, was damals geschehen war. Es muss etwas zu bedeuten haben!“
„Dein Vater hat recht, Dhalia. Wir müssen wahrscheinlich noch ein bisschen mehr Geduld haben.“
„Wie viel denn noch? Ich warte schon mein ganzes Leben darauf!“, konnte Dhalia sich nicht zurückhalten. „Dieses kleine Blatt hat mein gesamtes bisheriges Schicksal bestimmt, soll ich mich denn für alle Zeit zu seiner Sklavin machen, in der Hoffnung, dass ich es eines Tages vielleicht verstehe? Ihr erwartet einfach zu viel!“ Sie wollte keine Schwäche zeigen und doch spürte sie, wie heiße Tränen in ihr aufstiegen. Tränen der Enttäuschung und Tränen der Wut. Es war ein grauenhafter Tag für sie gewesen und ihre Eltern machten alles nur noch schlimmer. Am quälendsten war das Gefühl, dass sie ihren Eltern nicht sagen konnte, wie sie sich fühlte, ohne ungeheuer egoistisch zu erscheinen. Sie wünschte, dieser Tag würde endlich zu Ende gehen. Sie wusste nicht, wieso, doch sie hatte das Gefühl, dass am nächsten Tag alles besser sein, dass dann dieser Druck endlich von ihr abfallen würde.
Während ihre Mutter, die ihren Kummer spürte, sie wortlos in die Arme nahm, suchte ihr Vater nach einer neuen Lösung. „Vielleicht wissen die Feen Bescheid darüber, was nun geschehen soll. Immerhin war dies ihr Geschenk. Wir sollten versuchen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen.“
Dhalias Mutter blickte erschrocken hoch und sah ihren Mann an, als hätte er den Verstand verloren. „Wir wissen nichts über irgendwelche Feen – ob es sie überhaupt gibt oder ob sie uns wohl gesinnt wären, falls sie existieren und falls es uns gelingt, sie zu finden. Außerdem würde es Aufsehen erregen, wenn du auf einmal auf Abenteuerjagd gehst. Und das wollen wir doch vermeiden, oder?“ Bedeutungsvoll zog sie ihre Augenbrauen hoch.
„Dann sollte Dhalia sich allein auf die Suche nach ihnen machen.“
„Und wie soll ich das anstellen?“ Dhalia hasste das Gefühl, dass ihr Schicksal schon wieder über ihren Kopf hinweg entschieden wurde, nur weil ihre Eltern ihre fixe Idee nicht aufgeben wollten.
„Das kommt gar nicht in Frage“, warf ihre Mutter entschieden ein. „Wir können Dhalia doch nicht ins Ungewisse losschicken. Was, wenn die Prophezeiung nun doch nicht stimmt? Dann wäre es reiner Selbstmord für sie, nach den Feen zu suchen. Du solltest etwas mehr über die Konsequenzen deiner Ideen nachdenken, bevor du sie äußerst“, wies sie ihren Mann zurecht.
„Aber was können wir denn sonst tun?“
„Muss denn etwas getan werden? Es ist doch nichts passiert, was irgendwelche Handlungen erfordert. Es wäre etwas völlig Anderes, wenn wir heute ein Zeichen erhalten hätten. Wir sollten noch abwarten, bevor wir uns entscheiden.“
„Aber wie lange soll ich denn auf etwas warten, das womöglich nie eintritt?“ fragte Dhalia aufgebracht.
„Vielleicht ist der Tag aus der Prophezeiung noch gar nicht gekommen. Immerhin hat sie vier Wochen nach deiner Geburt stattgefunden. Lasst uns also noch vier Wochen warten, vielleicht erhalten wir bis dahin einen Hinweis, was Dhalias Schicksal sein soll.“
„Und wenn dann immer noch nichts passiert?“
„Dann, mein Lieber, sollten wir die ganze Geschichte vielleicht einfach vergessen. Bisher ist es uns doch auch ganz gut ergangen.“ Als Dhalias Mutter sah, dass ihr Mann noch nicht überzeugt war, fügte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, hinzu: „Dhalia, du solltest dich jetzt ausruhen, es war ein sehr anstrengender Tag für dich gewesen. Und mach dir keine Sorgen, Kind, alles wird sich schon fügen, du wirst sehen.“
Oben in ihrem Zimmer fiel Dhalia bäuchlings auf ihr Bett. Sie fühlte sich hundeelend. Sie wollte nicht mehr nachdenken. Am liebsten hätte sie alles vergessen, es irgendwie hinter sich gelassen. Sie verspürte den Wunsch, sich einfach unter ihrer Bettdecke zu verkriechen und niemals wieder herauszukommen. Doch sie wusste, dass ihre Schwierigkeiten dadurch nicht verschwinden würden. Ebenso wenig wie die Unruhe und Angst, die ihr im Augenblick die Seele zerfraßen. Diese Zeit war für sie leider endgültig vorbei.
Der Gedanke, sie könnte einfach weggehen, dem ganzen Theater den Rücken kehren, ihr Leben selbst bestimmen, kam ihr flüchtig in den Kopf. Sollten doch die höheren oder niederen Mächte, oder wer auch immer ihr diese blödsinnige Prophezeiung geschickt hatte, zusehen, wie sie ohne sie klarkamen. Doch es war nur ein flüchtiger Gedanke. Sie war nicht dazu erzogen worden, vor Schwierigkeiten wegzulaufen. Sie stellte sich ihnen und versuchte zumindest, sie zu bewältigen. Falls sie mal scheitern sollte, wäre es schlimm genug, aber es nicht einmal zu versuchen – das entsprach nicht ihrem Naturell. Und doch, es hätte wahrscheinlich viele Dinge einfacher für sie gemacht.
Sie vergrub das Gesicht in ihrem Kopfkissen. Sie fühlte sich ausgelaugt und war fest entschlossen, nicht länger über ihr mögliches Schicksal zu grübeln.
Obwohl es noch früh am Abend war, wurde sie irgendwann vom Schlaf übermannt. Doch er brachte nicht das gnädige Vergessen mit sich, auf das Dhalia so gehofft hatte. Wirre und sehr beunruhigende Träume ließen sie auch in dieser Nacht nicht los. Träume, die ihr eine fremdartige Welt zeigten, die ihr doch so eigenartig vertraut vorkam. Sie fürchtete sich vor den Dingen, die sich darin verbergen mochten, und doch empfand sie ein unerklärliches Gefühl des Verlustes darüber, kein Teil dieser Welt zu sein.
Sie träumte, sie würde fliegen, auf Wolken sanft über der Erde getragen werden. Sie sah die Welt, wie sie sie kannte, unter sich immer kleiner werden und empfand dennoch keine Furcht. Vielmehr fühlte sie sich, als würde die ganze Welt ihr gehören.
Sie kam auf einem Hügel zum Stehen, der von Nebelschwaden, die vom Tal hinaufstiegen, umringt war, so dass der Hügel selbst wie eine Insel in einem Meer aus Wolken wirkte. Dhalia sah einen Fluss in der Ferne in den ersten Strahlen der Morgensonne glitzern. Sie spürte, wie sie losrannte und sich plötzlich mit beiden Füßen abstieß, um über das unter ihr liegende nebelverhangene Tal zu schweben. Sie fühlte den Wind unter sich, der sie immer höher und weiter trieb, bis sie die Erde ganz aus den Augen verloren hatte. Es war ein berauschendes Gefühl.
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie allein war. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit überkam sie. Auf einmal hatte sie Angst, dass sie den Weg zurück nicht finden würde, dass sie immer weiter fort treiben würde, unfähig, jemals wieder einen Fuß auf diesen Hügel zu setzen, wo sie sich so friedlich und geborgen gefühlt hatte.
Bei diesem Gedanken stieg Panik in ihr auf. Sie bemühte sich, die zunehmende Leere unter sich mit ihren Blicken zu durchdringen, und verlor dabei im Flug das Gleichgewicht. Dhalia strauchelte und stürzte kopfüber in die Tiefe.
Sie fand sich in einem Haus wieder, das große Wärme und Ruhe, beinahe Erhabenheit ausstrahlte. Sie spürte, wie sich ihr Herz von der Aufregung des Sturzes erholte, wie sie selbst zur Ruhe kam. Sie fühlte sich sicher, als könnte ihr in diesem eigenartigen Raum nichts passieren. Ein wunderschönes Gesicht kam plötzlich in ihr Sichtfeld. Erstaunt erkannte Dhalia, dass sie nun in einem Bett lag. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie die feinen Züge der Frau erblickte, die sich über sie beugte. Darin lag so viel Schmerz, dass es Dhalia nicht überraschte, als sie eine heiße Träne spürte, die auf ihre Wange fiel. Das Gesicht kam näher und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. Dabei strich eine blonde Locke, die nach einem warmen Sommermorgen duftete, über ihr Gesicht. Dann war die Frau wieder verschwunden und mit ihr wich auch jegliche Wärme aus dem Haus. Dhalia fühlte sich auf unerklärliche Weise betrogen und im Stich gelassen, weil sie dieses Gesicht nicht mehr sehen und den Duft des langen Haares nicht mehr einatmen konnte. Das Gefühl des Verlustes war so stark, dass sie zunächst gar nicht merkte, wie sich ihr Traum schon wieder veränderte.
Irgendwann wandte sie ihren Kopf zur Seite und sah ein Baby neben sich liegen. Für einen Augenblick sahen sie sich an, beide leicht erstaunt über das plötzliche Treffen, weil sie im Leben des Anderen bisher nicht existiert hatten. Dhalia streckte ihre Hand nach dem Baby aus, doch jemand anders war schneller gewesen. Hände griffen danach, hoben es hoch, brachten es weg, fort von seinem Bettchen, fort von ihr. Wieder wandte Dhalia ihren Kopf, um dem Baby hinterher zu blicken. Es war zu spät, sie konnte es nicht mehr sehen. Doch stattdessen lenkte etwas Anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie sah etwas über ihrem Kopf funkeln, und als sie die Hand danach ausstreckte, durchzuckte sie die Erkenntnis wie ein Blitz und riss sie aus ihrem Traum zurück in die reale Welt.
Ich bin es nicht! war der eine Gedanke, der im Takt mit ihrem Herzen immer und immer wieder in ihrem Kopf hämmerte. Denn im Traum hatte sie über sich das kleine Spiegelblatt gesehen, dass seit jenem Tag, als sie jemand in das fremde Bett gelegt hatte, ihr ständiger Begleiter gewesen war.
In einem Augenblick fühlte sie ihre gesamte Welt über sich zusammenbrechen. Sie hatte keine Familie, keine Bestimmung, nicht einmal mehr einen Namen. All das gehörte einer Anderen, jenem Baby, das vor achtzehn Jahren aus seinem Bettchen gestohlen und durch sie ersetzt wurde, ohne dass irgendjemand den Tausch bemerkt hatte!
Lange Zeit saß sie teilnahmslos da, zu betäubt, um etwas zu fühlen oder zu denken. Doch dann, so allmählich, dass sie es kaum bemerkt hatte, stieg wie Phönix aus der Asche ein Entschluss aus den Trümmern ihres Lebens auf.
Endlich lag ihr Weg deutlich vor ihr. Dort, wo vor wenigen Stunden noch Zweifel und Mutlosigkeit geherrscht hatten, war nun Klarheit eingekehrt.
Dhalia stieg aus ihrem Bett. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass die Morgendämmerung nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Das war gut, die Zeit würde gerade für ihre Vorbereitungen reichen.
Entschlossen griff sie nach ihrem Reisekleid. Es war aus robustem und warmem Stoff gearbeitet. Sie zog es an und suchte sich ein paar bequeme Stiefel heraus. Nach einem kurzen Zögern griff sie nach einem Beutel und packte noch ein paar Stiefel, Socken und ein etwas hübscheres Kleid ein. Sie konnte ja nicht wissen, ob sie es nicht mal gebrauchen könnte. Unschlüssig blickte sie sich in ihrer Kammer um. Was sollte sie wohl noch mitnehmen? Bisher war sie noch nicht sehr viel von Zuhause fort gewesen. Ihre längste Reise war der Besuch der Bibliothek von Annubia gewesen, wo sie in den letzten Jahren viel Zeit mit ihren Studien verbracht hatte. Doch diese Stadt war nur zwei Tagesreisen entfernt.
Sie griff nach ihrem Reisesack, der alles enthielt, was sie auf ihren kürzeren Ausflügen benötigte – den Schlafsack und eine Decke, etwas Kochgeschirr und Zunder, um Feuer zu machen. Für eine lange Reise schien ihr das so seltsam ungenügend. Also packte sie noch einige Kleidungsstücke in einen zweiten Beutel und legte diesen zu dem Reisesack dazu. Dann holte sie ihr Schwert, ihren Bogen und den Köcher aus der Kiste neben ihrem Bett hervor und legte dies alles zu dem kleinen Stapel, den sie aufgebaut hatte. Das sah schon besser aus. Der Anblick dieser vertrauten und notwendigen Gegenstände gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, das Gefühl, für alle Widrigkeiten gerüstet zu sein. Sie setzte sich auf ihr Bett. Sie war bereit. Es gab nichts mehr, was sie noch tun musste. Außer, sich von ihren Eltern zu verabschieden.
Nun, da die erste Aufregung abzuklingen begann, fühlte sie Zweifel in sich aufkommen.
Ein erster Sonnenstrahl streifte sanft ihre Wange. „Du hast ja recht“, stimmte sie dem Lichtstrahl leise zu, „es wird Zeit, zu meinen Eltern zu gehen.“ Sie schulterte ihr Gepäck und machte sich auf den Weg zu den Ställen. Unterwegs schaute sie noch in der Küche vorbei und packte einen Laib frischen Brotes und kalten Braten vom Vortag ein.
Als sie die Ställe erreichte, sah ein verschlafener Stallbusche überrascht zu, wie sie Bruno sattelte und ihr Gepäck am Sattel des Tieres befestigte. Doch sie beachtete ihn nicht weiter. Und so sagte er sich, dass sie wahrscheinlich nur wieder einen Ausflug unternehmen wollte.
Als sie fertig war, ließ Dhalia das Pferd stehen und ging zum Haupthaus zurück. Sie wusste, warum ihre Schritte immer langsamer wurden. Wenn sie diesen Pfad, den sie auf einmal so klar vor sich sah, einmal betreten hatte, würde es kein Zurück mehr für sie geben. Noch konnte sie umkehren, ihr Geheimnis für sich behalten und die Lüge, die ihr gesamtes Leben war, bis zu ihrem Tod weiterleben. Niemand würde es je erfahren.
Niemand außer ihr.
Sie zögerte, doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass sie keine Wahl mehr hatte. Eigentlich hatte sie seit dem Augenblick ihres Erwachens keine Wahl mehr gehabt. Schweren Herzens ging sie die Steintreppe hinauf, die zu den Gemächern ihrer Eltern führte. Sie war bereit.
Vor der massiven Zimmertür blieb sie stehen. Zögernd streckte die junge Frau die Hand zum Klopfen aus und zog sie dann wieder zurück. Sie atmete einmal tief durch und ballte ihre Hände zu Fäusten. Schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte, klopfte sie laut an die vertäfelte Holztür.
Sie hätte es fast nicht gehört, als sie hereingerufen wurde, weil ihr Herz so laut in ihrer Brust pochte – wie würden ihre Eltern auf die Enthüllung reagieren? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Sie öffnete die Tür und trat ins Zimmer.
Ihre Mutter, die an ihrer Frisierkommode saß, fuhrt alarmiert hoch, als sie Dhalia mit ernstem Gesichtsausruck und in voller Reisekleidung plötzlich in das Schlafzimmer kommen sah. „Liebes, was ist passiert?“
Auch ihr Vater musterte sie nervös. Ihm gefiel seine Idee vom Vortag, Dhalia alleine losziehen zu lassen, doch nicht mehr so gut. Insbesondere, als er seine Tochter bereit zum Aufbruch sah.
„Ich habe euch etwas mitzuteilen und es ist besser, wenn ihr euch setzt“, sagte sie fest und sprach nicht weiter, bis ihre Eltern verwundert Platz genommen hatten. Sie selbst blieb jedoch stehen. Sie wusste nicht genau, weshalb. Vielleicht hatte sie das Gefühl, so leichter weggehen zu können, wenn ihre Eltern sie nicht mehr wollten. Denn davor hatte sie die meiste Angst. Was würden sie tun, wenn sie erführen, dass sie all die Jahre ein fremdes Kind anstelle ihres eigenen aufgezogen hatten?
Sie blieb also stehen und musterte abschätzend die beiden Menschen, die sie bisher immer als ihre Eltern betrachtet hatte. Dann fing sie mit beherrschter Stimme zu sprechen an. „Ich weiß jetzt, warum gestern nichts geschehen ist.“ Ihre Mutter wollte etwas sagen, doch sie hob Schweigen gebietend die Hand. „Es bringt auch nichts, noch länger zu warten. Wir könnten ewig warten, ohne dass die Prophezeiung sich erfüllt. Denn nicht ich bin es, die darin gemeint ist.“ Einen Moment lang sah sie ihren Eltern in die Augen, dann wandte sie ihren Blick ab. Sie könnte die Veränderung darin nicht ertragen, wenn sie ihnen die Wahrheit sagte.
„Ich bin nicht eure Tochter“, brachte sie schließlich mit leiser, aber dennoch fester Stimme hervor. Zögernd blickte sie hoch. Sie fühlte sich, als hätte sie ihre Eltern die ganze Zeit über belogen, obwohl sie die Wahrheit selbst erst vor wenigen Stunden herausgefunden hatte.
„Aber natürlich bist du das. Was soll das Ganze, Dhalia?“ fragte ihr Vater, erleichtert darüber, dass nichts Schlimmes geschehen war, und ärgerlich über den Schrecken, den sie ihm und seiner Frau durch ihr merkwürdiges Verhalten am frühen Morgen eingejagt hatte.
„Nein, bin ich nicht“, entgegnete sie bestimmt. „Ich habe mich heute Nacht an alles erinnert. Ich erinnere mich, wie ich von einer fremden Frau in ein Bettchen in meinem Kinderzimmer… ich meine, in das Kinderzimmer hier im Schloss gelegt wurde, und wie ein anderes Baby – eure Tochter Dhalia – von dort weggeholt wurde. Ich bin es also nicht.“
„Dhalia, Schatz, das ist doch absurd. Nur weil du einen schlechten Traum gehabt hast, heißt das noch lange nicht, dass er wahr ist. Gestern war ein schwerer Tag für dich gewesen. Du warst enttäuscht, das verstehen wir. Doch du hast deshalb noch lange keinen Grund, an deinem gesamten Leben zu zweifeln.“ Ihre Mutter streckte ihre Arme nach Dhalia aus. „Denkst du etwa, wir erkennen unser eigenes Kind nicht?“
Dankbar ergriff Dhalia die Hände ihrer Mutter. Wie gern hätte sie sich von diesen Worten beruhigen lassen. Doch tief in ihrem Herzen hatte sie die unumstößliche Gewissheit, dass ihre Erinnerung sie nicht täuschte. Dennoch, wenn es nur um sie gegangen wäre, hätte sie ihren Eltern mit Freuden zugestimmt und vielleicht sogar selbst die Wahrheit nach und nach wieder vergessen. Aber es ging um viel mehr, als nur um ihre Wünsche und ihr Glück, um sehr viel mehr. Deshalb durfte sie nicht aufgeben, sie konnte es nicht.
„Denkt doch nach.“ Eindringlich sah sie ihre Eltern an. „Ist euch nie etwas aufgefallen? Habe ich mich als Baby nie sonderbar benommen?“
„Natürlich nicht.“ Ihr Vater schüttelte den Kopf über die abwegigen Ideen seiner Tochter.
Ihre Mutter wollte ihm schon zustimmen, als sie erschrocken die Luft anhielt. „Oh mein Gott, das kann nicht sein“, stammelte sie leise.
„Ich habe also recht“, stellte Dhalia mit einem traurigen Lächeln fest. „Was weißt du darüber, Mutter?“
Elinor schwieg eine Weile, bevor sie stockend zu erzählen anfing. „Du warst noch ein ganz kleines Baby. Ja, es muss einige Tage nach der Prophezeiung gewesen sein. Eines Morgens haben wir dein Kindermädchen tief schlafend neben deinem Bettchen vorgefunden. Was wir auch versucht haben, sie war nicht wach zu bekommen und hat noch Stunden weiter geschlafen. Sie hat sich damals sehr heftige Vorwürfe gemacht, dass sie dich so unbeaufsichtigt gelassen hatte. Du weißt ja, wie schnell Säuglingen etwas zustoßen kann. Aber du hast dich immer so prächtig entwickelt, dass ihre Sorge ganz unbegründet gewesen war. Auf jeden Fall hast du seit dieser Nacht jede Nacht durchgeschlafen und hast kaum noch geweint, ganz im Gegensatz zu früher.“ Ihre Stimme stockte kurz. „Ich weiß noch, wie ich einige Male scherzhaft gemeint hatte, jemand hätte mir mein Kind ausgetauscht. Am auffälligsten war jedoch, dass deine Augen an diesem Morgen ihren ersten grünen Schimmer bekommen hatten. Natürlich nicht so intensiv wie jetzt, aber immerhin deutlich erkennbar. Doch das ist bei Babys völlig normal“, schloss die Mutter trotzig. „Wie hätte ich denn ahnen können…“ Sie brach ab und Tränen traten ihr in die Augen.
„Damit ist jeder Zweifel ausgeschlossen, ich bin weder eure Tochter noch bin ich die Auserwählte aus der Prophezeiung.“ Tapfer kämpfte Dhalia gegen die aufwallenden Tränen an. Wenn sie nicht Dhalia war, wer war sie dann?
„Aber wenn es stimmt, was ihr beide da sagt“, schaltete sich ihr Vater nun in das Gespräch ein. „Wo ist dann unsere Tochter? Wo ist unsere Dhalia?“
Dieser Satz schnitt Dhalia ins Herz wie ein glühender Dolch. Ich bin doch hier, direkt vor euch, hätte sie am liebsten laut geschrieen. Aber das stimmte nun nicht mehr, sie hatte keine Eltern, kein Zuhause, sie hatte gar nichts. Dies alles gehörte der unbekannten Anderen. Sie selbst hatte nur das Glück gehabt, es sich einige Jahre auszuleihen, und nun musste sie der Anderen ihr Leben zurückgeben, damit sie die Prophezeiung erfüllen konnte.
„Ich weiß nicht, wo sie ist. Aber ich verspreche euch, ich werde sie finden und zu euch zurückbringen.“ Sie merkte gar nicht, dass die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, nun ungehemmt über ihre Wangen liefen. „Ich werde euch nicht noch einmal enttäuschen und unser Volk nicht im Stich lassen. Lebt wohl.“
Bevor die verdutzten Eltern etwas sagen konnten, drehte sie sich um und verließ fluchtartig den Raum.
„Dhalia, warte, wo willst du denn hin?“ rief ihr Vater, der sich als erster wieder gefasst hatte, ihr nach. Doch sie hörte ihn nicht mehr. Sie nahm nichts um sich herum wahr, als sie mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die Korridore des Schlosses lief, allein von ihrem Entschluss getrieben, die wahre Dhalia zu finden. Nur darauf waren ihre Gedanken, soweit sie zu denken im Stande war, gerichtet. Nur nach vorne, bloß nicht zurück, damit der Schmerz über das, was sie verloren hatte, nicht übermächtig wurde.
Sie kam erst wieder zu sich, als sie auf dem Rücken ihres Pferdes über die Zugbrücke der Burg galoppierte, ohne ihren Vater zu bemerken, der ihr zurief, sie sollte endlich mal stehen bleiben.
Bis er sein Pferd gesattelt hatte, war sie schon längst aus seinem Blickfeld verschwunden.
Als er schließlich schweren Herzens zu seiner Gemahlin zurückkehrte, die gerade aus dem Eingangstor herauskam, teilten sie beide einen verzweifelten Blick. Sie beide spürten die doppelte Last des Verlustes, denn an einem Morgen hatten sie gleich zwei Töchter verloren – die eine kaum gekannt und die andere aufgezogen – und keine von beiden weniger geliebt.
Das ahnte Dhalia jedoch nicht, als sie über die in der Frühe noch verlassene Landstraße jagte und sich so allein und verloren fühlte, wie noch niemals zuvor. Aber das spielte keine Rolle. Vielleicht wusste sie ja nicht, wer sie war, doch dafür wusste sie umso besser, was sie nun zu tun hatte. Sie würde diese andere junge Frau finden, die sie mittlerweile als eine Schwester betrachtete, und ihre Schuld ihr gegenüber begleichen, indem sie sie zu ihren Eltern zurückbrachte und sie nach Kräften dabei unterstütze, ihre Bestimmung zu erfüllen.
Irgendwann drosselte Dhalia ihr Tempo, um ihrem Pferd eine Verschnaufpause zu gönnen. Als sie Brunos sich heftig hebenden und senkenden Flanken sah, stieg sie aus dem Sattel, um neben ihm her zu gehen. Auf einmal überkam sie eine große Dankbarkeit zu diesem treuen Gefährten, dem einzigen Freund aus früheren Tagen, der ihr geblieben war. Sie schmiegte sich an den Hals des Hengstes. Es war schön, einfach nur ein anderes lebendiges Wesen neben sich zu spüren, eines, das keine Anforderungen und Erwartungen an sie stellte, denn sie hatte schon mit ihren eigenen genug zu tun.
Die Aufgabe, der sie sich verschrieben hatte, ragte wie ein gewaltiger Berg vor ihr auf und sie hatte keine Ahnung, wie sie mit dem Aufstieg beginnen sollte. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie sich nicht zuviel zugemutet hatte.
Schließlich beschloss sie, zunächst zur großen Bibliothek in Annubia zu gehen. Denn dort war die größte Ansammlung von Wissen, die Dhalia sich vorstellen konnte. Bestimmt würde sie dort etwas finden, das ihr weiter half. Doch wonach sollte sie suchen?
Die junge Frau blickte sich forschend um. Sie war auf dem richtigen Weg. Sie kannte diese Straße zur Genüge, da sie die Bibliothek im Rahmen ihrer Studien schon oft besucht hatte. Sie lächelte zuversichtlich. Sie hatte noch genug Zeit, einen Plan zu entwickeln, bis sie in Annubia ankam.
Allmählich tauchten auch andere Menschen auf der Landstraße auf, denn die Strecke nach Annubia war einer der wichtigsten Verbindungswege ihres Landes. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, stieg Dhalia wieder in den Sattel und ließ ihr Pferd im Schritt gehen.
Ein leichter Regen hatte eingesetzt und diente ihr als willkommener Anlass, ihre Kapuze tief über ihren Kopf zu ziehen und vorzugeben, die anderen Reisenden nicht zu sehen, an denen sie ab und an vorbeikam. Sie wollte nicht erkannt werden. Es war immerhin möglich, dass ihre Eltern nach ihr suchten.
Möglich, wenn auch unwahrscheinlich. Was sollten sie schon von ihr wollen, die ihnen wie ein Kuckucksei anstatt ihres eigenen Kindes ins Nest gelegt worden war?
Vielleicht würden sie ihr ja vergeben können, wenn sie ihnen ihre richtige Tochter zurückbrachte.
Damit war sie wieder am Anfang des Problems. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie in Annubia einen Eintrag unter „Dhalia: Königstochter als Kind von … entführt“ finden würde.
Dhalias Blick wanderte wieder zu der vor ihr liegenden Straße. In einiger Entfernung sah sie ein großes Schlammloch sich quer über die Straße ziehen.
Ich sollte Vater darauf hinweisen, dass die Straße repariert werden müsste, war ihr erster Gedanke. Traurig biss sie sich auf die Lippe. Das würde wohl jemand anders tun müssen.
Mit einem leichten Druck ihrer Beine ließ sie Bruno schneller laufen und mit einem eleganten Sprung über das Schlammloch herüber setzen. Dabei spürte sie unter ihrem Hemd etwas gegen ihre Brust prallen. Sie fühlte nach und zog das silberne Spiegelblatt hervor, das noch immer an einem Lederriemen um ihren Hals hing. Sie hatte es nicht abgenommen, teils aus Gewohnheit und teils, um es seiner wahren Besitzerin wiedergeben zu können, wenn sie sie endlich fand.
Doch jetzt kam ihr eine andere Idee. Ihr Vater hatte gemeint, sie sollte die Feen suchen, weil das Blatt und damit auch die Prophezeiung von ihnen stammten. Vielleicht sollte sie tatsächlich nach ihnen suchen. Vielleicht wussten sie etwas darüber, wo sie die Andere finden konnte.
Falls es die Feen überhaupt gab, falls sie sie finden konnte, falls sie ihr helfen wollten …
So viele ‚falls’. Doch es hatte keinen Sinn, darüber zu grübeln. Die ersten Schritte ihres Weges lagen nun vor ihr. Dann würde sie weitersehen, beschloss Dhalia.
Als es dunkler wurde, lenkte sie Bruno weg von der Straße in den kleinen Wald, der sich an der Straße entlang erstreckte. Sie hatte nicht viel Geld bei sich und wusste nicht, wozu sie es noch brauchen würde, daher beschloss sie, nicht bis zum nächsten Dorf zu reiten und dort eine Unterkunft zu suchen. Außerdem war sie müde und hatte kein Bedürfnis nach der lärmenden Gesellschaft anderer Menschen. Sie kannte ein nettes Plätzchen im Wald, wo sie schon öfter Rast gemacht hatte – eine kleine Höhle unter den Wurzeln eines umgestürzten Baumes, die ihr Schutz vor Wind und Wetter bot.
Sie band ihr Pferd an einem Baum wenige Meter von ihrem Unterschlupf entfernt an und machte sich daran, ein Feuer zu entfachen. Von einem kleinen Bach, der in der Nähe floss, holte sie Wasser. Unterwegs entdeckte sie einen Busch wilder Johannisbeeren, dessen Blätter ein starkes, würziges Aroma verströmten, so dass sich aus ihnen ein schöner Tee zubereiten ließ. Bald blubberte der Tee fröhlich in dem kleinen Topf, den Dhalia über das Feuer gehängt hatte. Sie selbst kaute auf dem frischen Brot und kaltem Fleisch, das sie am Morgen aus der Küche mitgenommen hatte. Über die Verpflegung müsste sie sich keine Sorgen machen, bis sie Annubia erreichte.
Warm und gesättigt nippte sie anschließend an ihrem Tee und lauschte dem Knacken des Feuerholzes und den Geräuschen des Waldes. Das Gefühl der Geborgenheit, das ihr kleiner Unterschlupf vermittelte, ließ sie beinahe vergessen, dass sie noch niemals allein dort übernachtet hatte. Doch sie ließ sich von dem trügerischen Gefühl der Sicherheit nicht einlullen und legte sich den Bogen griffbereit und ihren Dolch unter die zusammengerollte Decke, die ihr als Kopfkissen diente, als sie sich schlafen legte.
Nachdem alle Vorbereitungen erledigt waren, kuschelte sie sich in ihre Decke und starrte in das Feuer, weil der Schlaf trotz ihrer Müdigkeit nicht kommen wollte. Jedes Mal, wenn sie die Augen schloss, fühlte sie sich der Welt um sie herum, ob Mensch oder Tier, schutzlos ausgeliefert, obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass ihr keinerlei Gefahr drohte. Schließlich presste sie ihre Augenlider trotzig ganz fest zusammen und zog sich ihre Decke über das Gesicht. Sie würde sich von ihrer Angst nicht beherrschen lassen.
Irgendwann wachte sie auf, weil sie Bruno unruhig schnauben hörte. Dhalia unterdrückte tapfer ihren ersten Impuls, von ihrem Lager aufzuspringen. Stattdessen öffnete sie nur die Augen und tastete nach ihrem Bogen. Einen Pfeil hatte sie am Abend zuvor schon vorsichtshalber quer über die Sehne gelegt. Als ihre Finger beides gefunden hatten, richtete sie sich langsam auf, darauf bedacht, heftige Bewegung zu vermeiden. Auf der anderen Seite des Feuers sah sie zwei große, leuchtende Augen aus der Dunkelheit zu ihr herüberstarren. Als sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, erkannte sie einen großen Wolf, der sie aufmerksam musterte. Sie spannte den Bogen und richtete den Pfeil direkt zwischen die leuchtenden Augen des Tieres. Sie wollte den Pfeil nur ungern loslassen, doch sie würde es tun, wenn sie es musste. Einige Augenblicke sahen sich Mensch und Tier direkt an, dann verschwand der Wolf wieder im Gebüsch. Anscheinend hatte er entschieden, dass es durchaus leichtere Beute für ihn gab. Erleichtert ließ Dhalia den Bogen sinken. Ihre Arme zitterten vor Anspannung. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Wölfe jagten in Rudeln, sie konnte also nicht wissen, wie viele gerade noch auf der Jagd waren, und auch nicht sicher sein, dass ihr nächtlicher Besucher nicht mit seinen Brüdern wiederkam. Müde wischte sie sich den Schlaf aus den Augen und blickte zu dem Stückchen Himmel hoch, das sie zwischen den Baumkronen über sich erkennen konnte. Die Morgendämmerung war nicht mehr weit entfernt. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen und beschloss, in der Sicherheit ihres Sattels auf der Straße zu frühstücken.
Obwohl sie in ihrer ersten Nacht derart gestört worden war, war die junge Frau sehr stolz auf sich. Sie hatte den ersten Tag ihrer Reise erfolgreich überstanden. Ab jetzt würde ihr der Weg bestimmt leichter fallen.
Dhalia erreichte Annubia am Abend des zweiten Tages. Am liebsten wäre sie sofort zur Bibliothek geritten, doch sie beherrschte sich. Es war bereits spät und Kalla, eine der Bibliothekarinnen, die Dhalia fast mütterlich zugetan war, war bestimmt schon zu Hause. Und ohne ihre Hilfe würde Dhalia ohnehin nichts erreichen können.
Es war bereits fast ein Jahr her, seit Dhalia sie das letzte Mal besucht hatte, doch Annubia war eine alte Stadt, die sich nicht mehr so schnell veränderte. Und so fand Dhalia ohne Probleme ihren Weg durch die gewundenen engen Straßen zu Kallas Haus. Sie stieg ab und klopfte an die Tür.
Ein rundliches Frauengesicht schaute aus einem Fenster im oberen Stockwerk heraus und musterte überrascht die junge Frau, die so spät an ihre Tür klopfte. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie neugierig.
Überrascht hob Dhalia den Kopf und blickte der älteren Frau direkt in die Augen. „Guten Abend, Kalla, erkennt Ihr mich denn nicht?“
Erkennen, freudige Überraschung und Besorgnis wechselten sich in Sekundenschnelle auf dem gutmütigen Gesicht ab. „Meine Güte, Dhalia, bist du das wirklich, Kind?“ Das Gesicht verschwand sofort und Dhalia hörte, wie die Treppe im Hausinneren unter Kallas Gewicht knarrte, als diese sich zur Tür beeilte. Die Tür wurde aufgerissen und Dhalia ins Hausinnere gezogen und kräftig an Kallas Brust gedrückt. Dann schob sie Dhalia leicht von sich, um sie genauer zu betrachten.
Die junge Frau lachte. Es war schön, so empfangen zu werden. „Ich bin es tatsächlich, Kalla.“
„Und wie hübsch du geworden bist. Eine richtige Dame. Lass dich mal anschauen. Wie lange ist es jetzt her? Ein Jahr? Wurde Zeit, dass du uns wieder mal besuchst. Aber du musst ja ganz müde nach der langen Reise sein. Hier, lass mich deinen Umhang abnehmen. So, und nun gehst du da rein und machst es dir am Kamin gemütlich, während ich dafür sorge, dass dein Pferd versorgt wird und du selbst auch etwas zu essen bekommst. Und dann erzählst du mir erstmal alles – wie es dir geht und was du hier machst.“ Glücklich wie eine Glucke, die ihr Küken wieder gefunden hatte, rannte Kalla davon.
Während sie sich ihre Hände am Kamin wärmte und lächelnd zusah, wie Kalla alle Vorbereitungen für Dhalias Mahl traf, spürte sie, wie sich auch in ihrem Herzen eine wohlige Wärme ausbreitete, eine Wärme, die sie seit mehreren Tagen nicht mehr verspürt hatte.
Als Kalla sich endlich auch hingesetzt hatte, musterte sie ihre Besucherin besorgt. „Du siehst blass aus. Fehlt dir etwas?“
„Nein, alles in Ordnung. Ich bin nur erschöpft“, sagte Dhalia etwas zu zügig.
„Bist du ganz allein hier?“ fragte Kalla, der erst jetzt aufzufallen schien, dass das Mädchen keine Begleiter hatte.
„Ja. Das hat sich so ergeben“, fügte sie ausweichend hinzu, als sie Kallas fragenden Blick bemerkte.
„Ist wirklich alles in Ordnung?“
„Aber ja doch“, winkte Dhalia ab. „Ich würde morgen gern zur Bibliothek gehen“, wechselte sie das Thema. „Und wenn ich dort bin, könnte ich etwas Hilfe gebrauchen.“
„Aber natürlich. Worum geht es denn?“
„Ich möchte mehr über die Feen erfahren.“
„Über die Feen?“ Kalla sah ihre junge Freundin an, als würde sie an ihrem Verstand zweifeln. „Warum in aller Welt möchtest du etwas über Feen erfahren?“
Dhalia blickte zu Boden. „Diesen Aspekt der Geschichte habe ich bisher ziemlich vernachlässigt.“
„Dennoch.“ Kalla war noch nicht sonderlich überzeugt. „Da gibt es auch nicht viel zu wissen. Die einen sind schon längst von hier verschwunden. Und wir können uns nur wünschen, dass die Anderen, die noch hier sind, ihnen bald nachfolgen.“ Sie sah Dhalia scharf an. „Du hast doch keinen Ärger mit ihnen, oder?“
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
„Gut, von denen sollte man sich nämlich fernhalten.“
Unwillkürlich musste Dhalia lächeln. „Genau das hat Vater mir auch gesagt.“
„Ein weiser Mann, dein Vater. Wie geht es eigentlich deinen Eltern?“
„Ganz gut, danke.“ Dhalia wusste, dass Kalla mehr Informationen erwartete, doch sie konnte jetzt nicht darüber sprechen. Sie leerte ihre Tasse und wischte sich müde mit den Händen über das Gesicht. „Ich würde jetzt gerne schlafen gehen.“
„Aber natürlich, meine Liebe. Ich habe dein übliches Zimmer für dich herrichten lassen.“
„Danke.“ Dhalia umarmte kurz die andere Frau und verließ schweigend das Zimmer.
Kalla sah ihr besorgt hinterher. Sie saß noch eine Zeitlang schweigend in ihrem Sessel und versuchte, sich einen Reim auf die Ereignisse des Abends zu machen. So niedergeschlagen und schweigend hatte sie ihre junge Freundin noch nie erlebt.
Am nächsten Morgen konnte Dhalia es kaum erwarten, zur Bibliothek aufzubrechen.
„Was genau möchtest du denn über die Feen erfahren?“ fragte die Bibliothekarin, als sie durch das Eingangsportal des eindrucksvollen Gebäudes schritten.
„Ich weiß nicht so recht.“ Dhalia blickte sich unschlüssig um, als könnten die bis zur Decke mit Büchern angefüllten Regale ihr irgendeinen Hinweis darauf geben, wo sie mit der Suche beginnen sollte. „Was für Bücher gibt es denn hier zu diesem Thema?“
„Ich schaue mal im Register nach. Es ist aber nicht wirklich gefragt, weißt du. Außerdem sind viele Bücher verboten worden, als wir Teil des Großen Reiches wurden.“ Kalla konnte ihre Neugier nicht länger bezwingen. „Willst du mir denn nicht sagen, woher dein plötzliches Interesse an den Feen kommt? Ich könnte dir bestimmt besser helfen, wenn ich wüsste, wonach du suchst.“
„Das weiß ich leider auch nicht so genau.“ Dhalia zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Aber es ist wichtig, bitte, du musst mir glauben.“ Sie sah, dass diese Antwort der älteren Frau nicht genügte, doch sie konnte ihr unmöglich die Wahrheit erzählen. Obwohl sie selbst von der Richtigkeit ihrer Geschichte überzeugt war, war ihr bewusst, wie unglaubwürdig sie klang. Außerdem hatten ihre Eltern all die Jahre über dafür gesorgt, dass kein Wort über die Prophezeiung nach außen gedrungen war. Es musste auf jeden Fall ein Geheimnis bleiben.
Als sie merkte, dass das Mädchen zu keinen weiteren Auskünften bereit war, akzeptierte Kalla innerlich seufzend Dhalias Weigerung, sie ins Vertrauen zu ziehen, und wandte ihre volle Aufmerksamkeit dem Register zu. „Wieso schaust du dich hier nicht ein wenig um, ich sage dir Bescheid, wenn ich etwas Interessantes finde.“
Langsam ging Dhalia durch die endlosen Reihen von Regalen, bis sie unter einem großen Schild mit dem Buchstaben „F“ stehen blieb. „Na, dann wollen wir mal sehen“, murmelte sie vor sich hin. Bücher über Bücher reihten sich vor ihren Augen. Bücher über alles Mögliche, doch kein Titel gab einen Hinweis darauf, dass es etwas über Feen enthielt. Schließlich griff Dhalia zu der letzten ihr bekannten Möglichkeit – in einem angrenzenden Raum stand das größte Nachschlagewerk des Landes ausgestellt. Wenn es etwas über Feen zu wissen gab, dann stand es mit Sicherheit dort drin. Sie suchte den passenden Band heraus und hievte ihn auf einen freien Lesetisch in der Nähe. Aufgeregt blätterte sie durch die Seiten. Nichts, kein Eintrag, nicht einmal ein Wort über Feen.
Frustriert blätterte Dhalia zurück und wieder vor. Sie hatte sich nicht geirrt, da stand tatsächlich gar nichts.
Plötzlich fiel ihr etwas auf. Da fehlten Seiten! Jemand hatte sie einfach herausgerissen. Wenn sie den Seitenzahlen glauben konnte, so hatte da früher eine ganze Menge zu den Buchstaben FEE gestanden.
Mit einem Mal wurde ihr die gesamte Tragweite ihrer Entdeckung bewusst. Ihrem Volk wurden bewusst Informationen vorenthalten! Auch wenn sie die gesamte Bibliothek studiert hätte, könnte sie nicht sicher sein, über die wichtigen Themen Bescheid zu wissen. Und wenn man Informationen vernichtet hatte, war es auch möglich, dass Einträge verfälscht worden waren! Sie hatte beinahe Jahre in dieser Bibliothek zugebracht und nun konnte sie sich auf das hier angeeignete Wissen nicht einmal verlassen! Ob ihre Eltern das wohl wussten?
Dhalia war aufs tiefste empört. Sie fühlte sich nun noch unzureichender auf die vor ihr liegende Aufgabe vorbereitet. Ihr wurde erschreckend klar, dass sie fast gar nichts darüber wusste, was außerhalb ihres Landes vor sich ging. Sie hatte keine Ahnung, was sie dort erwarten mochte.
Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis Kallas Erscheinen sie endlich aus ihren Grübeleien riss.
„Was ist los? Hast du etwas gefunden?“ neugierig blickte Dhalia hoch.
„Nein, meine Liebe, habe ich nicht.“ Kalla blickte sich vorsichtig um. „Aber ich würde dir gern etwas zeigen.“
„Was ist los, wohin gehen wir?“ fragte Dhalia überrascht, als die Bibliothekarin sie die Korridore entlang immer weiter zerrte. Doch diese legte zur Antwort nur den Finger auf die Lippen und ging eilig weiter. Schließlich waren sie in einem abgelegenen Teil der Bibliothek angelangt, den Dhalia noch nie zuvor gesehen hatte und der auch jetzt völlig verlassen schien. In der Ecke eines kleinen Lesesaals blieb Kalla stehen und blickte sich nochmals vorsichtig um. Dann drückte sie nacheinander auf bestimmte Steine in der Wand und plötzlich öffnete sich ein kleiner Durchgang.
Dhalia hielt begeistert den Atem an. „Ein Geheimgang!“, flüsterte sie aufgeregt. Neugierig kam sie näher und spähte durch die dunkle Öffnung. Sie konnte eine Treppe erkennen, die in die Tiefe führte. Dahinter war alles in tiefste Dunkelheit getaucht.
Aus einem Schrank holte Kalla eine Laterne, zündete sie an und reichte sie der jungen Frau. Unschlüssig trat Dhalia auf die Treppe.
„Nun mach schon“, drängte Kalla sie flüsternd. „Man darf uns hier nicht entdecken.“ Sie folgte dem Mädchen dicht auf den Fersen. Sobald sie die Treppe selbst betreten hatte, setzte sie wieder einen Mechanismus in Gang. Erschrocken drehte Dhalia sich um, als sie den Zugang hinter sich zugehen sah.
„Keine Angst“, beruhigte Kalla sie, „die Tür lässt sich wieder problemlos öffnen. Und nun geh schon. Wir können unten über alles reden.“ Die junge Frau nickte und begann gehorsam, die steile Treppe hinab zu steigen.
Die Treppe mündete in einem kleinen Raum, der über und über mit Kisten von Büchern voll gestopft war.
„Was ist das hier?“ Staunend blickte Dhalia sich um und versuchte, sich in dem schwachen Licht der Laterne einen Reim auf diesen Raum zu machen.
„Das ist das Geheime Archiv.“
„Wieso ist es geheim?“
„Weil die Bücher hier drin verboten sind. Die Dinge, die hier drin stehen, sollte keiner von uns wissen.“
„Und du weißt sie alle?“ Bewundernd blickte Dhalia die ältere Frau an.
„Aber nein, wo denkst du nur hin!“, winkte Kalla lachend ab. „Keiner weiß das alles. Nicht mehr“, fügte sie traurig hinzu. „Die meisten dieser Bücher können wir nicht einmal mehr lesen, weil keiner mehr die Sprachen beherrscht, in denen sie geschrieben wurden.“
„Und warum gibt es dann dieses Geheime Archiv, wenn es niemandem von Nutzen ist?“ fragte Dhalia enttäuscht.
Kalla lächelte traurig. „Der damalige Direktor der Bibliothek hatte diese Bücher hierher bringen lassen, als wir Teil des Großen Reiches wurden, da er geahnt hatte, was mit ihnen passieren würde. Er konnte gewiss eine ganze Menge damit anfangen, doch er hatte, glaube ich, nicht mehr lange genug gelebt, um sich daran zu erfreuen.“
„Und jetzt ist das ganze Wissen hier wertlos“, stellte Dhalia fassungslos fest.
„Das würde ich nicht sagen. Ab und zu kommen neugierige Menschen, so wie du, hier vorbei und wollen etwas über die verbotenen Themen wissen. Über Feen, über Magie, über die Entstehung des Großen Reiches. Einige von ihnen führen wir hierher, und manchmal finden sie, wonach sie suchen. Also, wonach suchst du, Dhalia?“
Das Mädchen dachte schweigend nach. Einerseits wollte sie ihrer Freundin gern die ganze Wahrheit erzählen. Aber nach dem, was sie heute erfahren hatte, hatte sie das ungute Gefühl, dass es besser für die Bibliothekarin war, wenn sie so wenig wie möglich wusste. „Ich möchte versuchen, die Alten Feen zu finden“, sagte sie schließlich.
„Du möchtest was?“ Kalla war schockiert. Sie sah Dhalia an, als hätte diese nun vollkommen ihren Verstand verloren.
„Ich möchte – nein, ich muss – erfahren, was mit ihnen passiert ist“, sagte die junge Frau mit Nachdruck.
„Wenn das nur eine Laune von dir ist, Dhalia, dann rate ich dir dringend, davon Abstand zu nehmen.“
Trotzig sah Dhalia sie an. Ihr Blick schien zu sagen: Du müsstest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich einen sehr guten Grund haben muss, um so etwas zu tun.
„Bist du dir denn der Gefahren bewusst, die damit zusammenhängen? Sollte der Herrscher davon erfahren, werden er und seine Dunkelfeen dich jagen, bis du dir wünschst, nie das Elternhaus verlassen zu haben.“
Dhalia schluckte, daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Doch sie gab sich tapfer. „Woher sollte er das wohl erfahren?“
„Keine Ahnung. Aber es passieren seltsamere Dinge, als dass der Herrscher erfährt, was in seinem Reich vor sich geht.“
„Ich werde vorsichtig sein, das verspreche ich. Bevor wir weiter darüber sprechen, sollten wir sehen, ob wir hier überhaupt etwas finden, das mir weiterhilft.“ Dhalia war sich sicher, dass der Herrscher nichts von ihrem Vorhaben erfahren würde, bis es zu spät war. Wie sollte er auch. Und wenn sie erst einmal die Feen und die Prophezeite gefunden hatte, konnte er ohnehin nichts mehr ausrichten.
Anfangs hatte die junge Frau noch versucht, sich an der Suche nach Hinweisen zu beteiligen, stellte aber schon bald fest, dass sie Kalla, außer beim Heben der schweren Kisten, keine Hilfe war, da sie nicht lesen konnte, was auf den Bücherrücken geschrieben stand.
„Einige dieser Bücher sind in unserer alten Sprache geschrieben, viele in anderen Sprachen, die auch mir völlig unbekannt sind“, klärte die Bibliothekarin sie auf, während sie die verstaubten Kisten durchsah.
Plötzlich richtete sie sich auf und zog mühsam einen großen dunklen Band aus einer der Kisten hervor. „Schau mal her, Dhalia, ich glaube, ich habe etwas gefunden.“
Sie legte das Buch auf einen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, und schlug vorsichtig die vergilbten Seiten auf. Nachdem sie einen Blick auf den Titel geworfen hatte, schaute sie ungläubig zu dem Mädchen herüber. „Das Buch heißt ‚Die Eroberung des Feenreiches’ und es hat einer deiner Vorfahren geschrieben!“
„Dann hatte Vater also recht“, murmelte die junge Frau leise. „Es hatte tatsächlich Kontakt zwischen den Feen und meiner Familie bestanden.“ Neugierig betrachtete sie das Buch und die fremdartigen Lettern, in denen es geschrieben war. „Was steht da drin?“
Kalla beugte sich tiefer über das vor ihr liegende Blatt, um die verblassten Schriftzüge besser erkennen zu können. „Es ist sehr schwer zu entziffern. Wir werden wohl einige Zeit brauchen, um es durchzulesen.“
„Oh“, sagte Dhalia enttäuscht. Irgendwie hatte sie geglaubt, dass sie ein Buch finden würde, in dem die Antworten auf alle ihre Fragen stehen würden. Jedenfalls war das bisher immer so gewesen. Aber bisher waren meine Fragen ja auch sehr viel einfacher gewesen, dachte sie finster. „Wird man dich nicht in der Bibliothek vermissen, wenn du hier unten mit mir bist?“ fragte sie Kalla plötzlich besorgt.
„Nein, nein. Ich habe heute frei“, beruhigte diese sie, während sie einige Seiten überblätterte. „Das ist nur das Vorwort“, erklärte die Bibliothekarin dann, als sie Dhalias fragenden Blick bemerkte.
„Können wir das Buch nicht einfach mitnehmen und Zuhause lesen?“
Erschrocken sah Kalla auf. „Du hast vielleicht Ideen. Diese Bücher dürfen diesen Raum nicht verlassen. Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie gefährlich sie für jeden sind, der sie in den Händen hält? Es ist schon riskant genug, dass wir uns überhaupt hier drin aufhalten.“ Sie neigte sich wieder über das Buch.
Lange Zeit murmelte sie leise vor sich hin und blätterte die Seiten weiter, während Dhalia gelangweilt die Spinnen in den Ecken des Raumes beobachtete. Sie hätte gern etwas mehr getan.
Schließlich blickte Kalla hoch und sagte: „Ich glaube, ich habe etwas gefunden. Ich verstehe zwar nicht alles, aber genug, um den Sinn zu erfassen.“
Sie fuhr mit dem Finger die Zeilen nach, während sie sich bemühte, den Inhalt für Dhalia zu übersetzen. „Vor Tausenden von Jahren hat das gesamte Land, das wir kennen, den Feen gehört. Sie bewohnten hauptsächlich die Wälder zwischen den zwei Gebirgsketten im Osten und Westen des Reiches. Irgendwann waren dann die ersten Menschen über das große Wasser im Osten gekommen und haben sich am Fuß des Gebirges niedergelassen. Die Feen hatte das nicht gestört, als die Menschen anfingen, das Ufer und die Berge zu bevölkern. Doch die Menschen vermehrten sich schnell und binnen weniger Jahrhunderte drangen ihre Niederlassungen tief in das Feenreich hinein. Die Feen konnten also nicht länger die Existenz der Menschen ignorieren. Sie mussten eine Entscheidung treffen, wie sie mit diesem neuen und für sie so fremdartigen Volk umgehen wollten. Es bildeten sich drei starke Gruppierungen heraus, die für sich das Recht beanspruchten, den richtigen Weg zu kennen. Schließlich führte dies zu einer Zersplitterung des Feenvolkes, da keine Seite von ihrer Sichtweise abweichen wollte.
Ein Teil der Feen wollte mit den Menschen überhaupt nichts zu tun haben. Sie suchten sich einen Lebensraum, in den die Menschen ihnen niemals folgen konnten, so dass sie sich nie wieder mit diesem störenden kurzlebigen Volk beschäftigen mussten. Sie machten das Wasser zu ihrer neuen Heimat und brachen jede Verbindung zu der Außenwelt ab. Zwischen den anderen beiden Gruppen wurden heftige Diskussionen geführt, denn jede Gruppe sah den eigenen Weg als den richtigen an, während der andere Weg unweigerlich zur Vernichtung der Feenwelt führen musste.
Ein Teil war den Menschen gegenüber aufgeschlossen. Sie meinten, dass beide Völker voneinander lernen könnten. Aus dieser Intention heraus entstanden die sagenumwobenen Feenhügel, auf denen Menschen und Feen einander begegnen konnten. Später wurden diese Gruppe der Feen ‚Blaufeen’ genannt. Es ist bis heute nicht geklärt, woher sich der Name eindeutig ableitet. Es ist möglich, dass sie von ihren Gegnern so genannt wurden, weil sie den Menschen gegenüber allzu blauäugig und vertrauensselig waren. Der Name kann sich aber auch aus ihrer Gewohnheit ableiten, nachts auf ihren Feenhügeln zu tanzen, wobei ihre Flügel im Mondschein silbrigblau schimmerten.
Doch nur wenige Menschenfamilien nahmen das Freundschaftsangebot der Blaufeen an, was die dritte Gruppierung noch mehr in ihrer Ansicht bestärkte. Sie glaubten, dass die Menschen, die immer weiter in ihr Reich vordrangen, eine ernste Bedrohung für ihr Volk darstellten. Zuerst versuchten sie, Angst unter den Menschen zu verbreiten, ohne eine direkte Konfrontation zu riskieren. Sie ließen die Ernte auf den Feldern verdorren, machten das Vieh und die Kinder der Menschen krank und erschufen die Irrlichter, die die Menschen in Sümpfen und Flüssen in den Tod lockten. Einige Zeit sah es so aus, als hätten sie Erfolg damit, denn die Menschen trauten sich kaum noch in die Wälder und verließen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr die Sicherheit ihrer Siedlungen. Doch schon sehr bald wurde deutlich, dass dies den Vormarsch der Menschen zwar für einige Zeit verzögern, jedoch nicht aufhalten konnte. Und so wurden Stimmen laut, die die gewaltsame Vertreibung der Menschen forderten.
Die Blaufeen wollten davon nichts wissen und drohten, jede Verbindung zu ihren Brüdern abzubrechen, sollten diese einen Krieg beginnen. Doch das vermochte die Dunkelfeen, wie sie im Anschluss an die folgenden finsteren Jahre genannt wurden, nicht umzustimmen. Und so zogen sie in einen blutigen und verlustreichen Krieg gegen die Menschen. Trotz ihrer Magie verloren die Feen langsam, aber sicher den Kampf, denn Feenmagie war ihrem Wesen nach nicht für das Töten geschaffen. Außerdem war ihr gespaltenes Volk den Menschen zahlenmäßig bei Weitem unterlegen. Für jeden gefallenen Menschen kam ein Anderer, um seinen Platz zu ersetzen. Die Reihen der Feen jedoch lichteten sich zunehmend. In ihrer Verzweiflung wandten sie sich Hilfe suchend an ihr Brudervolk, die Blaufeen. Doch obwohl letztere von den Verlusten, die ihr Volk erlitten hatte, tief erschüttert waren, wollten sie nicht in diesen aussichtslosen Kampf hineingezogen werden. Die Bedingung für ihre Unterstützung war der Frieden. Die Menschen aber, die den Sieg nahe wähnten, wollten einen Frieden, der der Versklavung der Feen nahe kam. Das alte und stolze Volk der Feen war am Ende.
Zu dieser Zeit erkannte Lord Damien, ein mächtiger Anführer der Menschen, dass die Geheimnisse der Feen nicht verloren gehen durften. Er bot den Feen seinen Beistand im Kampf gegen seine eigene Rasse an, wenn sie ihm im Gegenzug ihre Welt zeigten und ihn in ihre Geheimnisse einwiesen.
Als die Blaufeen von diesem Bündnis zwischen den Menschen und den Feen erfuhren, beschlossen auch sie, ihrem Brudervolk im letzten Kampf zur Seite zu stehen. Sie glaubten, dass aus dieser Allianz eine dauerhafte und friedliche Verbindung zwischen den zwei Völkern entstehen könnte. Die Dunkelfeen konnten diese Hoffnung nicht teilen. Sie hatten andere Beweggründe, auf diesen Handel einzugehen. Dieses Bündnis stellte für sie letzte Hoffnung dar, denn ohne die Menschen und ohne die Hilfe der Blaufeen wären sie vom Erdboden verschwunden. Doch anders als die Blaufeen hatten sie nicht vor, das Wissen der Feen mit den Menschen zu teilen. Sie willigten ein, Lord Damien bei sich aufzunehmen, wohl wissend, dass die Zeit im Feenreich anders verlief und dass ein Mensch, der das Feenreich betrat, es nicht wieder verlassen konnte – es sei denn, die Feen gestatteten es ihm.
Und so kam es, dass bei der letzten und entscheidenden Schlacht die zwei Feenvölker wieder Seite an Seite stritten und von ihren neuen Verbündeten, den Menschen, unterstützt wurden.
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen schließlich, die menschliche Armee in die Flucht zu schlagen. Von einem Sieg konnte jedoch keine Rede sein. Dafür hatte der Kampf zu viele Opfer gefordert.
Doch zumindest hatte das Volk der Feen seine Grenzen verteidigt und für mehrere Jahrhunderte kehrte nun wieder Frieden ein. Denn die Menschen hatten gelernt, die Grenzen des Feenreichs zu respektieren. Die Feen im Gegenzug verließen nur noch selten ihr Reich und so merkten sie nicht, wie das schnelllebige Volk der Menschen noch größere Stärke als zuvor erlangte, während sich die Feen nur sehr langsam von ihren Verlusten erholten.
Die Feen hatten zu ihrem Wort gestanden und Lord Damien Einlass in ihr Reich gewährt. Während in der Welt der Menschen also die Jahrhunderte vergingen, lernte er die Geheimnisse der Feen kennen und ihre magischen Artefakte zu gebrauchen. Über seinem Interesse für die magische Welt vergaß er aber nicht das Reich der Menschen. Und so ließ er keine Gelegenheit aus, um Neuigkeiten über sein Volk zu erfahren. Wann immer jemand von den Feen das Reich verließ, fragte er ihn nach seiner Rückkehr über alles aus, was er in der Welt der Menschen erlebt haben mochte. Den Feen erschien dieses Interesse an seinem eigenen Volk sehr verständlich. Und obwohl es ihm nicht gestattet war, das Feenreich zu verlassen, erzählten sie ihm bereitwillig alles, was sie über die Menschen wussten. Sie ahnten nicht, dass daraus ein großer Schaden für sie entstehen würde.
Es gelang Lord Damien, eine Schar junger Feen um sich zu versammeln, die sich in der Feenwelt eingesperrt fühlten und denen es nicht gefiel, dass die Menschen langsam anfingen, wieder über ihre Grenzen zu dringen. Nach und nach gelang es ihm, seine jungen Freunde davon zu überzeugen, dass die Feen sich nicht zu verstecken brauchten. Mit ihren Fähigkeiten sollte ihnen die ganze Welt der Menschen zu Füßen liegen. Die jungen Herzen sogen diese Worte bereitwillig auf – sie wollten sich an den Menschen für das, was ihrem Volk angetan wurde, rächen und sie hatten es satt, in ihrer Welt eingesperrt zu sein und tatenlos zuzusehen, wie die Menschen sich immer weiter ausbreiteten.
Mit Hilfe der jungen Feen entkam Lord Damien aus dem Feenreich und nahm viele Artefakte mit, die ihm große Macht unter den Menschen verliehen. Mit dieser Macht und der Magie der ihm gefolgten Feen baute er sich ein neues Königreich auf und festigte es, indem er seine Feenfreunde immer neue Zerstörungsapparate ersinnen und bauen ließ. Er war der erste, der sich den Titel des Herrschers gab. Zunächst er selbst und später seine Erben hatten es sich zum Ziel gesetzt, die gesamte Welt der Menschen zu beherrschen.
Die Feen im Feenreich sahen fassungslos zu, unternahmen jedoch nichts dagegen. Ihr Volk hatte bereits genug gelitten und sie wollten kein weiteres Leid hinzufügen, indem sie gegen ihre eigenen Kinder vorgingen. Außerdem hatten sie das Gefühl, dass die Menschen jedes Recht auf die Hilfe der Feen verwirkt hatten.
Obwohl die Macht Lord Damiens bei den Menschen immer weiter zunahm, fühlte er sich durch die bloße Existenz des Feenvolkes bedroht. Er schickte seine eigenen Anhänger unter den Feen auf einen weiteren Eroberungszug in einen entfernten Teil des Reiches und stellte indessen eine Menschenarmee auf, mit der er das Feenreich zu überfallen gedachte. Der Angriff war kurz und gnadenlos. Unter dem Vorwand, ein Gespräch mit den Feen zu suchen, drang er in ihr Reich ein. Die meisten der Alten Geschöpfe wurden erbarmungslos mit ihren eigenen, von Menschen und Feen für das Töten verbesserten Artefakten niedergemetzelt. Die kleinen Feenkinder nahm der König jedoch mit. Da die Zeit außerhalb des Feenreichs für Menschen und Feen gleich schnell verläuft, waren ihre Lebensdauer und ihr Gedächtnis ohne die schützende Magie von ebenso kurzer Dauer wie die der Menschen. Er hoffte, mit der Zeit eine ihm und seinen Erben treu ergebene magische Elitearmee aufbauen zu können, die nichts über ihre Herkunft wusste.
Er selbst hätte das Feenreich gerne erobert, um die Welt aus der Sicherheit der Unsterblichkeit, die es verlieh, zu regieren. Doch eine Handvoll der Alten Feen, die seinen Anschlag überlebt hatten, versiegelten ihr Reich gegen die Welt der Menschen, mit denen sie nichts mehr zu tun haben wollten. Sie machten sich selbst zu Gefangenen in ihrer immer kleiner werdenden Welt.
Als die Feenschar des Herrschers von ihrem Eroberungszug zurückkehrte, mussten sie erfahren, dass sie für den Untergang ihres Volkes verantwortlich waren. Manche brachen unter dieser Schuld zusammen, Andere versuchten einen letzten verzweifelten Aufstand. Doch so oder so war ihre Existenz eine Generation später fast völlig vergessen.
So also ging das mächtige und stolze Volk der Feen unter – durch Uneinigkeit und übermäßiges Vertrauen in die menschliche Rasse. Und die letzten Nachkommen der Feen sind zu Sklaven der Menschenkönige geworden. Nie wieder hat ein Mensch eine der Alten Feen zu Gesicht bekommen – und das ist wahrscheinlich unser größter Verlust.“
Kalla blickte auf. Das Licht der Laterne flackerte, sie war beinahe ausgebrannt.
Dhalia hatte Angst sich zu regen, um die Aura der Ehrfurcht, die sie bei der Erzählung überkommen hatte, nicht zu zerstören. Sie bemerkte, dass ihre Kehle vor Anspannung und Ergriffenheit ganz zugeschnürt war, und musste schlucken, bevor sie etwas sagen konnte. „Hast du das gewusst?“, brachte sie schließlich leise hervor.
Die Bibliothekarin schüttelte stumm den Kopf. „Kein Wunder, dass dieses Buch verboten wurde“, sagte sie dann. „Ich hatte ja keine Ahnung.“
„Weißt du, aus welcher Zeit diese Aufzeichnung stammt?“
„Ich schätze, der Bericht müsste rund fünfhundert Jahre alt sein. In dieser Zeit ist das Große Reich entstanden, als der erste Herrscher anfing, die umliegenden Länder zu erobern.“
„Bis sie schließlich zu uns kamen“, fügte Dhalia grimmig hinzu.
Kalla nickte stumm.
Neugierig beugte Dhalia sich wieder über das Buch. Der Schein der Lampe wurde immer schwächer – sie mussten sich beeilen. „Steht hier noch mehr? Gibt es einen Weg, die letzten Feen zu finden?“
Kalla blätterte vorsichtig weiter. Die Seiten waren leer. Bedauernd wollte sie schon den Buchdeckel zuklappen, als Dhalias Hand vorschoss und sie am Handgelenk packte. „Blätter mal zurück. Ich glaube, da war etwas!“ Hastig schlug die junge Frau selbst die Seiten zurück und zog ein kleines Blatt Papier zwischen den Seiten des Buches hervor. Neugierig faltete sie es auseinander. Es war in derselben Handschrift beschrieben wie die Seiten des Buches. Unter dem Text hatte der Autor noch eine kleine Skizze angefertigt.
Kalla nahm das Blatt aus Dhalias Hand und hielt es nah an die fast erloschene Lampe. „Das ist eine Anmerkung, eine Art Notiz. Wahrscheinlich hatte dein Vorfahr dies später in sein Buch aufnehmen wollen, ist aber nicht mehr dazu gekommen. Hier steht: Ich habe mein Leben lang versucht, das Feenreich zu finden. Bisher ist es mir nicht gelungen. Alles, was ich herausgefunden habe, ist, dass man die vier Elemente der Feenmagie zusammenbringen muss, um den Weg ins Feenreich zu öffnen. Nur sie gemeinsam sind stark genug, das magische Siegel zu überwinden, das das Feenreich von dem unseren trennt.“
„Was ist das für eine Skizze?“, fragte die junge Frau neugierig, die den Zettel in der Hand ihrer Freundin aufmerksam betrachtet hatte.
„Ich bin mir nicht sicher. Darunter steht nur ein Wort: Erde.“ Die ältere Frau wollte den Zettel schon zurück an Dhalia reichen, als sie plötzlich innehielt. Sie sah sich die Skizze genauer an. „Das kann doch nicht sein … Aber die Ähnlichkeit ist verblüffend … Allein schon die Form des Hügels …“, murmelte sie vor sich hin, während sie alle Einzelheiten der kleinen Zeichnung in sich aufnahm.
„Weißt du, was das ist?“, fragte die junge Frau aufgeregt.
„Ich bin mir nicht ganz sicher, doch es sieht aus wie die Höhlen von Marterim.“
„Die Höhlen von Marterim? Meinst du etwa die Stadt Marterim im Süden?“
„Genau die. In der Nähe der Stadt gibt es sehr alte Höhlen. Ich bin in einem Dorf dort ganz in der Nähe aufgewachsen“, fügte Kalla erklärend hinzu.
„Und was ist so besonders an diesen Höhlen?“
„Wie schon gesagt, ich habe dort in der Nähe gewohnt. Alle haben diese Höhlen gemieden. Es hieß, sie wären ein unseliger Ort, ein Feenort. Ich weiß noch, dass es uns als Kinder streng verboten gewesen war, auch nur in die Nähe der Höhlen zu gehen. Natürlich haben wir uns nicht daran gehalten, doch näher als auf dieser Skizze haben wir uns niemals herangetraut.“
Dhalia nickte stumm. Es war immerhin ein Anfang. „Weißt du, was das Wort Erde unter der Skizze zu bedeuten hat?“
„Vielleicht ist es eine Anspielung auf die vier Elemente der Feenmagie.“
„Die vier Elemente? Du meinst: Erde, Feuer, Wasser und Luft?“
„Es ist denkbar. Vielleicht haben die Höhlen etwas mit dem Element Erde zu tun. Doch was genau mit dem Hinweis gemeint sein könnte, kann ich dir nicht sagen.“
„Nun, ich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Copyright: Elvira Zeißler
Bildmaterialien: Casandra Krammer, Elvira Zeißler
Cover: Casandra Krammer
Lektorat: M. Grundmann
Tag der Veröffentlichung: 18.02.2012
ISBN: 978-3-86479-876-4
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