~Das fünfte Zeitalter~
Das Auge von Vinosal
René Pöplow
Für meine Onkel Werner, Dieter und Peter.
Hermann Hesse schrieb einst: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Mit dem Ende des Lebens, fängt die Erinnerung an.
So geben wir uns nun dem Zauber der Erinnerungen hin.
Gewidmet
Meiner Schwester Christine
Du hast mich von Anfang an unterstützt. Egal was ich auch gemacht habe, egal was für Entscheidungen ich getroffen habe, du hast immer zu mir gehalten. Es ist nicht schwer jemandem beizustehen wenn er auf Erfolgskurs segelt. Doch es erfordert wahre Treue jemandem beizustehen der, entgegen jeder Vernunft, immer nur seinem Herzen folgt. Mehr als einmal hat mein Herz meinen Kopf überlistet. Vielleicht war nicht jede Entscheidung in meinem Leben richtig, doch sie hat mich zu dem gemacht was ich bin. Danke, dass du mich dabei unterstützt hast.
René Pöplow, geboren 1980 in Hannover.
„Das Auge von Vinosal“ ist als Auftakt einer neuen Reihe gedacht. Obwohl es ein Teil der Welt Berrá ist wird hier dem Leser die Möglichkeit gegeben in die Geschichte einzutauchen, ohne dafür zwingend die Chroniken kennen zu müssen.
Schon seit Band 1 „Blutlinie der Götter“, wollte ich eine Geschichte über den geheimnisvollen Heimatkontinent der Elfen erzählen. Dass es tatsächlich sieben Jahre dauern würde die Ideen dafür umzusetzen war damals nicht ersichtlich. Aber ich wollte nichts übereilen. Also beendete ich zuerst die Geschichten der Völker von Obaru, um mich dann voll und ganz den Elfen von Berrá widmen zu können. Mit „Das fünfte Zeitalter“ wird ein völlig neues Kapitel aufgeschlagen. Im ersten Teil will ich euch erzählen was alles auf Vinosal geschehen ist während auf Obaru der Krieg tobte. Ich habe viel Zeit gebraucht, um die Ereignisse in eine sinnvolle und chronologisch passende Erzählung zu bringen. Und als ich dann schließlich das letzte Kapitel von „Das Auge von Vinosal“ beendete wurde mir klar, dass es richtig war so lange mit diesem Buch zu warten.
Ich hoffe sehr, dass ihr es ebenso seht und wünsche euch nun viel Vergnügen mit den Elfen aus Berrá.
Deutsche Erstauflage 2018
© René Pöplow
Sämtliche Rechte liegen beim Autor.
Illustrationen & Autorenfoto: Sarah Bergmann
Ähnlichkeiten mit toten oder noch lebenden Personen, sowie geschichtlichen Ereignissen sind Zufall und vom Autor nicht beabsichtigt.
Unerlaubte Vervielfältigung, Verletzungen gegen das Urheberrecht oder das Verwenden von Buchinhalten zu unautorisierten Zwecken werden vom Rechteinhaber zur Anzeige gebracht.
Informationen über die Berrá Chroniken und andere Buchprojekte des Autors finden Sie unter www.elrikh.de
Es gibt viel zu sagen. Und dennoch weiß ich nicht wo ich anfangen soll. So lasst mich versuchen meine Gedanken in einfache Worte zu fassen. Es ist fast 10 Jahre her, seit ich die ersten Zeilen der Berrá Chroniken niederschrieb. 10 Jahre in denen viel passiert ist. Ich war schon seit meiner Kindheit ein Träumer. Und das bin ich auch heute noch. Außerdem bin ich ein Idealist. Und diese Kombination dürfte maßgeblich dazu beitragen, dass ich immer noch Self Publisher bin. Sicherlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass studierte Literaturwissenschaftler und Schriftsteller mir einiges voraus haben, wenn es um das notwendige Handwerkszeug geht, welches einen Roman entstehen lässt. Aber kein Literat kann mir nehmen was in meinem Kopf schlummert. Ich war schon immer ein Autodidakt. Schlagzeug, Gitarre, Kochen, Schreiben… Mir hat niemand jemals etwas beigebracht. Vielleicht tue ich diese Dinge deshalb mit Leidenschaft aber ohne Qualifikation. Ohne Ausbildung. Ohne Studium. Vielleicht wäre es klug gewesen ein paar Türen im Leben zu öffnen und andere dafür geschlossen zu halten. Aber ich bin was ich bin und das kann ich nicht ändern. Meine Geschichten sind Ausdruck meiner persönlichen Fantasie und meiner Erfahrung. Mit ihnen möchte ich im Gedächtnis der Menschen bleiben. Und wenn du zu denen gehörst, die das hier gerade lesen, dann gehörst du zu denen die bereit waren meiner Geschichte eine Chance zu geben. Dafür danke ich aus ganzem Herzen. So will ich nun deinen Geist mit Bildern der Freude füllen. Aber auch mit Bildern der Angst, des Zorns, der Verzweiflung und der Romantik. Lass alles andere jetzt hinter dir. Willkommen in Berrá.
Auch wenn sich immer noch viele Geheimnisse um sie ranken, ist das Volk der Elfen weitestgehend bekannt. Eines ist jedoch immer schon ein wesentlicher Aspekt im Charakter dieser mächtigen Rasse gewesen. Ihre Friedfertigkeit. Selbst ihren besiegten Feinden gegenüber haben die Spitzohren immer bedeutend mehr Gnade entgegengebracht als sie sie selbst erfahren hätten. Dies ist einer der entscheidenden Wesenszüge, welcher sie von ihren Artverwandten unterscheidet. Doch es wäre falsch anzunehmen, dass Elfen keinerlei Groll verspüren würden. Wut, Zorn, ja sogar Hass, sind ihnen durchaus vertraut. Jedoch sind sie in der Lage ihre Gefühle zu beherrschen und sich auf das Wesentliche einer Situation zu konzentrieren. Mitunter werden den Elfen Fähigkeiten angedichtet die es an dieser Stelle zu relativieren gilt. Elfen können nicht schweben. Sie verstehen es lediglich keine Fußspuren zu hinterlassen, wenn sie es denn darauf anlegen. Ferner entspricht es nicht der Wahrheit, dass sie weder schwitzen, noch frieren. Genauso wie die Menschen, sind auch Elfen vor den Elementen nicht geschützt. Allerdings verfügen sie auch hier über eine angeborene Gabe, welche es ihnen erlaubt sich besonders heißen und kalten Witterungen auszusetzen, ohne gleich davon in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Doch diese Eigenschaft ist keinesfalls endlos. Vielmehr bedarf es Disziplin und einer besonderen Meditationstechnik, damit diese Gabe nutzbar wird.
Schattenelfen, oder auch Schattenkinder genannt, sind emotionaler als ihre Artverwandten. Das heißt nicht zwangsläufig, dass sie deswegen gnadenloser sein müssen, doch meistens trifft dies leider zu. Schattenkinder haben ihren Ursprung in einer der ersten Hochelfen-Familien und sind stolz auf ihre Wurzeln. Gnade, Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit, sind Eigenschaften die man ihnen nur äußerst selten zuschreiben kann. Schattenkinder denken zuerst an ihr eigenes Wohl und sehen in ihrem Volk die auserwählte Rasse des Göttervaters. Dabei geht es ihnen nicht darum die anderen Völker zu regieren. Dafür empfinden sie Menschen, Zentauren, Trolle oder auch die Elfen des Westens, als zu unwichtig. Einige sehen in den soeben genannten nicht mehr als Störenfriede. Ungeziefer die die Reinheit ihres Volkes und deren Heimat bedrohen. Schattenelfen sind in jeder Hinsicht überdurchschnittlich. Ihre Wesenszüge können sowohl von einer unendlichen Selbstbeherrschung, als auch von einer unstillbaren Rachsucht geprägt sein. Äußerlich unterscheiden sich Schattenkinder von den Elfen hauptsächlich durch ihre auffällige Pigmentierung, welche über Stirn und Schläfen, bis über den Rücken hinunter zum Steißbein verläuft. Meistens werden diese Flecken mit fortschreitendem Alter größer und dunkler. Aber auch was die typischen Augen- und Haarfarben betrifft, sind die Schattenkinder deutlich „extremer“. Schwarze Haare, schwarze Augen, blasse bis weiße Haut, sind zwar nicht alltäglich, aber durchaus vorkommend bei dieser Rasse. Wer jemals in der Situation sein sollte mit einem Schattenelfen zu verhandeln sollte niemals vergessen, dass sie mindestens so schön wie gefährlich sein können.
Eines gilt für beide Rassen. Sowohl Elfen als auch Schattenkinder sind Meister des Kampfes. Verwurzelt in der Tradition ihrer Völker, gehört die Kampfkunst zu ihrem Wesen. Egal, ob mit Schwert, Speer, Bogen oder den bloßen Händen, die Spitzohren kämpfen bis zum Sieg oder ihrem Tod. Letzteres wird jedoch keinesfalls leichtfertig in Kauf genommen. Beide Elfenarten wissen um die Kostbarkeit ihrer Seelen. Durch die vielen Lebensjahre hat sich im Geiste der Unsterblichen großes Wissen und große Weisheit angesammelt. Durch den Tod geht dieses Wissen jedoch unwiederbringlich verloren. Außerdem sind Neugeborene bei den Elfenvölkern seltener zu sehen, als dies bei den Menschen der Fall ist. Elfen gehen eine Verbindung nur mit Bedacht ein und pflanzen sich auch nur in einer solchen fort. Dies macht ihre Nachkommen umso wertvoller.
Schattenkinder sehen in der vermeintlich wahllosen Vermehrung der Menschen eine Plage, welche sie mit einer Überschwemmung gleich setzen. Und genau hier zeigt sich die verborgene Angst der Elfenvölker. Obgleich sie den meisten anderen Rassen in fast jeder Hinsicht überlegen sind, fürchten sie deren unkontrollierbare Entwicklungen. Auf jedes Elfenkind, welches das Licht der Welt erblickt, kommen eintausend Menschen. Das wahllose Paarungsverhalten und die wilde Kultur der Menschen sind die wahren Gründe, wegen derer die Elfenvölker um ihre Zukunft fürchten. Doch niemand von ihnen würde diese Sorge laut aussprechen. Denn als reine Wesen und jüngste Schöpfung des Göttervaters Zinakyl, sehen sie ihre uneingeschränkte Vorherrschaft und Überlegenheit als das Erbe ihrer Ahnen und kommenden Generationen.
Viele Jahre sind bereits seit dem letzten Krieg der Elfen vergangen. Zuletzt kämpften sie im Trollkrieg des dritten Zeitalters an der Seite der Menschen. Das kostbare Blut ihrer Soldaten war ein hoher Preis für den Frieden. So beschlossen sie, sich nach dem Sieg über die Riesen, für immer von den anderen Völkern abzuwenden. Ihre Reinheit sollte wieder zur unverfälschten Blüte gelangen. Doch nun scheint die Zeit gekommen, dass alte Bündnisse wieder aufgenommen werden.
Kumar tätigte die letzten Handgriffe, um die Umzäunung des Weidegrundes seines Viehs zu reparieren. Die Abenddämmerung würde gleich Einzug halten und die Landschaft in einen rosigen Schleier tauchen. Ein zerrissener Wolkenstreifen schwebte über dem fernen Horizont und diente der heraufziehenden Nacht als Vorbote. Der Bullenzüchter und seine Familie waren fast einen ganzen Monat fort gewesen. Fern vom eigenen Grund lebten sie in einer Gaststätte nahe der Stadt Inaros, um sich dort vor ein paar plündernden Seeräubern in Sicherheit zu bringen. Nachdem Entwarnung gegeben wurde waren sie sofort in ihr Haus in der Barinsteppe zurückgekehrt, um nachzusehen was alles von den Räubern gestohlen oder zerstört wurde. Zu seiner Überraschung hatte Kumar keinerlei Anzeichen für Brandschatzung finden können. Weder wurde das Haus aufgebrochen, noch wurden die Vorräte im Lagerhaus angerührt. Anscheinend waren die Banditen nicht so weit in die Steppe vorgedrungen. Vor ihrer übereilten Flucht hatte er seine beiden Söhne, Ralepp und Vahin, angewiesen alle Tiere freizulassen die in den Ställen und Zwingern eingesperrt waren. Lieber sollten sie fortlaufen und versuchen in der Wildnis zu überleben, als eingesperrt zu verhungern. Zum Erstaunen der ganzen Familie waren bei ihrer Rückkehr alle Tiere nahe des Gutes zu finden. Einige hielten sich sogar innerhalb der Umzäunung auf. Anscheinend wussten sie, dass sie hier am besten aufgehoben waren.
Ein paar stürmische Nächte und die Kraft eines übergroßen Zuchtbullen, hatten Teile des hölzernen Weidezaunes in Mitleidenschaft gezogen. Bevor er sich seiner wohlverdienten Abendruhe widmen konnte wollte Kumar das Gatter reparieren, damit sich am Ende nicht doch noch einige seiner Tiere für ein Leben ohne Zaun begeistern konnten. Liebevoll tätschelte er im Vorbeigehen den Rücken seines treuen Hornbullen „Stampfer“. Stampfer war das älteste unter den Tieren des Gehöfts. Kumar und seine Frau Ibana hatten es nicht übers Herz gebracht ihn zu verkaufen nachdem seine besten Jahre vorbei waren. Er war ihr erstes eigenes Tier und sorgte im Laufe der Jahre für einigen Nachwuchs. Außerdem war er ungewöhnlich zahm für einen Hornbullen. Die Kinder der gesamten Steppe kamen manchmal zu Besuch, um auf ihm zu reiten. Selbstverständlich war Kumar immer dabei wenn dies geschah. Denn aller Zahmheit zum Trotz, war Stampfer ein Tier mit der Kraft von zwanzig Männern und der Unberechenbarkeit einer Honigfee. Genauso wie diese kleinen Geschöpfe ihren Schabernack mit jedermann trieben, indem sie Menschen mit dem süßen Duft des Honigs lockten und ihnen dann farblosen Moosflechtenschleim zum Naschen niederlegten, war Stampfers Stimmung manchmal schlecht einzuschätzen. An guten Tagen konnten Dutzende von Kindern auf ihm reiten und sogar an seine leicht gedrehten langen Hörner fassen. An anderen Tagen wiederum schüttelte er jeden ab, der sich an ihm zu schaffen machen wollte. Für Kumar war das ein Zeichen von Charakter. Vielleicht mochte er den Hornbullen deswegen so sehr. Von Freunden wurde der Familienvater stets etwas aufgezogen, wenn es um die Abstammung von Stampfer ging. Nicht nur, dass er kräftiger gebaut war als so manch anderer Bulle. Er verfügte außerdem über eine recht ungewöhnliche Fellfarbe. Einige machten sich daraus einen Spaß und behaupteten, dass Kumar einen Waldoger als Deckbullen eingesetzt hatte um Stampfer zu züchten. Diese neckischen Bemerkungen überhörte er aber inzwischen.
Während er dabei war das Gatter zu schließen ergriff eine seltsame Unruhe von ihm Besitz. Kumar war sich nicht sicher, aber ihm war so als würde sich ein Schatten durch eines der Gebüsche zu seiner Linken bewegen. Als er den Kopf drehte meinte er jemanden in Deckung springen zu sehen. Doch er vernahm kein Geräusch. Auch Stampfer verhielt sich ganz ruhig. Der Hornbulle hatte sehr feine Sinne für Gefahr. Würde ein wildes Tier in der Dunkelheit lauern, hätte er schon damit begonnen ein paar Grunzlaute auszustoßen. Kumar blieb noch eine Weile stehen und blickte in die Finsternis, welche langsam Einzug hielt. In ein paar Minuten würde auch das letzte Tageslicht verschwunden sein.
„Wahrscheinlich nur der Wind, der sich in den Sträuchern gefangen hat“, sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Bullen.
Diese ganze Geschichte mit den Räubern hat mich wohl ein bisschen überängstlich werden lassen. Es wird Zeit mir ein wenig Ruhe zu gönnen.
In dem Moment, in dem Kumar sich umdrehte und seinem Haus zuwandte, war er sich jedoch ganz sicher eine Gestalt auf dem Dachgiebel der angrenzenden Scheune auszumachen. Sofort nahm er die Axt, welche neben dem Spaltblock lag, in die Hand und rannte los.
Die Banditen sind zurück! Ihr plündernden Taugenichtse werdet euer blaues Wunder erleben wenn ihr Hand an meine Familie legt!
Gerade wollte er dem Fremden, der sich nun seinem Haus näherte etwas zurufen, um ihn davon abzuhalten seiner Familie zu nahe zu kommen, als er in seinem Lauf gestoppt wurde. Jemand packte ihn von hinten und zog ihm die Beine weg. Kräftige Hände drückten den Bauern zu Boden und entwaffneten ihn schneller als er Luft holen konnte.
„Bleib ruhig liegen und rühr dich nicht! Ich bin hier um zu helfen“, flüsterte eine melodiöse männliche Stimme in sein Ohr.
Für Kumar ging alles zu schnell um zu begreifen was los war.
„Was soll das? Wer seid ihr und was wollt ihr?“
Mit der Kraft der Verzweiflung bäumte er sich auf, wurde jedoch sofort wieder zu Boden gedrückt.
„Keine Zeit für Erklärungen. Sag mir wo deine Frau und deine Söhne sind. Sofort!“
Panik und Angst machten sich in Kumar breit. Diese Fremden wollten seiner Familie etwas antun. Er konnte es spüren.
„Wenn ihr sie anrührt, werde ich euch eigenhändig erwürgen, ihr Bastarde! Verschwindet von meinem Grund und Boden und lasst uns zufrieden!“
Der vermeintliche Angreifer erhob sich mit einer schnellen Bewegung und drehte Kumar auf den Rücken. Im schwachen Licht der Dämmerung konnte dieser nur einen Umriss erkennen, der vor ihm stand. Schnell erhob er sich und griff nach der Axt die am Boden lag. Sein Gegenüber vollführte jedoch einen Schritt nach vorne und schlug ihm blitzschnell auf das Handgelenk. Ehe er wusste wie ihm geschah, hatte der Unbekannte ihn erneut im Schwitzkasten und verstärkte diesmal den Druck ein wenig.
„Wo ist deine Familie, du Narr?“ ertönte die Stimme dieses Mal etwas drängender. „Ich bin nicht hier, um jemanden zu schaden. Ich will euch vor einer großen Gefahr beschützen. Also wo sind sie?“
In diesem Augenblick tauchten hinter der Schattengestalt zwei weitere Personen auf und deuteten auf das Haus.
„Da! Sie sind bereits hier. Wir müssen uns beeilen!“
Kumars Gedanken rasten nur so durch seinen Kopf.
Wer ist hier? Was zum Henker soll das alles? Was wollen diese Fremden von mir und meiner Familie?
Noch ehe er seine Fragen stellen konnte rannten der Schattenmann und einer seiner Begleiter auf das Haus der Familie zu. Der dritte wandte sich kurz an Kumar und verhieß ihn sich nicht zu rühren und keinen Laut von sich zu geben. Dann rannte auch er in Richtung des Hauses. Wie in einem bösen Traum versagten dem verängstigten Vater und Ehemann die Beine, als er daran dachte was mit seiner Familie passieren würde, wenn diese Gestalten sie in die Finger kriegten. Ein Schrei seiner geliebten Ibana ließ ihn aus der Starre erwachen und zum Haus hinüber rennen. Obwohl er den ganzen Tag schwer gearbeitet hatte und bis vor einigen Augenblicken so müde war, dass er kaum noch stehen konnte, rannte er als wäre ein Steinlöwe hinter ihm her. Es scherte ihn nicht, dass er keine Waffe am Leibe trug um gegen die Eindringlinge vorzugehen. Am wichtigsten war, dass er zu seiner Familie kam. Als er keine zwanzig Schritt mehr vom Haus entfernt war, blieb er wie versteinert stehen und war trotz jeder Gefahr unfähig sich von dem Schauspiel, welches sich ihm bot abzuwenden. Er traute seinen Augen kaum als er sah, wer es da auf ihn und seine Sippe abgesehen hatte. Nur gut ein Dutzend Schritt von ihm entfernt, kämpften Krieger des Elfenvolkes miteinander. Kumar brauchte eine Weile um zu erkennen wer auf welcher Seite stand. Offenbar bestand die eine Gruppe aus den drei Elfen die ihn im Dunkeln überwältigt hatten. Zwei von ihnen kämpften gegen drei andere Elfenkrieger, die in schwarze Gewänder gehüllt waren und die im Gegensatz zu ihren Gegnern nicht nur mit einem Kurzschwert bewaffnet waren, sondern außerdem noch jeder einen Dolch im Kampf benutzen. Seine menschlichen Augen waren kaum in der Lage den übernatürlich schnellen Bewegungen der Krieger zu folgen. Es hätte ebenso gut sein können, dass sie miteinander tanzten. Lediglich das Aufblitzen der Klingen verriet Kumar, dass sie miteinander kämpften. Der Klang von feinstem Stahl, der aufeinander geschlagen wurde und das Aufblitzen von kleinen Funken, offenbarte mit welchem Geschick diese Krieger ihre Waffen führten. Schlagartig dachte er an den Schrei seiner Ehefrau zurück und stürmte auf den Hauseingang zu. Noch im Lauf konnte der die Schattenumrisse zweier Elfen im Haus ausmachen, die offenbar miteinander rangen. Er stürmte durch die Tür und sah Ibana blutend auf dem Boden ihres Heimes liegen, mit dem Gesicht nach unten und unter dem schweren Eichentisch begraben. Ohne zu überlegen oder auf die beiden Kämpfenden zu achten, stürzte er in das Haus und befreite den leblosen Körper seiner Liebsten. Als er sie umdrehte, schaute sie ihn aus dämmerigen Augen an und hustete dabei Blut. Sie versuchte etwas zu sagen, bekam allerdings kein Wort zustande. Verzweifelt suchte Kumar nach einem Weg ihr Leben zu retten und bemerkte die blutende Wunde die seitlich an ihrem Brustkorb verlief. Die Mörder hatten ihr mit einem tiefen Dolchstoß die Lunge durchbohrt. Der Mensch war fassungslos. Noch vor wenigen Augenblicken war sein einziger Wunsch ein heißes Bad und ein gutes Essen gewesen. Er hatte sich darauf gefreut den Abend mit seiner Familie zu verbringen und mit seiner Frau vorm Kamin zu liegen. Er wollte ihr Haar riechen und dem Klang ihrer wunderschönen Stimme lauschen. Doch innerhalb von ein paar Herzschlägen hatte sich alles verändert. Blutüberströmt lag sein geliebtes Weib in seinen Armen und hauchte ihren letzten Atemzug aus.
„Es tut mir leid“, war alles was Kumar über die Lippen bekam. „Es tut mir leid. Ich war nicht hier um dich zu beschützen.“
Noch während er seine Frau in den Armen hielt und ihren Kopf an seine Brust drückte, verließ sie ihr Lebensfunke. Es war ein langsamer und grausamer Tod gewesen. Das weiße Kleid, welches er ihr im letzten Sommer auf dem Fest in der Stadt gekauft hatte und das sie im Augenblick ihres Todes trug, hatte die Farbe ihres vergossenen Blutes angenommen. Immer noch spürte er die Wärme ihrer Hände auf den seinen. Es war als würde sie nur tief schlafen und jeden Moment wieder aufwachen. Doch ein Blick auf ihre schwere Wunde und das blutige Kleid ließ diese Illusion zerplatzen.
Er wusste nicht wie lange er auf dem Boden gekauert hatte und den Leichnam seiner toten Frau in den Armen hielt, als einer der Elfen ihn an den Schultern packte und aus der Trauer riss. Kumar blickte auf und sah in die Augen des Kriegers. Dessen Lippen bewegten sich, doch es kamen keine Worte aus seinem Mund. Der Mensch hatte nur noch den Wunsch den Eindringling mit bloßen Händen zu erdrosseln. Mühsam kämpfte er sich auf die Beine und streckte sich dem Elfen entgegen.
„Mörder. Ihr verfluchten Mörder. Ihr habt sie getötet! Ihr habt meine Frau getötet, ihr Mörder!“
Der Elfenkrieger wich den ungestümen Händen des Menschen aus und brachte ihn schnell, aber schmerzlos zu Fall. Kumar weinte Tränen der Verzweiflung. Ihm war seine geliebte Frau genommen worden. Was hatte er getan um die Götter derart zu erzürnen? Welchen Frevel hatte er denn begannen, der dies alles rechtfertigte? Noch völlig von seiner Trauer eingenommen, vermochte Kumar nicht an seine Söhne zu denken. Erst nachdem ihm die Kraft fehlte noch weiter zu klagen, erschien ihm ein Moment der Klarheit.
Ralepp und Vahin. Meine Söhne, wo seid ihr?
Plötzlich war die Trauer um seine Frau der Angst um seine beiden jüngsten Söhne gewichen. Mit Wut in der Stimme und vor Zorn leuchtenden Augen wandte er sich dem Elfenkrieger zu.
„Wo sind meine Söhne? Warum habt ihr uns das angetan, ihr Schweine? Was wollt ihr von uns?!“
Die leeren Augen, welche ihm entgegenblickten, wirkten kalt und herzlos. So als würde sein Schmerz sie amüsieren, sahen die Krieger ihn an. Es war Kumar nicht möglich seine Beherrschung zu wahren. Die Furcht, dass seinen Söhnen etwas passiert sein könnte, versetzte ihn erneut in eine hilflose Starre. Es erschien ihm, als ob die ganze Welt in sich zusammenbrechen würde. Sein ältester Sohn Alkeer war schon lange verschwunden. Nun war seine geliebte Ibana tot und er wusste nicht was mit seinen beiden Jüngsten war. Sein ohnehin schon von der Arbeit gebeutelter Körper, forderte nach all dem seinen Tribut. Kraftlos und ohne noch ein Wort über die Lippen zu bekommen, versank Kumar in eine erlösende Ohnmacht.
Elynos wandte sich von dem bewusstlosen Menschen ab und blickte auf dessen tote Frau.
Wir waren zu spät. Diese Schuld wird auf ewig in meinem Herzen sein. Ich flehe dich an, Zinakyl, lass die Söhne dieses Mannes den hinterhältigen Anschlag der Verblendeten überlebt haben.
Er wusste, dass jetzt nicht die Zeit für Selbstvorwürfe war. Dennoch nagte die Schuld des Versagens an ihm. Immer wieder betete er im Stillen das die jungen Menschen noch am Leben waren. Er musste sich mit der Suche beeilen. Sollten noch mehr Meuchler geschickt worden sein, hätten sie die Jungen vermutlich schon gefunden.
„Bindet dem Menschen die Hände und setzt ihn auf ein Pferd! Ich will nicht, dass er sich in seiner Trauer selbst verletzt. Und Melyna soll ihn mit einem Schlafzauber belegen. Er muss seinen Geist ausruhen nach all dem was er gesehen hat.“
Elynos Gefolgsleute versammelten sich um ihn. Es waren vier der tapfersten Krieger, mit denen er je Seite an Seite gekämpft hatte. Lange Zeit hatten sie einander nicht gesehen. Und für Elfen ist dieser Begriff wirklich von großem Ausmaß. Von seinen Herrschern hatte er keine Unterstützung bei der Rettung der Menschenfamilie erhalten. Sie wollten eine Konfrontation mit den Schattenkindern um jeden Preis vermeiden. Diejenigen, die ihn nun begleiteten, standen schon seit vielen Jahrhunderten an seiner Seite, wenn er ihrer Hilfe bedarf. Seitdem er als Botschafter in die Welt der Menschen gereist war, dachte er jeden Tag an seine alten Gefährten, mit denen er so manches Abenteuer bestanden hatte. Sein Freund Befay, den er seit Kindesalter her kannte. Kaum einer konnte den Wirbel der Klingen so eindrucksvoll vollführen wie er. Eigentlich wurde er zum Posten des Schwertmeisters auf Vinosal berufen. Befay hingegen schätzte seine Freiheit und wurde somit so etwas wie ein Berater der königlichen Armee. Als Elynos nach ihm schicken ließ, zögerte er keine Sekunde um seinem alten Waffenbruder zu Hilfe zu kommen. Mit sich brachte er die Geschwister Lathivar und Insani. Beides hervorragende Bogenschützen und Fährtensucher. Allerdings konnte es sich Insani nicht nehmen lassen ihren Bruder gelegentlich herauszufordern um zu beweisen, dass sie die bessere Schützin war. Die Fünfte im Bunde war Melyna. Obwohl auch sie eine beeindruckende Kriegerin war, bestand ihr eigentliches Talent in der Ausübung von Magie. Sie war eine der Bewahrerinnen der alten Elfenkristalle gewesen. Jedoch weigerte sie sich der Tradition zu folgen und bis in alle Ewigkeit eine Tempelpriesterin zu sein. In ihr lockte stets der Ruf des Abenteuers. Melyna kämpfte im großen Trollkrieg und tötete dort etliche von Gegnern mit einer einzigen magischen Geste. Seit diesem Erlebnis schwor sie sich nie wieder von dieser Magie Gebrauch zu machen. Sie konnte beim beschwören des Zaubers die sterbenden Seelen der Trolle in ihrem Kopf hören. Das wollte sie nie wieder erleben. Seit dieser Zeit setzte sie ihre Magie nur noch ein, um zu heilen oder um eine Geistwanderung zu unternehmen. Elynos wusste, dass es seinen Freunden nicht leicht gefallen war, gegen die Ordnung der Herrscher zu verstoßen und mit ihm zu reisen. Umso größer war seine Angst, einer von ihnen könne Schaden nehmen auf dieser Mission. Er hatte heute zum ersten Mal einen Elfen getötet. Die Tatsache, dass es sich dabei um eines der Schattenkinder handelte, änderte nichts an seinen gemischten Gefühlen. Einen bösartigen Feind im Krieg zu töten war eine Sache. Aber gegen Kinder des Göttervaters zu kämpfen, stand im Gegensatz zu allem was er in sich selbst sah. Doch nun war nicht die Zeit um über Taten nachzudenken, die nicht wieder rückgängig zu machen waren. Jetzt galt es die Menschenkinder zu finden. Mit neuer Entschlossenheit blickte er seine Gefährten an.
„Lathivar. Du wirst mit dem Mensch voraus reiten und dafür Sorge tragen, dass er unbeschadet zur Küste gelangt! Insani begibt sich in den Wald und sucht die beiden Menschenkinder. Die Nacht bricht bereits herein und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich so lange draußen herumtreiben dürfen.“
Mit einem mitleidigen Blick sah er zum Körper der toten Mutter.
Wie soll ich ihnen bloß erklären was hier passiert ist? Sie gehen in den Wald um Feuerholz zu schlagen oder um Nahrung zu sammeln und kehren zu einem zerstörten Heim und einer ermordeten Mutter zurück.
„Befay. Wir beide werden die Leichen der Schattenkinder beseitigen. Niemand darf sie hier finden. Wir legen sie auf den Karren, der vor der Scheune steht und bringen sie zur Küste. Dort wird jemand sein der sich ihrer annimmt.“
Elynos ging in das Haus und sah sich um. Das Blut der ermordeten Menschenfrau hatte den Fußboden Rot getränkt. Er hatte vor, das Haus in Brand zu stecken. Alle Spuren mussten restlos verschwinden. Vorher hielt er jedoch nach Dingen Ausschau, die für den Mann und seine Söhne von Bedeutung sein konnten.
Befay hatte bereits alle Leichname der Schattenkinder auf den Karren geladen, als Elynos immer noch das Haus durchsuchte. Einem Elf fiel es nicht schwer die Verstecke der Menschen zu finden. Ein Geheimfach unter ein paar Holzdielen oder hinter einem Bild an der Wand, hätte er sofort erkannt. Doch nichts von dem was er erhoffte zu finden schien hier zu sein. Gerade als er aufgeben wollte, fiel sein Blick auf eine verschließbare Holzschatulle, die unter dem Bett der Eltern hervorlugte. Elynos hob sie auf und besah sie sich genauer. Sie war nicht besonders groß, dafür aber ungewöhnlich schwer. Der Elf hatte nicht den Eindruck, dass der Inhalt aus Münzen oder etwas ähnlichem bestand. Das Holz der Schatulle war das eines alten Baumes, der auf Obaru nicht vorkam. Da war er sich sicher. Es war dunkelbraun und war an den Kanten mit schmalen, aber dicken Eisenplättchen verstärkt. Der abgerundete Deckel wies ein kompliziertes Muster auf, das mit blauer Farbe nachgezogen war. Vereinzelt waren goldene Symbole zu erkennen, die für Elynos nach einer ihm unbekannten Runenschrift aussahen. Der Übergang zwischen Deckel und Truhe wurde von Eisenbeschlägen verdeckt. Dies sollte anscheinend verhindern, dass sie jemand einfach aufhebeln könnte. Was dem Elfenkrieger jedoch am befremdlichsten erschien war das Schlüsselloch. Es gab nämlich keines. An seiner Stelle war ein tiefer runder Abdruck zu sehen, in dessen Mitte ein paar nicht zu deutende Unebenheiten zu sehen waren.
Hier bedarf es offenbar mehr als eines Schlüssels um sich Zugang zu verschaffen, dachte sich Elynos. Bei dem Gedanken die Schatulle aufzubrechen verspürte er ein seltsames Kribbeln in den Fingerspitzen. Magie. Das kann doch nicht sein. Die Truhe wurde mit elfischer Magie verschlossen. Wie kann es sein, dass diese Menschen ein solch…?
Wie ein Blitz traf ihn die Erkenntnis. Kolahr. Alkeers Großvater wurde von meinem Volk mit der Gabe der Langlebigkeit gesegnet. Sollten sie ihm noch andere Fähigkeiten zum Geschenk gemacht haben?
Elynos wusste, dass er keine Zeit hatte sich weiter mit der geheimnisvollen Schatulle zu befassen. Er würde sie mitnehmen und sich zu einem späteren Zeitpunkt genauer mit ihr beschäftigen. In dieser Truhe lag etwas Bedeutungsvolles. Das spürte der Elf.
Als er hinaus trat stand Befay bereits auf dem Kutschbock des Karrens und hielt Wache. Die Leichen der Schattenkinder hatte er in dunkles Leinen gehüllt und fest verschnürt. Allesamt waren sie tapfere Krieger ihres Volkes gewesen. Aber noch sehr jung und unerfahren im Vergleich zu den elfischen Kriegern, die schon seit vielen Jahrhunderten Seite an Seite kämpften.
„Sind die anderen noch nicht zurück?“ fragte er den stattlichen Schwertkämpfer.
„Nein. Melyna hatte vor sich auf dem Gut der Menschenfamilie etwas genauer umzusehen. Und Insani durchstreift immer noch den umliegenden Wald nach den beiden Kindern.“
Elynos Sorgen vergrößerten sich. Insani war unübertroffen in der Kunst des Fährtenlesens. Wenn sie die Kinder nicht fand, würde es niemand schaffen.
„Bleib du hier, Befay. Ich gehe und suche Melyna. Wir dürfen uns hier…“
„Nicht nötig“, unterbrach ihn die Stimme der Elfenfrau.
Elynos wusste nicht, ob es an ihrem Wesen lag oder daran, dass sie eine Magiebegabte war. Aber sie hatte einen ausgesprochen ausgeprägten Sinn für theatralische Auftritte. Mit großer Mühe hielt sie die zappelten und um sich schlagenden Kinder fest.
„Sie hatten sich auf dem Dachboden der Scheune versteckt. Sehr gesprächig sind sie nicht gerade. Ich nehme an, dass…!“
Bevor Melyna weitersprechen konnte stürmte einer der Jungen zum Eingang des Hauses. Mit elfischer Schnelligkeit gelang es Elynos ihn aufzuhalten.
„Halt, junger Mensch!“
Er packte den Jungen an den Schultern und hielt ihn sanft zurück. Den Anblick der ausgebluteten Mutter wollte er ihm nicht antun. Mit festem Blick und auf ein Knie gesenkt sprach er zu den beiden Menschenkindern.
„Hört mir bitte zu. Wir wollen euch nichts Böses tun.“
Der Elf fand einfach nicht die richtigen Worte.
„Wo sind unsere Eltern?“ kam es überraschend aus dem Munde des scheinbar Älteren.
„Was habt ihr mit ihnen gemacht?“
Seit über tausend Jahren wandelte Elynos nun schon auf dieser Welt. Er hatte große Schlachten geschlagen und Dinge gesehen, die manch anderen um den Verstand gebracht hätten. Doch nun hatte er nicht die Kraft diesen Kindern zu sagen, dass ihre Mutter ermordet wurde.
„Euer Vater ist auf dem Weg zur Küste. Wir werden euch zu ihm bringen.“
„Und unsere Mutter?“
Elynos fand einfach nicht die Worte, die er brauchte um diesen Kindern den Schmerz zu ersparen.
„Wie ist dein Name, mein Junge?“ fragte er den größeren der beiden.
„Ich bin Vahin. Und das ist mein jüngerer Bruder Ralepp.“
Die Geschwister beruhigten sich ein wenig, starrten den Elfen und seine Gefährten jedoch immer noch aus tellergroßen Augen an. Nun war es an Melyna sich der Menschen anzunehmen.
„Ich bin Melyna. Eurem Vater geht es gut. Er wird von einem unserer Freunde in Sicherheit gebracht. Die Bösen werden ihm nichts antun. Das verspreche ich euch.“
Vahin blickte die Elfin aus zornigen Augen an.
„Du brauchst nicht mit uns zu reden als wären wir kleine Kinder! Ich bin zwölf und Ralepp ist zehn. Wir haben keine Angst vor Monstern oder den bösen Männern!“
Während Elynos und Melyna noch versuchten die richtigen Worte zu finden, verlor Befay langsam die Geduld.
„Wir müssen aufbrechen. Je länger wir bleiben desto größer wird die Gefahr entdeckt zu werden. Kommt endlich!“
„Schweig still!“, ging ihn Elynos harsch an.
Der Anführer sprach nun in der elfischen Sprache zu seinem Schwertmeister.
„Ich versuche gerade diesen Kindern zu erklären warum ihre Mutter ermordet und ihr Vater entführt würde. Wenn du weißt wie man so was macht, dann sag es mir bitte! Wenn nicht, dann schweig und halte weiterhin Wache! Es wird schon…“
„BLEIB HIER!“
Elynos hatte die Kinder und Melyna stehen lassen und war zur Kutsche hinüber gegangen. Die Gelegenheit nutzten die Brüder und rannten in das Haus. Die Elfenkriegerin war gerade noch schnell genug, um den jungen Ralepp einzuholen und festzuhalten. Vahin jedoch stürmte in das Haus und erblickte den toten Körper seiner Mutter. Ihre blasse Haut und das Weiß des Leinenkleides ließen das Rot des vergossen Blutes wie Feuer leuchten. Die ersten Fliegen hatten sich bereits in der Blutlache niedergelassen und schwirrten ebenso um den Leichnam der toten Menschenfrau. Vahin vermochte nicht sich abzuwenden. Der Anblick war für ihn einfach unwirklich. Wie sollte es sein, dass seine Mutter tot war? Seine Mutter. Die er noch vor ein paar Stunden beim Baden mit Wasser bespritzt hatte. Und der er heute Morgen einen Strauß ihrer Lieblingsblumen gepflügt hatte. Nun lagen sie in den Scherben der zerbrochen Vase auf dem Boden neben ihr. Vermischt mit dem Blute der Frau, die ihm das Leben geschenkt hatte. Durch das mit Rot besudelte Kleid wirkte sie wie ein zartes Rosenblatt, welches nichts inmitten dieser zerstörten Behausung zu suchen hatte. Er wollte noch einen weiteren Schritt auf sie zumachen, doch da traf ihn die harte Erkenntnis. Sie war tot. Plötzlich drehte sich alles. Die Luft war dick und vom metallischen Geruch des vergossenen Blutes erfüllt. In Vahins Hals lag ein dicker Kloß der ihn nicht atmen lies. Noch bevor er ein letztes Wort an seine tote Mutter richten konnte brach er zusammen. Die Ohnmacht war vielleicht das einzige was ihn davor bewahren konnte den Verstand zu verlieren. Sofort war Elynos über ihm und hüllte den bewusstlosen Menschen in seinen Mantel ein. Ralepp fing an zu schreien und um sich zu schlagen. Melyna hatte alle Mühe ihn zu bändigen.
„Lass mich los, du alte Hexe! Lass mich zu meinem Bruder!“
„Nun tu doch endlich was“, ertönte die Stimme von Befay.
Das letzte, was der junge Mensch vernahm, war die flüsternde Stimme der Elfenmagierin. Sie webte einen Schlafzauber und erlöste ihn somit von der Angst die ihn gefangen hielt. Die Brüder wurden in warme Mäntel gehüllt und Elynos, als auch Melyna, nahmen jeweils einen von ihnen zu sich in den Sattel.
„Befay, stecke das Haus in Brand. Dann warte auf Insani und erzähle ihr was passiert ist. Danach folgt uns! Wir werden vorausreiten und erst an der Küste halt machen!“
Bevor sie vom Gut ritten, ging Elynos noch ein Gedanke durch den Kopf.
Die Macht des Dämons ist erwacht. Er hat uns dazu gebracht unsere Brüder zu töten und dafür gesorgt, dass sie dazu bereit sind Menschen zu opfern. Ich weiß nicht wie wir ihn aufhalten sollen.
In der nächsten Nacht
„Wenn wir rasten verlieren wir zu viel Zeit! In der Steppe wird das Feuer des abbrennenden Bauernhauses bestimmt schon für Aufsehen gesorgt haben. Den Menschen ist nicht damit geholfen wenn uns die Valantarier einholen und uns in einen Kampf verwickeln.“
Elynos hasste es sich mit Befay zu streiten. Eigentlich hätte er ihm auch zugestimmt. Es war wirklich riskant eine Pause einzulegen. Aber der Elfenfürst konnte spüren wie stark die Menschenfamilie unter dem Verlust der Mutter zu leiden hatte. Selbst Melynas magische Kräfte vermochten es nicht ihren Lebenswillen zu erwecken. Der Menschenvater schien in einen unendlich tiefen Schlaf gefallen zu sein. Der Anblick seiner toten Frau hatte ihm einen Schock versetzt, welcher noch für lange Zeit durch seinen Geist spuken würde. Die Kinder vermieden es einen der Elfen auch nur anzusehen. Melynas Schlafzauber hatte sie nur für kurze Zeit zum Schweigen gebracht. Elynos hielt es für wichtig, dass die jungen Menschen begriffen was hier vor sich ging. Deswegen hatte er sie aufwecken lassen. Doch nun saßen sie nur stumm da und starrten ins Leere. Der Elfenfürst dachte wie seine Kameraden. Je länger sie den Menschen Zeit gaben, um sich zu erholen, desto größer wäre die Gefahr entdeckt zu werden. Trotzdem konnte es Elynos nicht hinnehmen, dass man seine Befehlsgewalt in Frage stellte.
„Du musst mich nicht daran erinnern welches Risiko wir eingehen wenn wir uns zu lange hier aufhalten! Aber es geht nun mal nicht anders. Außerdem bin ich mir sicher, dass wir unsere Spuren gut genug verwischt haben. Wir haben einen großen Vorsprung und die Valantarier haben keine Ahnung wo sie nach uns suchen müssten, wenn sie uns denn überhaupt verfolgen. Also beruhige dich und kümmere dich um den Menschen. Ich halte es für besser wenn wir ein paar Zelte aufschlagen und die beiden Kinder unter der Aufsicht von Melyna bleiben.“
Obwohl das Volk der Elfen für seine kalkulierende und besonnene Art überall bekannt war konnte man die Anspannung, welche sich über die Lichtung verbreitete, deutlich spüren. In anderen Nächten hätte Elynos den Wald als angenehm friedlich empfunden und sich seinen Erinnerungen an bessere Zeiten hingegeben. Doch der Kampf gegen die Schattenkrieger hatte auch ihm eine Wunde geschlagen. Diese Verletzung ging über das Körperliche hinaus. Vielmehr schmerzte den Elfen die Erkenntnis, dass alle bisherigen Unruhen zwischen seinem Volk und dem der Schattenkinder wohl bald einen neuen Höhepunkt erfahren würden. Dass er heute Nacht einige ihrer Krieger umbringen musste war als gieße man Öl ins Feuer. Er konnte schon hören wie seine Herrscher ihn zurechtweisen würden. Man würde ihn als Kriegstreiber und vielleicht sogar Mörder beschimpfen. Der Elfenzirkel hätte endlich einen Grund gefunden ihn für alle Zeiten zum Schweigen zu bringen.
Schluss damit! Elynos versuchte diese Gedanken niederzuringen. Du hast noch genug Zeit dir um deine Haut Sorgen zu machen. Jetzt behalte einen kühlen Kopf und schaffe deine Freunde und die Menschen in Sicherheit!
Es würden noch einige Stunden bis zum Sonnenaufgang vergehen und Elynos nahm an, dass die Gruppe noch genügend Zeit hatte um ungesehen zur Küste zu gelangen. Normalerweise zogen er und seine Gefährten es vor beisammen an einem Feuer zu liegen wenn sie in der Wildnis übernachteten. Doch in dieser Nacht zog er die Einsamkeit seines Zeltes vor. Als er Befay und Lathivar helfen wollte das zweite Zelt aufzustellen trat Insani aus einem nahe liegendem Gebüsch hervor.
„Wo warst du denn so lange?“, war das erste was sie von Lathivar zu hören bekam.
Ihr Bruder machte sich immer noch Sorgen wenn sie alleine ausgeschickt wurde um die Umgebung auszuspähen. Zwar war sie nur einige Jahrzehnte jünger als er, was bei den Elfen gerade mal so viel wie ein Wimpernschlag ist, dennoch missfiel Lathivar der Gedanke, dass seine Schwester außerhalb ihrer vertrauten Umgebung auf sich alleine gestellt war.
„Kein Grund zur Aufregung. Ich habe mir den Weg südlich des Waldes mal etwas genauer angesehen. Es finden sich sehr viele Wagenspuren auf ihm wieder. Ich halte es für keine gute Idee diesen Weg zu nehmen.“ Elynos bemerkte wie Insani gedankenverloren an einem ihrer Anhänger spielte. Dies tat sie immer wenn sie nervös war oder sich wegen einer Mission Sorgen machte. „Sobald die Sonne aufgeht wird die Gegend von sehr vielen Händlern aufgesucht werden. Und die umliegende Steppe bietet keinerlei Schutz vor neugierigen Augen.“
„Großartig“, entgegnete Elynos in einem angestrengten Ton. Müde fuhr sich der Anführer durch die Haare. „Stellt Zelte auf und bringt die Kinder getrennt von ihrem Vater unter. Wenn ich zurück bin will ich ihn aufwecken und mit ihm reden. Die Jungen sollten das nicht unbedingt hören.“
„Was soll das heißen? Wenn ich zurück bin? Wo willst du denn hin?“, fragte Befay verwundert.
„Ich will mir mit Insani einen anderen Weg ansehen den wir einschlagen können. Es wäre höchst unklug damit bis zum Morgen zu warten.“
Befay war es offensichtlich Leid sich mit seinem Freund zu streiten und machte sich deswegen lieber daran mit Melyna und Lathivar die Zelte aufzustellen und ein Feuer anzuzünden. Insani führte Elynos zum südlichen Waldrand und zeigte ihm den Weg, welchen sie vor kurzem entdeckt hatte. Der Mond schien hell in dieser Nacht und tauchte die Wildnis in ein angenehm sanftes Licht. Außer ein paar Eulen konnte man keinerlei tierische Laute wahrnehmen. Die Späherin wusste, dass die Waldbewohner über feine Sinne verfügten und die Reisenden längst bemerkt hatten. Weder Elynos noch Insani rechneten damit einem Bär oder umherstreunendem Wolf zu begegnen. Solche Tiere hatten einen Instinkt dafür welchen Lebewesen sie lieber aus dem Weg gehen sollten. Beide schienen die Stille zu genießen und wechselten nur sehr wenige Worte miteinander. Ein gelegentliches Rascheln und das Knacken von Zweigen waren alles was die angenehme Ruhe störte.
Genau das Richtige nach so einem schrecklichen Tag. Die Stille des Waldes und das vertraute Schweigen eines Kameraden.
Insani wusste, dass Elynos sich immer noch Vorwürfe wegen der Menschenfrau machte. Zwar war er schon immer ein sehr mitfühlender Zeitgenosse gewesen, aber dass der Tod dieser Fremden ihm derart zu schaffen machte konnte Insani nicht so recht begreifen.
„Wir sind gleich da.“
Ein kurzes Nicken war alles was Elynos erwiderte. In einiger Entfernung konnte man einen kleinen Bach fließen hören. Wahrscheinlich wurde er aus einem der Ausläufer des Mia Stromes genährt. Elynos hatte die Zeit der Erbauung dieses Gewässers miterlebt. Er empfand es damals als ein gutes Zeichen, dass die Bewohner von Obaru etwas errichteten das ihnen erlaubte miteinander eine Verbindung einzugehen. So etwas führte meistens dazu, dass man in Frieden und Gemeinschaftlichkeit zusammenlebte. Dass man den Fluss eines Tages nur noch zu militärischen Zwecken nutzte zerstörte diesen Hoffnungsfunken jedoch wieder. Elynos war so sehr in den Gedanken der Vergangenheit gefangen, dass er zuerst gar nicht bemerkte wie er einen Schritt aus dem Wald hinaus tat. Insani kniete neben ihm und deutete auf die dunkle Straße.
„Siehst du die Wagenspuren? Keine von ihnen ist älter als einen Tag. Zwischen der Küste und Kamari ist dies der einzig passierbare Weg. Entweder das oder ein langer Weg über offenes Gelände. Ohne Schutz und ohne eine Möglichkeit zum Verstecken. Unmöglich hier unentdeckt reisen zu können.“
Elynos fand leider kein Argument welches Insanis Bedenken zerstreuen könnte. Er kniete sich nieder und tastete über die tiefen Wagenspuren.
„Was ist wenn wir in Richtung Westen weiterziehen? Soweit ich weiß ist dieser Teil von Obaru schon lange nicht mehr besiedelt.“
„Das könnte gehen.“
Die Elfe nutzte ihre Weitsicht und spähte angestrengt in die vom Mond beschienene Wildnis.
„Allerdings könnte es sein, dass wir unseren Karren unterwegs stehen lassen müssen. Das Gelände wird in der Ferne immer steiniger und unwirtlicher. Da werden wir mit dem Gespann nicht weiterkommen.“
„Na wenn es weiter nichts ist. Damit werden wir schon fertig.“
Elynos fühlte nun endlich ein Stück Erleichterung. Seit sie von dem Anwesen der Menschen aufgebrochen waren, machte er sich die größten Vorwürfe. Er hatte es nicht geschafft den Tod der Menschenfrau zu verhindern und nun musste er seine Gefolgschaft einem hohen Risiko aussetzen, indem er ihre Abreise hinauszögerte damit die Kinder sich ein wenig erholen konnten. Insani schien seine Sorgen zu bemerken.
„Es ist nicht deine Schuld.“
„Was?“
„Der Tod der Menschenfrau. Du trägst keine Schuld daran. Genauso wenig wie der Rest von uns. Was hätten wir denn schon tun können?“
Wieder fand Elynos keine passende Antwort auf die Argumente der Fährtensucherin. Müde und erschöpft lehnte sich der Elfenfürst an einen Baum.
„Es scheint wohl der Wille der Götter gewesen zu sein. Welche Erklärung könnte es sonst schon dafür geben, dass wir nur ein paar Augenblicke früher hätten da sein müssen, um ein solches Unrecht zu verhindern?“
„Der Wille der Götter?“, entgegnete Insani in einem überraschten Tonfall. „Meinst du nicht auch, dass du dir da etwas einzureden versuchst?“
„Was willst du damit sagen?“
„Ich will sagen, dass es vielleicht gar keinen Grund dafür gibt, dass wir zu spät gekommen sind. Warum muss denn immer alles nach göttlichen Plänen geschehen? Könnte es nicht sein, dass auch Dinge auf dieser Welt passieren, die einfach nur zufällig geschehen?“
Elynos blickte seiner Kameradin tief in die Augen.
„Du warst schon öfters anderer Ansicht als ich was solche Dinge betrifft. Ich frage mich wann ich den Tag erlebe an dem du einmal eingestehen wirst, dass es so etwas wie göttliches Schicksal gibt.“
Insani hob einen kleinen Stein auf und ließ ihn auf ihren Fingerknöcheln tanzen.
„Eher solltest du auf den Tag warten an dem ein Gnom goldene Eier legt. Ich werde mich nicht hinter dem göttlichen Schicksal verstecken wenn es darum geht meine Taten in diesem Leben zu rechtfertigen. Ich habe stets getan was ich tun musste. Und nicht das was mir ein unsichtbarer Gott im Schlaf eingeflüstert hat.“
Achtlos ließ sie den Stein auf den Boden fallen und wandte sich zornig von Elynos ab.
„Woher kommt nur deine Abneigung gegen die Götter? Dein Bruder scheint diese Eigenschaft nicht mit dir zu teilen. Also nehme ich an, dass es nichts mit eurem Elternhaus zu tun hat.“
„Wie lange kennen wir uns nun schon, Elynos? Zweitausend Jahre?“
„Ein paar mehr oder weniger“, gab der Elf ungewollt neckisch zur Antwort.
„Ich dachte mir, dass du nach all diesen Jahren wüsstest, dass mir der Gedanke an ein vorbestimmtes Schicksal missfällt. Wie sollte ich denn freien Herzens zu den Sternen aufblicken wenn ich annehmen müsste, dass jemand anders meine Schritte lenkt?“
Für einen kurzen Moment herrschte eine bedrückende Stille zwischen den beiden Elfen. Schließlich war es Elynos, der zuerst wieder sprach.
„Es geht nicht darum, dass wir ein vorherbestimmtes Schicksal akzeptieren und dem Willen einer unbekannten Macht folgen. Aber manchmal hilft es einem bestimmte Ereignisse besser zu verstehen wenn wir solch schlimme Dinge erleben wie heute Nacht.“
„Ach so…“, ergriff Insani sofort wieder das Wort. „Dann nimmst du deinen Glauben also als Ausrede dafür wenn du mal irgendetwas nicht verstehst oder wenn du der Meinung bist versagt zu haben? Du sagst dir, dass du alles getan hast was in deiner Macht stand und es keinen Ausweg gab die Menschenfrau vor ihrem Schicksal zu bewahren. Also muss es Gotteswerk gewesen sein, dass sie starb! Eine andere Erklärung gibt es nicht! Findest du das nicht ein wenig feige?“
Plötzlich sprang Elynos auf und packte die Elfe an den Schultern. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er sie an.
„Es waren unsere Leute, verdammt! Es war das Volk der Schattenkinder, die diese Menschen in eine Welt aus Tod und Leid stießen. Und das nur weil sie einer falschen Hoffnung nachjagten. Sie glaubten in einem göttlichen Auftrag zu handeln und mit ihrem Tun das Böse von der Welt fernzuhalten. Wenn ich nicht imstande wäre zu glauben, dass es ein göttlicher Wille war der sie lenkte, müsste ich annehmen, dass unser Volk aus Meuchlern und Mördern besteht. Es muss einfach etwas Größeres geben das all diese Taten erklären kann! Es muss einfach so sein!“
Insani ließ ihren Blick sinken. Flüsternd hielt sie den Sorgen ihres Freundes stand.
„Glaube was du glauben musst. Doch ich weiß wer die Sehne meines Bogens spannt kurz bevor der Pfeil durch die Luft fliegt um ein Leben zu beenden.“ Beinahe geräuschlos glitt das Schwert der Elfenkriegerin aus seiner Scheide. „Ich weiß wer meine Klinge im Kampf führt und sie in das Fleisch meiner Feinde treibt. Und das ist mit Sicherheit keiner deiner Götter.“ Mit ganzer Kraft schlug sie die feine Klinge in einen alten Baum. Mühelos drang die Waffe durch das starke Holz. „Dieser Stahl tötet, weil ich es so will! Es sind meine Augen die das Opfer suchen. Und meine Hände sind es die das Leben meiner Gegner auslöschen. Ich werde mich nicht hinter Glauben und Weissagungen verstecken!“
Elynos nickte resignierend.
„Es tut mir leid, Insani. Ich wollte dich nicht …“
„Schon gut. Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast.“
Ein Lächeln überflog das Gesicht des Elfen.
„Na komm. Wir haben genug gesehen. Die anderen werden sich bestimmt schon fragen wo wir bleiben.“
„Warte!“ Die Elfe machte ein besorgtes Gesicht und seufzte schwer. „Da ist noch etwas, über das ich mit dir reden muss, bevor wir ins Lager zurückkehren. Ich mache mir Sorgen.“
„Warum? Ich habe dir doch eben gesagt, dass alles in Ordnung ist. Mir geht…“
„Es geht nicht um dich.“ Verwundert blickte der Elfenfürst seine Kampfgefährtin an. „Es geht um die Menschenkinder. Was hast du vor sobald wir an Bord des Schiffes sind?“
„Das weißt du doch. Wir segeln nach Vinosal und übergeben die Menschen in den Schutz unserer Herrscher. Es ist der einzige Ort an dem sie sicher sind.“
„Glaubst du das wirklich? Bist du dir sicher, dass ihnen unser Volk den Schutz geben kann den sie brauchen?“
„Was willst du damit sagen, Insani?“
Ein unbehagliches Schweigen ging von der Jägerin aus. Elynos hatte eine leise Ahnung worauf sie hinaus wollte, doch er wollte es aus ihrem eigenen Munde hören.
„Du weißt, dass unsere Herrscher sich gegen eine Einmischung in dieser Angelegenheit ausgesprochen haben. Sie hielten es für richtiger, dass die Menschen sich selbst überlassen bleiben. Wäre es nach ihnen gegangen hätten die Schattenkrieger alle Blutsverwandten des Auserwählten gemeuchelt. Und nun hast du vor die Überlebenden genau zu diesen kaltherzigen Thronbesetzern zu bringen? Ich halte das nicht gerade für eine gute Idee.“
Elynos wusste nicht voran es lag, aber die Worte Insanis kamen für ihn keineswegs überraschend. Ebenso wenig erschienen ihm ihre Gedanken als abwegig. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr musste er erkennen, dass er ebenfalls seine Zweifel hatte ob sein ursprünglicher Plan der richtige sei.
„Deine Bedenken sind berechtigt. Es wäre möglich, dass wir die Menschen in den sicheren Tod führen wenn wir sie nach Vinosal bringen.“ Jetzt da er diese Worte aussprach schmerzten sie ihn. Dass seine Heimat einmal als ein Ort der Angst angesehen werden würde, damit hätte der Elf in tausend Jahren nicht gerechnet. „Vielleicht wäre es das Beste wenn wir nach Isamaria gehen. Niemand erwartet uns dort. Ich bin mir sicher, dass uns Rahbock und einige andere der Ältesten zur Seite stehen würden.“
Als wäre eine große Last von ihrem Herzen genommen worden, atmete Insani erleichtert auf und schenkte dem Elfenfürsten ein strahlendes Lächeln.
„Ich bin froh, dass du uns führst, Elynos. Niemandem sonst würde ich auf solchen Pfaden folgen. Und ich weiß, dass die anderen genauso denken.“
Elynos winkte lächelnd ab.
„Ach tu doch nicht so. Du und dein Bruder habt beide diese wunderbare Begabung. Ihr redet solange auf euer Gegenüber ein bis der schließlich aufgibt und sich euren Worten beugt. Nur dieses Mal bin ich dir zuvor gekommen.“
Beide lachten und setzten dann ihren Weg zurück ins Lager fort.
Bleierne Schwere hatte sich auf seinen ganzen Körper gelegt. Arme und Beine fühlten sich an, als wären sie in eiserne Ketten gelegt worden. So sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht sich aufzusetzen. Sogar seine Augenlider gehorchten nur recht widerwillig. Er fühlte etwas unbekannt Weiches, aber keinesfalls Unangenehmes unter sich.
Wo bin ich? Was ist passiert?
Allein der Versuch sich an das Geschehene zu erinnern ließ den kraftlosen Menschen beinahe wieder in Ohnmacht fallen. Kumar war in einem erschreckend schlechten Zustand. Weniger die körperlichen Verletzungen waren es, die er sich in den vergangenen Stunden zugezogen hatte, sondern mehr die seelische Belastung musste es gewesen sein, welche ihn gebrochen hatte. Nur mit Mühe fand er die Kraft seine Augen zu öffnen. Er blickte an die Decke des Zeltes, in das ihn die Elfen gebettet hatten und leckte sich über seine spröden Lippen. Nach ein paar Augenblicken überkam ihn nicht nur die Gewissheit wo er sich befand, sondern er erinnerte sich auch an das was geschehen war.
IBANA!
Der Name seiner ermordeten Frau schoss Kumar durch den Kopf und ließ ihn ruckartig aufspringen. Die dicken Felle, welche ihn wärmten flogen in alle Richtungen davon. Doch so gerne er auch losgelaufen wäre, um nach seinen Söhnen zu suchen, musste er darum kämpfen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ohne auch nur einen Schritt gegangen zu sein brach er auf der Stelle wieder zusammen. Schwindel hatte von seinen Gedanken Besitz ergriffen und ein lautes Dröhnen ging durch seine Ohren. Kumar versuchte tief Luft zu holen und die Namen seiner Söhne zu rufen. Doch bevor auch nur ein Laut über seine Lippen kam verlor er erneut das Bewusstsein.
„Soll ich dich bei der Wache ablösen?“
Befay wusste sofort, dass Elynos etwas anderes im Schilde führte als eine Stunde vor Sonnenaufgang noch ein Wachwechsel vorzuschlagen. Doch er hatte nicht vor dem Elfenfürsten zu sagen wie einfach er in seinen Zügen lesen konnte. Sie kämpften nun schon seit Jahrtausenden Seite an Seite und vertrauten einander blind. Dennoch konnte es nichts schaden wenn man das ein oder andere für sich behielt. Im Moment hatte Befay den Eindruck als wolle sein Freund ihn auf Umwegen etwas fragen. Doch der stattliche Schwertkämpfer war schon seit jeher nicht wie andere Elfen. Er hielt nichts davon sich hinter schönen Worten und Ränkespielchen zu verstecken. Befay suchte stets den offenen Dialog mit seinem Gegenüber.
„Wenn du magst kannst du mir ja ein wenig Gesellschaft leisten. Ich habe nicht vor mich jetzt noch schlafen zu legen. Im Gegenteil. Wenn es nach mir geht könnten wir gar nicht schnell genug aufbrechen.“
Elynos nahm die versteckte Einladung an und setzte sich auf einen der umliegenden alten Baumstümpfe. Befay hatte ein kleines Feuer entfacht das eine angenehme Wärme abgab. Der Elfenfürst konnte nicht umhin Bewunderung für seinen Kampfgefährten zu empfinden. Solange er sich erinnern konnte war Befay anders als die anderen Elfenkrieger die ihm in all den Jahren begegnet waren. Der für Elfen ungewöhnlich launische Zeitgenosse hatte sich weder auf Vinosal noch auf Obaru übermäßig viele Freunde gemacht. Grund dafür mochte sein forsches und bemerkenswert direktes Auftreten sein. Doch genau das war es, was Elynos und die restlichen Kampfgefährten so an ihm schätzten. Zugeben würde das jedoch keiner. Denn neben seinem untypischen Temperament verfügte Befay über ein nicht minder untypisches Ego.
„Wenn es nach dir geht wären wir gar nicht erst hierher gekommen, oder? Ich habe deinen Gesichtsausdruck gesehen als ich euch mitteilte, dass wir nach Obaru müssen um eine Menschenfamilie zu retten. Du erschienst mir, damals wie heute, nicht gerade sehr begeistert von diesem Auftrag.“ Elynos war nicht überrascht als er bemerkte, dass Befay keinesfalls versuchte den Augenkontakt mit ihm zu meiden. „Woher kommt…?“
„Oh bitte!“ Befay schnitt seinem Freund mit einer abwehrenden Geste das Wort ab. „Fang jetzt bloß nicht an mir ein schlechtes Gewissen einzureden. Für mich ist dies hier eine Mission wie jede andere auch. Wie kommst du darauf, dass es dieses Mal etwas anderes wäre?“
„Weil ich gesehen habe wie du die Menschenkinder ansiehst. Du bist nicht gerade ein Meister darin dich zu verstellen.“
„Ich sehe auch keinen Grund dafür.“
Elynos erhob sich und drehte seinem Freund den Rücken zu. Er hatte keine Lust sich mit ihm zu streiten. Die Auseinandersetzung mit Insani in dieser Nacht hatte ihm wahrlich gereicht.
„Wir werden nicht nach Vinosal zurückkehren.“
„Was?!“
Das Entsetzen in Befays Stimme scheuchte einige Vögel auf die in den Bäumen saßen.
„Ich habe bereits mit Insani darüber gesprochen. Es ist zu gefährlich sich in den Einflussbereich unserer Herrscher zu begeben.“
„Gefährlich für wen? Für uns oder die Menschen?“
„Für die Menschen. Allen voran für die Kinder. Wir können nicht riskieren…“
„Das ist Unsinn! Welcher Ort wäre wohl sicherer als die Gefilde unseres Volkes, um die Menschen vor Meuchlern zu schützen?“
„Du vergisst, dass die Schattenkinder es schon einmal geschafft haben eine von ihnen zu töten. Und wäre es nach unseren Herrschern gegangen, wären wir gar nicht erst hergekommen, um den Rest von ihnen zu retten. Die Gefahr, dass sie einem Verräter zum Opfer fallen ist einfach zu groß. Wir bleiben auf Obaru und begeben uns auf dem Seeweg so nah wie möglich an Isamaria heran. Dort wird der Rat dafür sorgen, dass die Menschen in Sicherheit gebracht werden.“
„Der Rat? Du traust Trollen, Zentauren, Reggits und Menschen also eher zu die drei zu beschützen als deinem eigenem Volk?“
„Du vergisst dich, Befay! Auch ich bin ein Mitglied des Rates. Die Männer und Frauen, welche diesem Zirkel angehören, haben als Einzige versucht das Attentat auf den Jungen zu verhindern. Unsere Herrscher haben nichts getan um das Schattenkind aufzuhalten. Sie haben sie einfach ziehen lassen.“
„Trotzdem glaube ich nicht, dass…!“
„Was du glaubst oder nicht ändert nichts mehr an meinem Entschluss. Wir bringen die Menschen nach Isamaria!“
Befays Wangenknochen mahlten. Äußerlich mochte er zornig wirken, doch in seinem Inneren fühlte er sich verletzt, weil Elynos nicht auf ihn hören wollte.
„Nun gut. Du führst, ich folge. Gehen wir also in die Stadt der Riesenadler.“
„Nein. Du nicht!“
„Ich verstehe nicht.“
„Du wirst nach Vinosal gehen und den Herrschern Bericht erstatten.“
„Du schickst mich von dir? Und das nur, weil ich anderer Meinung bin als du?“
Elynos erhob sich, ging um das Feuer herum und setzte sich direkt neben Befay. Er achtete darauf die Zelte im Rücken zu haben bevor er zu sprechen begann.
„Ich schicke dich, weil ich weiß, dass du die Fähigkeit hast mit den Launen der Herrscher umzugehen. Außerdem musst du etwas tun das ich niemandem sonst zutraue.“
„Und was könnte das wohl sein?“
„Du wirst ihnen sagen, dass die Menschen alle tot sind!“
Befays Augen drohten aus ihren Höhlen zu kommen. Die Gesetze der Herrscher ein wenig zu dehnen, um sein Handeln zu rechtfertigen, war eine Sache. Aber in den weißen Hallen der Elfen eine Lüge über die Lippen zu bringen, dazu bedarf es schon etwas mehr. Elynos war sich zudem bewusst, dass er Befay mit dieser Bitte zum Tode verurteilte sollten die Herrscher herausfinden, dass man sie belogen hatte. Obwohl der Schwertkämpfer sich über das Risiko im Klaren war, wusste er ebenso, dass Elynos ihm diesen Auftrag nicht geben würde wenn er ihm nicht voll vertraute.
„Also misstraust du den Herrschern tatsächlich?“
Das Entsetzen in Befays Stimme war einer ernsthaften Besorgnis gewichen. Schlagartig beendete er seinen Widerstand und hörte sich an was sein Freund und Führer ihm zu sagen hatte.
„Ich glaube einfach, dass es keinen anderen Weg für uns gibt das Leben der Menschen mit Sicherheit schützen zu können. In Isamaria werden sie von den Ältesten verborgen werden und unter dem Schutze von Levithar stehen. Der oberste der Riesenadler verfügt über große Macht und uraltes Wissen. Wenn es ein Lebewesen auf Berrá gibt, welches die Prophezeiung des Dunkelgottes zu verstehen vermag, dann ist er es.“
Befay nickte und dachte innerlich schon über den Weg in die Heimat nach.
„Was soll ich den Herrschern erzählen? Sie werden sicherlich genau wissen wollen wie die Menschen gestorben sind.“
„Sag ihnen Folgendes. Nachdem wir die Steppe erreichten fanden wir Spuren der Schattenkrieger, welche ausgesandt wurden um die Menschen zu töten. Wir beeilten uns das Gehöft der Familie zu erreichen kamen jedoch zu spät. Zuerst fanden wir den Vater. Er lag tot auf Feld in einer Lache seines eigenen Blutes. Man hatte ihm hinterrücks die Kehle durchgeschnitten. Als wir die Frau fanden hauchte diese gerade ihren letzten Atemzug aus.“ So ist wenigstens etwas an der Geschichte war. „Die Menschenkinder fanden wir hinter einer Scheune. Dem Jüngsten hatte man mehrere Pfeile in die Brust gejagt, der Ältere war von vielen Stichwunden gezeichnet. Beide hatte man ausbluten lassen.“
Der Schwertkämpfer versuchte sich alles genauso zu merken wie er es von Elynos erzählt bekam.
„Ganz schön grausam findest du nicht? Selbst für die Schattenkinder.“
„Glaube mir, Befay. Hätten wir die Schattenkrieger nicht aufgehalten, wäre vielleicht sogar etwas noch Schlimmeres passiert. Die rituellen Morde der Schattenelfen können unglaublich bestialische Formen annehmen.“
Ein zögerndes Nicken war alles was er als Antwort erhielt.
„Und was hast du dir für die Schattenkrieger überlegt, die wir getötet haben?“
„Sag, dass sie uns angegriffen haben als wir dabei waren die Steppe wieder zu verlassen. Erzähl einfach, dass wir sie töteten und die Leichen danach zusammen mit denen der Menschen verbrannt haben. Ich glaube ohnehin nicht, dass die Herrscher nach ihnen fragen werden. Sie werden versuchen den Kampf zwischen uns und den Schattenelfen zu verheimlichen.“
Die Freunde tauschten noch ein paar ernsthafte Worte miteinander und genossen danach die nächtliche Stille, in die sich das Knistern des Feuers mischte.
Kumar lag benommen zwischen den nach Weihrauch duftenden Tierfellen und versuchte erneut sich aufzurichten. Jeder Knochen in seinem Leib schien zu schmerzen.
Ich… ich kann nicht aufstehen. Meine Beine tun so weh. Und in meinem Kopf dreht sich alles.
Seine Augen brannten als er sie öffnete, aber er konnte mittlerweile erkennen wo er war. Ein paar tiefe Atemzüge später schaffte Kumar es sich aufzurichten ohne die Besinnung zu verlieren. Ein Rauschen ging durch seine Ohren und ein Kribbeln machte sich in seinen Armen und Beinen breit. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und war bemüht nicht erneut in Ohnmacht zu fallen. Die Erinnerung an seine tote Frau war zurückgekehrt und trieb ihm die Tränen in die Augen.
Ibana. Wieso ist das geschehen? Was haben wir getan, um diese Bestrafung zu verdienen?
In kurzen schattenhaften Schemen wurde Kumar von dem Überfall der letzten Nacht heimgesucht. Sein Geist konnte die Bilder seiner toten Ibana nicht erfassen.
Vahin! Ralepp! Oh Gott!
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch gar nicht an seine beiden jüngsten Söhne gedacht hatte. Der Verlust seiner Frau hatte ihn für alles andere blind werden lassen. Ein unglaublich starker Schmerz pochte in seinem Schädel und verweigerte ihm jeden klaren Gedanken. Durch den Schleier aus Schmerz und Verzweiflung glaubte er eine Stimme wahrzunehmen. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor. Es dauerte eine Weile bis er sich erinnern konnte, doch dann fiel ihm ein woher er sie kannte.
Das ist einer dieser verfluchten Mörder die Ibana umgebracht haben. Du Bastard!
Kumar bemerkte nun, dass es zwei sein mussten die sich da gerade unterhielten. Zuerst schienen sie sich zu streiten, doch dann schien nur noch einer zu sprechen und der andere verstummte. Angestrengt horchte der benommene Mensch ins Dunkel und versuchte zu verstehen wovon sie sprachen.
„.. Frau … ihren letzten Atemzug… Die Menschenkinder… wir hinter einer Scheune. Dem Jüngsten… mehrere Pfeile in die Brust gejagt, der Ältere… vielen Stichwunden… beide… ausbluten lassen. … schön grausam findest du nicht? … rituellen Morde… können unglaublich bestialisch…“
Wie vom Donner getroffen lag Kumar mit weit aufgerissenen Augen da und vergaß die ganze Welt um sich herum. Das Einzige was er noch hörte war sein Herz, welches ihm bis zum Hals schlug.
Meine Söhne. Meine geliebten Söhne. Umgebracht von diesen verdammten Mördern. Nicht nur Ibana, auch Ralepp und Vahin sind tot. Kumar erschien es wie eine Ewigkeit die er damit verbrachte um seine ermordete Familie zu trauern. Dann jedoch wandelte sich sein Schmerz in Angst um. Warum haben sie mich am Leben gelassen? Sagte der eine da nicht gerade etwas von Ritualmorden? Was haben sie mit mir vor?
Vielleicht war es der Zorn auf die Mörder seiner Familie, vielleicht aber auch die Angst einen grausamen Tod zu finden. Egal was es war, Kumar hatte nicht vor noch länger in der Gesellschaft dieser unheimlichen Mörder zu bleiben. Er ließ seine Augen durch das Zelt wandern und erkannte schließlich, dass die Rückseite nur durch ein paar Bänder am Rest der kargen Behausung befestigt war. Leise und unter größten Anstrengungen zog er sich über den Boden und machte sich daran die Rückseite des Zeltes zu öffnen.
„Nicht mehr lange und die Sonne geht auf. Soll ich die anderen wecken?“
„Du hast es wohl sehr eilig von uns wegzukommen, mein lieber Befay.“
Ein Lächeln von Elynos machte deutlich, dass es sich nur um den Versuch handelte die Ernsthaftigkeit aus ihrem eben stattgefundenen Gespräch abzuschütteln. „Aber nein. Lass sie ruhig noch alle etwas schlafen. Immerhin waren wir vier Tage am Stück unterwegs ohne zu rasten. Und dann hatten wir auch noch einen kräftezehrenden Kampf gegen die Schattenkrieger. Sie haben sich alle etwas Schlaf verdient.“
„Wie du meinst. Ich werde mich mal im Wald umsehen und versuchen unseren Proviant ein wenig aufzufüllen.“
„Seit wann isst du Tiere die nicht von Vinosal stammen? Ich dachte immer du verabscheust das Essen der Menschen?“
Gewollt übertrieben streckte Befay die Arme aus und blickte gespielt verzweifelt drein.
„Weißt du… um ehrlich zu sein hatte ich noch nie viel für den Reiseproviant übrig den unser Volk sich angeeignet hat. Tagelang immer nur trockene Früchte und seien sie noch so sättigend, können selbst aus dem glaubensfestesten Krieger einen Heiden machen.“
Für Elynos war es ein gutes Zeichen, dass Befay wieder in der Lage war einen Scherz zu machen. Der Gedanke sich von ihm in Missgunst zu trennen wollte ihm nämlich nicht so recht gefallen.
„Dann geh nur. Aber lass dir nicht zu viel Zeit. In spätestens zwei Stunden wecken wir die anderen und reisen weiter.“
Befay machte sich auf den Weg durch den Wald und hielt Ausschau nach einer Fährte die ihn zu einem Kaninchenbau oder etwas ähnlichem führen würde. Die Baumkronen waren mittlerweile in ein nebeliges Schummerlicht verfallen, so dass sie auf den Elfenkrieger einen befremdlichen Eindruck ausübten. Er beobachtete den Wald wie dieser sich in seiner finsteren Erhabenheit vor ihm ausbreitete. In wenigen Stunden würden hier wieder Vögel singen und Rehe grasen. Farbenprächtige Blumen würden Honig für emsige Bienen spenden und Federfeen würden ihre Spielchen mit den Füchsen treiben. Obwohl Befay wusste, dass der Wald in der Nacht keine Geheimnisse verbarg die man am Tage sehen konnte, erschien ihm alles so unsagbar fremd. Es war nun schon einige hundert Jahre her, dass er einen Fuß auf von Menschen beherrschtes Land gesetzt hatte. Auf Vinosal offenbarten einem die Wälder in der Nacht zwar auch ein anderes Gesicht als jenes, welches sie am Tage zeigten, jedoch war das Schauspiel im Mondeslicht nicht mit dem zu vergleichen was man hier sah. In seiner Heimat erstrahlten des Nachts die Mondrosen in ganzer Pracht. Ihre violetten Blütenblätter formten sich in unvergleichbarer Schönheit um den langen stachellosen Stiel. Sie schienen regelrecht zu glühen und den Waldboden in ein angenehm beruhigendes Zwielicht zu tauchen. Die Bäume waren umschlungen von Kristallefeu der des Nachts von Glühwürmchen besucht wurde, welche ihre Eier auf ihm ablegten. Es sah aus als würden sie durch ein Gespinst aus Glas fliegen wenn sie über die durchsichtigen Ranken glitten. Nachtfalter, die am weitesten verbreitete Schmetterlingsart auf Vinosal, schwirrten durch die Luft und gaben sich ihrem nächtlichem Liebesspiel hin.
Süße Heimat. Bald werde ich dich wiedersehen. Dann bin ich fern von diesen finsteren Wäldern und trostlosen Steppen der Menschen. Plötzlich ließ ihn ein Geräusch aus seiner Träumerei aufwachen. In einem der Gebüsche vor sich nahm der Elf ein leises Rascheln war. Na also. Sieht so aus als gäbe es zum Abschied noch ein Festbankett. Den Spuren nach zu urteilen würde ich sagen du bist ein Moosschwein. Langsam glitt Befays Hand unter seinen Umhang und zog eines der Wurfmesser hervor die er an seiner Unterarmschiene befestigt hatte. So einen Leckerbissen habe ich ja schon lange nicht mehr…
„WAS?! DU?!“ Aus dem Gebüsch, in welchem Befay sein Moosschwein vermutete, erhob sich plötzlich der Kopf von Kumar. Der Mensch schien beinahe ebenso überrascht wie der Elf zu sein, besann sich jedoch schnell wieder und trat den Rückzug an. Befay hingegen stand mit offenem Mund ungerührt da und überlegte, ob er das eben Erlebte vielleicht geträumt haben könnte. „Ja ist das denn möglich? Hab ich vom Feenschnaps genascht!?“ Es dauerte noch ein paar Sekunden, da drang das Geräusch eines brechenden Astes an Befays Ohr und holte ihn aus seiner Starre heraus. „Verdammt! Er ist es wirklich.“
Wieder bei Sinnen machte sich der Elf an die Verfolgung, konnte aber
immer noch nicht begreifen wie der Mensch es unbemerkt aus dem Lager geschafft hatte. Denn Elynos hatte ihn sicher nicht einfach so ziehen lassen.
Ich denke Melyna hat die Menschen alle mit einem Schlafzauber belegt?! Auf niemanden ist Verlass.
So ungern Befay dies auch zugeben würde, er hatte seine Probleme damit dem Menschen auf der Fährte zu bleiben. Er selbst verursachte bei seinem Lauf durch das Gestrüpp dermaßen viel Lärm, dass es ihm schwer fiel auf Kumars Schritte zu lauschen. Schlussendlich jedoch machten sich die elfische Gewandtheit und das übermenschliche Geschick des Kriegers bemerkbar. Befay konnte nun sehen, dass der Flüchtende an einer Schlucht zum Stehen gekommen war und einen Weg suchte um diese zu überqueren.
„Was ist los mit dir? Bist du von Sinnen?“
Der Mensch bemerkte die aufgeregt schreiende Stimme des Elfen der hinter ihm aus dem Gestrüpp brach und nahm eine abwehrende Haltung ein. Befay merkte sofort, dass hier etwas nicht stimmte. Kumars Augen waren blutunterlaufen und glasig. In ihnen ruhte der Blick eines Wahnsinnigen. Hastig und verstört blickten sie umher, so als würden sie immer noch nach einem Versteck suchen. Mit einer beschwichtigenden Geste schritt der Elf langsam auf den Menschen zu. Das Wurfmesser versteckte er dabei geschickt in seiner rechten Hand.
Der ist ja völlig verrückt. Ich muss ihn irgendwie von dem Abgrund wegbekommen.
Befay hatte Angst, dass der Mensch nicht auf seine Schritte achtete während er vor dem Elf zurückwich und in die Schlucht stürzen würde. Langsam begann er damit einen weiten Bogen zu gehen um Kumar dazu zu bringen ihn nicht aus den Augen zu lassen.
„Warum läufst du vor mir weg? Wir haben dir dein Leben gerettet.“
Der Mensch sah nicht so aus als würde Befays Stimme in seinen Geist vordringen. Wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte, suchte der Flüchtling nach einem Ausweg. Doch der Plan des Elfen funktionierte. Kumar war dermaßen darauf bedacht den Elfen nicht aus den Augen zu lassen, dass er sich zu ihm hindrehte und sich langsam von der Schlucht weg bewegte.
Es klappt. Noch ein paar Schritte und ich kann ihn mir greifen, ohne dass ich Gefahr laufe ihn in die Schlucht fallen zu lassen.
Kumar schien jetzt zu bemerken, dass ihn der Elf geschickt von der Schlucht weggedrängt hatte und blickte diesem nun direkt in Augen. Plötzlich ging alles so schnell, dass selbst Befay Probleme damit hatte zu begreifen was geschehen war. Kumars Gesichtszüge änderten sich schlagartig von einem verstörten Ausdruck hin zu einer hassverzerrten Fratze. Befay wurde schlagartig klar, dass er in eine Falle getappt war. Der Mensch wollte ihn an den Rand der Schlucht locken um ihn hinunter zu stoßen.
„MÖRDER!“
Mit einem Schrei, der puren Hass in sich trug, sprang Kumar vor und griff nach dem Umhang des Elfen. Dieser duckte sich seitlich weg und tauchte unter dem Körper des Angreifers hindurch. Die Spange, welche den Umhang vor Befays Brust zusammenhielt, riss und gab den wirbelnden Stoff frei. Der Elf warf sich in Richtung des taumelnden Angreifers und versuchte ihn von dem finsteren Abhang abzudrängen. Doch dabei vergaß er das Wurfmesser in seiner Hand. Die scharfe Klinge drang bis zum Griff in den Rücken des Menschen ein und lies diesen überrascht aufschreien. Halb gefangen in dem Umhang des Elfenkriegers und mit einer tödlichen Wunde versehen, stürzte Kumar über den Rand der Schlucht und verschwand in der Dunkelheit. Befay konnte noch hören wie der Körper des Stürzenden gegen mehrere Felsvorsprünge schlug und über die steinigen Wände der Schlucht rutschte. Es erschien dem Elf beinahe so als stürzte der Mensch ins Bodenlose. Nach ein paar Herzschlägen war schließlich nichts mehr zu hören und Befay war wieder von der altbekannten Stille des Waldes umgeben.
Wie soll ich das nur Elynos erklären? Die Menschen scheinen sich gegen die Götter versündigt zu haben. Entweder das oder der Dunkelgott überzieht mit seiner Macht das Blut dieser Familie.
Abschied in Isamaria
„Ihr werdet unter dem Schutz der Weisen stehen. Das verspreche ich euch.“ Elynos wusste nicht was er den Jungen zum Abschied noch sagen sollte. Dass einer seiner eigenen Männer am Tod ihres Vaters beteiligt war erleichterte es nicht gerade das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. „Was geschehen ist, tut mir sehr leid. Bitte glaubt mir wenn ich euch sage, dass wir alles getan haben was in unserer Macht stand um eure Eltern zu retten. Doch das Böse hat leider viele Diener. Und wir vermögen nicht sie alle aufzuhalten.“
Es war gleichgültig was Elynos sagte. Die Kinder starrten weiterhin an ihm vorbei und beachteten keines seiner Worte. Der Elf merkte wie sehr ihn die Missachtung der Kinder verletzte. Seit der Nacht, in der sie ihre Mutter verloren hatten, sprachen sie kein einziges Wort mehr. Es war Elynos sehr schwer gefallen ihnen vom Unglück zu erzählen, das ihnen nun auch ihren Vater genommen hatte. Sogar Befay hatte sich bei den Kindern entschuldigen wollen. Schließlich war der Mensch auf der Flucht vor dem Elfenkrieger gewesen als er sein Leben ließ. Dass er kurz von seinem Tod den Verstand verlor und Befay angreifen wollte, behielt der Schwertkämpfer für sich. Elynos ließ jedoch nicht zu, dass sein Freund die Schuld auf sich nahm. Er wollte nicht, dass die Kinder in dem Elfen einen Henker sahen der ihnen den Vater genommen hatte. Deshalb erzählte er ihnen, dass ihr Vater des Nachts schlafwandelte und dabei verunglückte. Die Zeit ihnen die Wahrheit zu erzählen würde sicherlich noch kommen. Doch jetzt war es noch zu früh dafür. Elynos beschloss sie nach Isamaria zu bringen wo sie unter dem Schutz des Rates der Weisen stehen würden. Er und seine Gefährten würden, anders als geplant, nach Vinosal zurückkehren und ihren Herrschern erzählen was passiert sei. Dass die Kinder den Anschlag der Schattenelfen überlebt hatten, würde der Elfenfürst jedoch verschweigen. Er wusste, dass das Leben der Kinder in Gefahr sein würde, wenn die Schattenkinder von ihnen erfuhren. Befay hatte seinen Anführer darum gebeten in Isamaria bleiben zu dürfen. In seinem Inneren plagten ihn immer noch schwere Schuldgefühle die ihm sagten, dass er den Tod des Menschen zu verantworten hatte. Nun wollte er als Beschützer der Kinder in der Wolkenstadt bleiben und dafür sorgen, dass sie in Sicherheit waren. Außerdem wollte er den Rat der Weisen um Erlaubnis bitten sie ausbilden zu dürfen. Elynos hatte diese Nachricht mit gemischten Gefühlen aufgenommen und seinen Freund gebeten ihm einen Tag Bedenkzeit zu lassen. Jetzt musste er sich erst einmal von den Kindern verabschieden und mit Rahbock sprechen. Der alte Mann war derjenige gewesen der Elynos gebeten hatte auf das Leben von Alkeers Familie Acht zu geben.
„Ich übergebe euch nun in die Obhut von Bremax. Er wird euch euer neues zu Hause zeigen und dafür sorgen, dass es euch an nichts fehlt.“
Ein großer, hagerer Mann fortgeschrittenen Alters trat auf die Kinder zu. In seinem Gesicht konnte man Würde und Selbstsicherheit erkennen. Seine Kleidung zeichnete ihn als einen der engsten Vertrauten des Rates aus. Er trug ein purpurnes Gewand mit großen Ärmelaufschlägen und darunter ein geschnürtes Hemd, welches mit allerlei Silberzeug bestickt war. Seine schwarzen Schuhe verursachten ein fröhliches Klackern während er über den kostbaren Marmorboden schritt. Sein graues Haar trug er zu einem kurzen Zopf gebunden. Mit einem einladenden Lächeln begrüßte er die beiden Jungen.
„Ihr zwei müsst Vahin und Ralepp sein. Lasst mich raten…“ Bremax musterte die beiden von Kopf bis Fuß. „Du bist bestimmt Vahin. Kräftig siehst du aus für dein Alter. Ich würde glatt wetten, dass du in der Lage bist meinen Hund hochzuheben. Er ist sehr eigensinnig, weißt du. Mit Ausnahme von mir lässt er sich nur von Kindern anfassen. Er mag keine Erwachsenen.“ Bremax hatte wohl gehofft mit Erwähnung seines Hundes Vahins Interesse geweckt zu haben. Doch der Junge starrte weiterhin ins Leere. „Naja. Ihr werdet ihn ja nachher noch kennen lernen. Und du…“, wandte sich der kauzige Mann an Ralepp, „… musst sein kleiner Bruder Ralepp sein. Mmmmh. So klein siehst du mir gar nicht aus. Euch beide trennen doch höchstens zwei Sommer. Nicht mehr lange und du wirst eine echte Konkurrenz für deinen Bruder.“ Auch Ralepp ging nicht auf die freundlichen Worte des Mannes ein. Doch der ließ sich von seiner guten Laune mit keinem Stück abbringen. Ein kurzes Nicken zu Elynos genügte, um dem Elfen zu versichern, dass der alte Bremax alles unter Kontrolle hatte. Auffordernd schob der alte Mann die Kinder vorwärts, um ihnen ihr neues Heim zu zeigen. Elynos konnte noch hören wie er anfing den Kindern Geschichten zu erzählen. „Wisst ihr, ich war nicht immer so alt wie jetzt. Also zumindest nicht bei meiner Geburt. Als ich geboren wurde war ich eigentlich noch nicht mal ein Jahr alt. Könnt ihr euch das vorstellen? Ich…!“
Mit einem wehmütigen Schmunzeln blickte Elynos dem Dreiergespann hinterher.
Lebt wohl. Ich hoffe wir sehen uns eines Tages wieder.
Die Prophezeiung aus der alten Zeit hatte sich erfüllt. Das Blut des Auserwählten wurde geschändet und sie hatten es nicht verhindern können. Sie waren fünf der tapfersten Krieger, die jemals auf Berrá gewandelt waren. Mehr als einmal haben sie den Tod um seine Beute gebracht und das Dunkel von ihrer Heimat ferngehalten. Sie gehörten den Besten im Kampf mit dem Schwert und dem Bogen an. Ihre Geschicklichkeit war selbst unter Angehörigen ihres eigenen Volkes berüchtigt. Die Herrscher entsandten sie in der Vergangenheit immer wieder, wenn es darum ging große Herausforderungen zu bestehen. Doch bei dieser Mission wurden sie nicht von ihren Anführern geschickt. Sie hatten sogar genau das Gegenteil getan. Ohne Zustimmung der Allwissenden, wie die Führer ihres Volkes auch genannt werden, zogen sie aus um sich gegen die Erfüllung der Prophezeiung zu stellen. Doch sie kamen zu spät. Verblendete Artverwandte, die von Angst getrieben einen dunklen Pfad beschritten, taten was sie eigentlich verhindern sollten. Sie vergossen das Blut jener Frau die einst den Auserwählten gebar. Ermordet mit einer rituellen Klinge, bereitete ihr Tod den Weg zum größten Verderben, welches Berrá seit Jahrtausenden bedrohte.
Die Mörder der Menschenfrau wurden noch in derselben Nacht für ihre Tat gerichtet. Und so wurde das, was für die fünf Krieger als Mission des Guten begann, zum Auftakt ihres eigenen Untergangs. Denn eines wurde in ihrem Volk besonders schwer bestraft. Der Mord an den eigenen Artgenossen. Sie waren ein Volk der Unsterblichen. Über viele tausend Jahre reiften Geist und Körper zu einem Wesen des Wissens und Stärke heran. Wissen das es zu bewahren galt. Jeder Tote wurde als unwiederbringlicher Verlust für das ganze Volk angesehen. Und sie wurden nun für den Verlust dieser drei Seelen verantwortlich gemacht. Die Herrscher der Schattenkinder würden nicht eher Ruhe geben, bis jeder ihrer Toten gerächt wurde. Doch in den Augen der fünf Elfenkrieger gab es nun Wichtigeres zu tun. Es galt die Herrscher zu überzeugen den freien Völkern Obarus im Kampf gegen das Dunkel beizustehen. So fassten sie den Entschluss in ihre Heimat zurückzukehren um ihr Volk zu einem neuen Bündnis mit den Menschen zu bewegen. Doch einer von ihnen ging nicht mit seinen Gefährten. Von Gefühlen der Schuld geplagt, blieb er im Reich der Menschen um für die Söhne der ermordeten Mutter zu sorgen, während seine Freunde einen anderen Weg suchten um das Böse aufzuhalten.
Dies ist die Geschichte, der fünf Messer des Ostens. Dies ist die Geschichte von Elynos, Melyna, Insani, Lathivar und Befay. Während letztgenannter in Isamaria bleibt, um sich um Vahin und Ralepp zu kümmern, segeln die anderen Elfenkrieger zurück nach Vinosal. Sie wollen die Verantwortlichen für das Attentat auf Alkeers Familie finden und die Allwissenden davon überzeugen, sich den Menschen im Kampf gegen das Böse anzuschließen. Doch ahnen sie noch nicht was sie in ihrer Heimat erwartet. Denn nicht nur die Menschen wurden in die geheimen Pläne des Dämons eingebunden. Seine Hand greift nach nichts geringerem als der absoluten Herrschaft über alles Leben. Und so hat der Eine auch in die Herzen der Elfenvölker geblickt und ihre Schwächen erkannt. Die Uneinigkeit zwischen Hochelfen und Schattenkindern ist dabei sein größter Verbündeter. Er muss nichts weiter tun als abzuwarten, bis dieser traurige Konflikt seinen Höhenpunkt erreicht und er auch den letzten Winkel Berrás mit seinem Schatten überziehen kann. Doch noch ist es nicht soweit. Der Eine ist noch nicht stark genug um es mit dem mächtigen Volk Vinosals aufnehmen zu können. Zuerst muss er die freien Völker Obarus unterjochen. Das verschafft Elynos und seinen Kameraden die Zeit die sie brauchen. Zeit um ihre Heimat zu warnen. Zeit um die Soldaten auf den Krieg vorzubereiten. Zeit um eine uralte Macht aus ihrem Schlaf zu reißen, damit das Böse aufgehalten werden kann.
Während Elrikh und seine Gefährten nach Antworten suchen…
Während Befay die Menschenkinder auf ihr Erbe vorbereitet…
Während die Nomaden ihre Armee in Stellung bringen…
Während die Druule das Weltentor durchschreiten…
Während der Ostwall wieder aufgebaut wird…
Während in Isamaria beraten wird…
… auf Vinosal.
Ein Schiff mit nur vier Mann zu segeln war eine Herausforderung derer sie sich schon einmal stellen mussten. Menschen wären mit dieser Aufgabe sicherlich überfordert gewesen. Doch die Elfen waren nicht ohne Grund für ihre besonderen Fähigkeiten bekannt.
Während Insani und ihr Bruder Lathivar sich darum kümmerten die Segel immer wieder neu auszurichten, hatte Melyna das Ruder übernommen. Die Elfenmagierin verfügte über die Gabe der Weitsicht und nutzte dieses Können um das Schiff aus unruhigen Gewässern herauszuhalten. Obgleich ihr Heimatkontinent nur dessen Bewohnern zugänglich war, gab es durchaus Handelsrouten zwischen Vinosal und anderen Gewässern. Und selbstverständlich gab es auch noch jene, die nicht auf dem Elfenkontinent willkommen waren, ihn aber unentwegt aufzuspüren versuchten. Die Elfengruppe wollte weder Händlern noch anderen Schiffen begegnen. Und so kamen sich nicht umhin einige Umwege in Kauf zu nehmen, um ihre Heimat möglichst unbehelligt zu erreichen. Elynos hatte keine Zweifel daran, dass das Schiff der Elfenkrieger sie mittlerweile verfolgte. Zwar hatten sie an der Küste keinerlei Spuren ihrer Artverwandten finden können, aber es war mehr als unwahrscheinlich, dass die Attentäter ohne weitere Unterstützung nach Obaru gekommen waren.
Der Wind hatte gerade aufgefrischt und einen leichten Sprühregen mit sich gebracht. Melyna zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht, um sich davor zu schützen, als das Ende eines dicken Taus neben ihr auf dem Steuerdeck landete. Sie blickte nach oben und erkannte Lathivar, der ihr etwas zurief.
„Binde es am Poller fest!“
„Woran?“
„Am Poller. Dem Holzpflock da drüben.“ Der Elf schwang sich zwischen den Seilen hindurch und deutete auf eine Reihe von kegelförmigen Hölzern, welche allesamt an der Reling befestigt waren. „Nun mach schon!“
Melyna stellte das Ruder fest und ging zu dem Tau um es aufzuheben.
„Warum diese Eile? Die See ist ruhig und es ist kein Unwetter in Sicht.“
Ihr Kamerad blieb ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen verschwand er wieder zwischen den Segeln und ging seiner Arbeit nach. Melyna zurrte das Tau so gut sie konnte um einen der Poller und ging dann wieder an das Ruder zurück. Es war nicht das erste Mal, dass Lathivar ihr Anweisungen gab und es dabei an Höflichkeit mangeln ließ. Seitdem sie mit dem Schiff Obaru verlassen hatten, lag eine nahezu greifbare Anspannung in der Luft. Und der blonde Bogenschütze trug einen nicht unerheblichen Teil dazu bei. Bemüht sich von der fragwürdigen Laune ihres Gefährten nicht anstecken zu lassen, konzentrierte sich die Magierin wieder auf ihre Arbeit. Da bemerkte sie plötzlich Elynos. Der Anführer der kleinen Gruppe schritt über das Deck und begrüßte Melyna mit einem leichten Schmunzeln.
„Dein Gesicht spricht für sich selbst. Lathivar?“
Melyna nickte.
„Wer sonst? Es vergeht kaum eine Stunde in der er nicht irgendetwas findet das er an mir auszusetzen hat.“
Der Fürst stellte sich neben seine Kameradin und blickte über das blaue Meer hinaus. Auf hoher See konnte es sehr friedlich sein. Ein Frieden, welchen sie an Land zuletzt nicht gefunden hatten.
„Das liegt nicht an dir. Ich habe mitbekommen, dass er Insani auch keine ruhige Minute lässt. Nimm es dir also nicht zu Herzen.“
„Zu Herzen? Jetzt übertreibst du aber. Ich kann es nur nicht leiden, wenn jemand die ganze Zeit um mich rumschleicht und nur darauf wartet, dass ich etwas falsch mache. Denn dann mache ich auch etwas falsch. Was ist denn bloß los mit ihm?“
Ehe Elynos auf diese Frage antwortete, zog er einen Sextanten heraus und überprüfte den Kurs des Schiffes. Ein zufriedenes Zwinkern ließ Melyna wissen, dass das Ruder richtig lag.
„Lathivar kennt sich von uns allen am besten mit Schiffen aus. Das weißt du. Er macht sich einfach Sorgen, dass uns dieses bescheidene Wassergefährt nicht bis nach Vinosal trägt. Und diese Sorge nehme ich durchaus ernst.“
„Pffft. Auf mich wirkt er einfach nur nervös und überheblich. Wenn du mich fragst, ist ihm die lange Zeit der Rast nicht bekommen.“
Elynos verstaute den Sextanten in einer Kiste, die neben dem Ruder stand und löste Melyna am Steuer ab. Die Elfe ließ sich nicht lange bitten und griff zu ihrem Proviant um sich zu stärken.
„Wie meinst du das? Lange Zeit der Rast? Seit der Barinsteppe…“
„Ich spreche nicht von dem was jüngst geschah, sondern von den letzten Jahren. Seit dich die Allwissenden nach Obaru schickten und unsere Gruppe getrennt wurde, gab es nichts für uns zu tun. Du kennst mich, Elynos. Mir macht die Ruhe nichts aus. Mein Geist hat sich an der Stille gelabt. Doch Lathivar ist anders. Er und Befay haben den Kampf immer mehr gesucht als der Rest von uns. Vielleicht taten sie es weil sie es wollten. Vielleicht aber auch, um uns vor den Schrecken des Tötens zu schützen. Doch das spielt keine Rolle. Tatsache ist, dass sowohl Befay als auch Lathivar immer nach einer Aufgabe gesucht haben an der sie sich beweisen konnten.“
„Geht es uns nicht allen so?“
„Du weißt, dass das nicht dasselbe ist. Jeder strebt nach Erfüllung im Leben. Doch bei diesen beiden war es anders.“ Melyna nahm einen Zug aus ihrem Wasserschlauch. „Als du uns zu dich geholt hast, hättest du Lathivar sehen sollen. Er wäre am liebsten den ganzen Weg von Vinosal nach Obaru geschwommen um keine Zeit zu verlieren. So ging es auch Befay. Die beiden verbindet seit dem Trollkrieg etwas Besonderes. Und jetzt da sie wieder getrennt wurden und wir nicht wissen was uns in der Heimat erwartet wird Lathivar unruhig. Er sieht sich bereits wieder als Lehrmeister auf Jünglinge aufpassen. Oder als Meldereiter, der die Arbeit einer Brieftaube übernimmt.“
Elynos schüttelte den Kopf.
„Wie kommst du nur auf solche Ideen? Du weißt doch was ganz Berrá erwarten wird, wenn das eintritt vor dem wir uns alle fürchten. Unsere Herrscher werden nicht auf uns verzichten…“
„Wie kannst du dir da nur so sicher sein?“, unterbrach sie ihren Anführer erneut. „Wenn es eine Sache gibt, die sie nicht ausstehen können, dann ist es Ungehorsam. Und bei dem Einfluss, welchen die Schattenkinder in den letzten Jahren aufgebaut haben, werden sie alles daran setzen uns wieder gefügig zu machen. So oder so. Du hast auf Obaru nicht allzu viel davon mitbekommen, Elynos. Aber in den letzten Jahren war es uns anderen möglich einen gewissen Abstand zu den Herrschenden aufzubauen. Jeder ging seiner Wege und vermied es aufzufallen. Die Allwissenden schienen gut damit leben zu können und gewährten uns unsere Freiheiten. Doch nach dem was wir auf Obaru getan haben wird es damit vorbei sein. Das weißt du. Selbst wenn wir durch ein Wunder unsere Unschuld beweisen können, werden uns die Allwissenden künftig unter ihrer Kontrolle halten wollen.“
Für einen Moment legte sich Stille über das Schiff. Nur der leise Wind in den Segeln war zu hören und in der Ferne der Ruf einer einsamen Möwe. Elynos dachte an seine Heimat und wie sie sich verändert hatte. Veränderung hatte in der Welt des Elfenvolkes niemals einen großen Stellenwert gehabt. Sie schätzten Beständigkeit und Altbewährtes. Viele von ihnen sahen darin eine Stärke. Doch dieser Fürst fing an sich zu fragen, ob es nicht vielmehr eine Schwäche sein könnte. Er dachte an die Straßen von Ilbanas und die vielen Häuser, welche schon seit Generationen von denselben Familien bewohnt wurden. Er dachte an jene Dinge, die seine Gefährten sich für ihre Zukunft vorgenommen hatten. Für eine Zukunft ohne den Dienst unter den Allwissenden. Sie waren im Begriff diese Zukunft zu verlieren. So wie Elynos im Augenblick das Steuer des Schiffes in seinen Händen hielt, konnte er auch das Schicksal seiner Freunde steuern.
„Ich führe diese Gruppe an. Und ich werde mich für das verantworten was wir getan haben. Was wir tun mussten. Weder du noch Lathivar oder Insani, werden dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Das werde ich nicht zulassen.“
Die Ernsthaftigkeit seiner Worte, hatte Melyna nicht davon abgehalten ihre Mahlzeit zu sich zu nehmen. Sie spülte den letzten Bissen Trockenobst mit einem erneuten Zug aus dem Trinkschlauch hinunter und bedeutete Elynos anschließend ihr wieder das Ruder zu überlassen.
„Wir alle haben unseren Platz auf dieser Welt. Einige können sich aussuchen wo dieser Platz sein soll, einige jedoch auch nicht.“ Ihre tiefgrünen Augen fingen Elynos Blick ein. „Als wir die Schattenkinder in der Steppe töteten verloren wir unser Recht auf Selbstbestimmung. Sofern wir es denn jemals besaßen. Deine Opferbereitschaft ehrt dich. Doch an deiner Theatralik musst du noch arbeiten.“ Sie griff das Steuerrad und richtete ihren Blick wieder auf den Bug des Schiffes aus. „Du und Lathivar. Ihr habt vielleicht mehr gemeinsam als er und Befay. Ihr habt beide das Bedürfnis für etwas Buse zu tun. Doch im Gegensatz zu unserem Freund, scheinst du es kaum erwarten zu können.“
Dass Elynos nichts sagte, sondern schweigend unter Deck verschwand, war für Melyna Antwort genug. Sie wusste, dass er bereit war die schlimmste aller Strafen auf sich zu nehmen um die anderen zu schützen. Doch auch damit wäre niemandem geholfen. Es musste sich etwas Grundlegendes in ihrem Volk verändern damit es überleben konnte.
„Die Nächte auf See sind so kurz. Das erscheint mir immer wieder unheimlich. Dir nicht auch?“
Lathivar sah seine Schwester mit skeptischem Blick an.
„Nein. Es gibt hier einfach keine Berge oder Wälder. Deswegen sehen wir die Sonne länger. Aber die Nächte sind trotzdem genauso lang wie an Land.“
„An dir ist wahrlich ein Poet verloren gegangen.“
Insani griff sich eines ihrer Wurfmesser und begann damit es über einen Wetzstein zu ziehen. Seitdem die Gruppe auf See war gingen sie und ihr Bruder jede Nacht dasselbe Ritual durch. Sie schärften, spitzen und polierten ihre Waffen. Dieser Beschäftigung waren Lathivar und Befay in der Vergangenheit immer nachgegangen. Die Gefährten hatten in vielen Schlachten miteinander gekämpft. Irgendwann war es zur Gewohnheit geworden, die Waffen jede Nacht aufzuarbeiten. Auch wenn sie tagelang nicht benutzt wurden. Insani hatte schnell bemerkt, dass es für ihren Bruder und den Schwertmeister nur eine Ausrede war, um Zeit miteinander verbringen zu können. Keiner von beiden wollte es damals zugeben. Aber sie genossen die Gesellschaft des anderen. Beiden wohnte ein gewisser Sarkasmus inne. Eine Charaktereigenschaft die bei Elfen nicht sehr verbreitet war. Wahrscheinlich mochten sie sich deswegen so sehr. Die Elfenkriegerin schmunzelte in sich hinein und empfand im selben Augenblick auch ein wenig Trauer. Denn der eben noch belächelte Sarkasmus ihres Bruders, entsprang einer inneren Verbitterung, welche ihn von Zeit zu Zeit in eine andere Person zu verwandeln schien. Insani hatte es schon miterlebt. Im Kampf oder wenn es zu Streitereien mit Höhergestellten kam. In Lathivars Augen war dann ein Funkeln zu sehen, welches von seinen Gefährten bereits als unheilvoller Vorbote erkannt wurde.
Insani erkannte, dass ihr Bruder nicht bei der Sache war.
„Du denkst schon wieder an das Schiff. Nicht wahr? An den knarrenden Kiel, die löchrigen Segel…“
„Einer muss es ja tun“, entgegnete Lathivar blitzartig. „Elynos hat das erstbeste Schiff genommen was er kriegen konnte. Wobei ich das Wort „Beste“ gar nicht in den Mund nehmen möchte. Das Ruder ist so verrottet, dass wir froh sein können den Kurs zu halten. Die Hälfte der Wanten fehlen oder sind gerissen. Der Rumpf…“
„Ich kann es nicht mehr hören. Und die anderen auch nicht.“ Sie warf ihrem Bruder einen strengen Blick zu. „Jenes Schiff, welches uns von Vinosal nach Obaru gebracht hat, wäre auch mir für die Heimreise lieber gewesen. Aber Elynos hielt es für das beste damit die Leichen der Schattenkinder verschwinden zu lassen. Langsam glaube ich, dass dir der Zustand des Schiffes eigentlich völlig egal ist.“
„Was willst du damit sagen?“
„Damit will ich sagen, dass du noch nie damit umgehen konntest wenn etwas mal nicht ganz nach Plan verlaufen ist. Du treibst uns andere an als würde dein Leben davon abhängen. Hör endlich auf damit.“ Insani nahm ihrem Bruder sein Messer aus der Hand und legte es zur Seite. Sie hatte nicht das Gefühl, dass ihre Worte etwas bei Lathivar zu bewirken schienen. „Wir sind jetzt hier und halten Kurs auf Vinosal. Was willst du denn noch? Willst du wieder zurück nach Obaru? In der Wolkenstadt den alten Männern zuhören wie sie über irgendwelche Omen philosophieren? Du konntest es doch kaum erwarten die Heimreise anzutreten. Und jetzt?“ Zu Insanis Überraschung, wusste Lathivar nichts zu erwidern. „Er fehlt dir.“
„Wer?“
„Wer? Mach dich nicht lächerlich. Befay natürlich. Du hattest gehofft, dass wir alle schnell wieder nach Vinosal zurückkehren und ihr euch in euer nächstes Abenteuer stürzen könnt. Irgendwelche Ogerhorte ausheben, Steinlöwen jagen und Sumpfhexen köpfen. Man könnte meinen ihr zwei seid immer noch unreife Jünglinge.“
„Das klingt beinahe so, als ob wir uns diese Dinge ausgesucht hätten. Du weißt genau, dass es nicht so ist. Unsere Herrscher…“
„Haben euch… haben uns vor die Wahl gestellt. Seien wir doch ehrlich mit uns selbst, Lathivar. Wir haben noch nie in die Gesellschaft unseres eigenen Volkes hineingepasst. Als man Elynos den Befehl über uns gab, wurde lediglich versucht unserem Treiben einen Sinn zu geben. Die Allwissenden wollten uns aus den Augen haben. Das ist die ganze Wahrheit. Keine Kampftruppe die ich kenne, ist mit solch unrühmlichen Aufgaben bedacht worden wie die unsere. Und doch haben wir stets unser Bestes gegeben. Ich habe gesehen wie Befay und du im ständigen Zwiespalt gelitten habt. Auf der einen Seite wolltet ihr euch nie anpassen. Euch den Allwissenden verweigern. Doch auf der anderen Seite wolltet ihr euch Achtung verdienen und habt dafür jede Mission angenommen, für die sich andere niemals hergegeben hätten.“
Lathivar nahm sein Messer zurück und erhob sich. Seine Gesichtszüge wirkten im Mondlicht verhärtet und kaum zu deuten. Auch seine Stimme schien jegliche Emotion verloren zu haben.
„Ich tue wozu ich geboren und ausgebildet wurde. So wie wir alle. So wie Befay. Wenn du einen anderen Weg kennst, wie ich meinem Leben einen Sinn geben kann, dann zeig ihn mir. Bitte. Aber wenn nicht, dann akzeptiere was ich tue und was ich fühle.“ Lathivar ließ den Kopf sinken und atmete durch. Das Plätschern der Wellen, welche an die Schiffswand schlugen, wirkte wie ein ermattender Herzschlag. „Ich hasse es solche Gespräche mit dir zu führen. Lass uns einfach tun wozu wir hier sind und dann werden wir schon sehen wohin uns dieser Weg führt.“
Insani antwortete nur mit einem stummen Nicken. Ihr Bruder hob seine Waffen auf und begab sich anschließend zum Steuerdeck um Melyna abzulösen. Seine Schwester sah ihm nachdenklich hinterher. Ein Kampf gegen eine Bande von Ogern wäre ihr lieber gewesen, als sich mit Lathivar zu streiten. Insani verspürte keine Lust mehr sich länger um ihre Klingen zu kümmern. Sie nahm ein schmales Holzstäbchen zur Hand und fing an ihren geflochtenen Zopf aufzutrennen, nur um ihn anschließend wieder sorgfältig neu zu binden. Dabei dachte sie an eine längst vergessene Zeit zurück. Als ihre Mutter noch lebte und ihr jeden Abend die Haare flocht. Sie erzählte Insani dabei immer, dass sie eines Tages sicherlich einen stattlichen jungen Fürsten heiraten würde und ein Leben als edle Hofdame führen würde. Als Kind schien ihr dieser Gedanke noch verlockend zu sein. Doch als sie anfing mehr Zeit mit ihrem Bruder bei der Jagd zu verbringen, änderten sich die Interessen der begabten Fährtenleserin. Ihr Vater war damals sehr stolz auf sie gewesen, zeigte dies aber vor ihrer Mutter nicht so häufig, da er um deren Abneigung für Insanis neu entdeckte Interessen wusste. Die Kriegerin seufzte und schickte ein stummes Gebet zum Himmel. Ihre Eltern waren nun schon seit über zweihundert Jahren tot. Und dennoch war es so, als wären sie immer noch da und beobachteten jeden Schritt ihrer Kinder. Insani gehörte nicht zu den Gläubigen ihres Volkes. Sie achtete die alten Sitten, unterwarf sich ihnen jedoch nicht. Ob es ein Dasein für die Seelen der Elfen nach dem Tod gab wusste sie nicht, aber sie wollte um ihrer Eltern Willen darauf hoffen. Nachdem sie ihren Zopf fertig geflochten hatte machte sie sich ihr Nachtlager zurecht und ließ sich von den sanften Wellen in den Schlaf wiegen.
Als wäre sie dem Federkiel eines Dichters entsprungen lag sie vor ihnen. Malerisch und anmutig erhoben sich die leuchtenden Klippen aus dem Meer und gaben in ihrer Mitte den Blick auf eine lang vermisste Landschaft frei. Saftige grüne Wiesen, gespickt mit gewaltigen Himmelsbäumen, die ihren Namen nicht zu Unrecht trugen. Manch einer dieser Riesen schien mit seiner Krone die Wolken zu küssen. Die Landschaft wurde durch farbenprächtige Gewächse verziert. Selbst die Felsen, welche man hier fand, waren von feinster Beschaffenheit. Manche schimmerten wie heller Kristall, andere wie dunkler Obsidian. An einem Hügelkamm konnte man den Ursprung einer Süßwasserquelle erkennen. Der Lauf ergoss sich mit vielen anderen Bächen in einen breiten Fluss, welcher sich in einen gigantischen Wasserfall verwandelte. Am Fuße des Hügels schwebte ein dichter Sprühnebel durch die Luft, der wie feinster Silberstaub wirkte. Der Anblick dieser unwirklichen Landschaft ließ das Herz von Elynos schneller schlagen. Er konnte dem Gedanken der sogenannten Überlegenheit der Elfen nichts abgewinnen. Dennoch war es ihm unmöglich sich der vor ihm liegenden Schönheit zu verschließen. Vinosal war in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Ort. Nur wer hier geboren wurde oder eine Einladung der Herrscher besaß, war imstande den Kontinent über das Meer zu erreichen.
Die Gefährten hatten ihren Kurs so gewählt, dass sie in unmittelbarer Nähe einer weiten Ebene vor Anker gehen konnten. Diese Gegend war nur dünn besiedelt und Elynos gehörte zu den wenigen die sich hier auskannten. Der Elfenfürst ging Lathivar zur Hand, als dieser sich daran machte das Beiboot zu Wasser zu lassen.
„Bis zur Küste ist es nicht sehr weit. Dennoch dürfte keiner von uns trocken bleiben. Es ist mir ein Rätsel wie man so sorglos mit seiner Habe umgehen kann.“
Elynos sah den Bogenschützen fragend an.
„Wie meinst du das?“
Lathivar vergewisserte sich, dass das Boot gerade hing und gab dann ein Zeichen das Haltetau loszulassen. Das löchrige Boot fiel sechs Schritt tief und landete laut auf dem klaren Wasser.
„Ich meine das Schiff. Das Boot. Einfach alles was die Menschen betrifft. Sie schätzen ihre Dinge nur solange wie sie einen Nutzen daraus ziehen können. Ist dieser verschwunden, überlassen sie es sich selbst. Deshalb ist dieses Beiboot so verrottet wie das Schiff. Und das Schiff ist so verwahrlost wie der Hafen in dem wir es stahlen. Und der Hafen…“
„Verschone uns“, unterbrach Melyna ihren Kameraden. „Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass Menschen im Gegensatz zu uns alt werden? Sie werden schwach und krank. Ihre Zeit ist begrenzt auf dieser Welt und ihr Gut ist vergänglich. Du kannst von einem alten Fischer nicht verlangen, dass er…“
„Hört auf!“, ging Elynos dazwischen. „Wir haben wichtigeres zu tun. Also lasst uns so schnell wie möglich an Land gehen und dann nach Hivitur reisen.“
Während die vier Elfenkrieger ihr weniges Gepäck in das Boot warfen und hinabstiegen, machte sich Lathivar Gedanken um die Reisepläne seines Anführers.
„Wieso willst du nach Hivitur? Ich dachte unser Weg sollte uns schnellstmöglich zu den Allwissenden nach Ilbanas führen?“
„Ich habe nicht vor die Herrscherstadt aufzusuchen, ohne uns vorher einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Wie du selbst schon gesagt hast, werden wir vermutlich nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Es könnte nicht schaden ein wenig mehr vorweisen zu können, als ein paar ermordete Schattenkrieger.“
Als alle sich einen halbwegs trockenen Platz im Beiboot gesucht hatten, griffen Elynos und Lathivar nach den Rudern und begannen zu paddeln. Melyna und Insani tauschten derweil vielsagende Blicke aus.
„Was ist mit der Schatulle die du in der Hütte der Menschen gefunden hast? Wirst du den Allwissenden davon erzählen?“
Elynos zögerte ehe er der Magierin eine Antwort gab.
„Ich weiß noch nicht was ich ihnen alles erzählen werde.“
„Sie sind die Allwissenden“, warf Insani in einem spöttischen Ton ein. „Sie sollten es wissen, ohne dass Elynos ihnen davon erzählen muss.“
Bis auf den Elfenfürsten, gaben alle ein bedecktes Lachen von sich. Doch Elynos blieb ernst.
„Das ist Lästerung. Verkneif dir solche Anmaßungen besser wenn du uns Ärger ersparen willst.“ Er beschleunigte den Ruderschlag und beobachtete die einsame Küste. Ein weißer Sandstrand zog sich entlang des Meeres bis hin zu den Ausläufern eines dichten Tannenwaldes. „Wir werden am Küstenwald entlang Richtung Süden ziehen und dann weiter nach Hivitur. Es gibt dort jemanden mit dem ich sprechen muss bevor wir vor die Allwissenden treten.“
Sollten seine Gefährten ahnen was Elynos vorhatte, so ließen sie es sich nicht anmerken. Sie alle wussten, dass der Fürst keine Konfrontation scheute. Schon gar nicht die mit den Elfenherrschern. Doch so ungestüm er manchmal auch wirkte, hatte er immer einen Plan in der Hinterhand. Auch wenn es die anderen nicht aussprachen war ihnen klar, dass sie Ilbanas möglicherweise nie wieder verlassen würden. Es gab nicht viel, was in ihrer Heimat mit dem Tode bestraft wurde. Doch ein Leben in Gefangenschaft verbringen zu müssen war in Anbetracht von Unsterblichkeit kein geringeres Opfer. Die Allwissenden, allen voran Minathen, waren bekannt dafür Verbrecher mit der vollen Härte des Gesetzes zu bestrafen. Doch ihre Güte war ebenso berüchtigt wie ihre Strenge. Elynos war der festen Überzeugung, dass er das Handeln seiner Gruppe nur ins rechte Licht rücken müsse, um sie alle von Schuld freisprechen zu lassen. Und dafür brauchte er Hilfe, welche er sich in Hivitur erhoffte. Die Stadt der Freigeister und Denker, wie Insani es manchmal so treffend ausdrückte. Ein Ort der abseits genug von der Hauptstadt lag, um die Bewohner aussprechen zu lassen was sie dachten, ohne das Konsequenzen gefürchtet werden mussten. Hivitur war für elfische Verhältnisse ein recht trostloser Ort. Zwar war er von Kunst und Schönheit erfüllt, aber im Vergleich zu Ilbanas, war diese Stadt nur ein schemenhafter Platz für all jene, die nicht das Privileg genossen in der Herrscherstadt leben zu dürfen.
Der angeschlagene Rumpf lief auf den Strand auf und die Gefährten machten sich so gleich daran das Boot an Land zu ziehen. Lathivar überlegte wo er es vertäuen könnte, doch dann warf er das Tau achtlos beiseite.
„Zwecklos. Dieser löchrige Haufen Moderholz wird niemanden mehr über das Wasser tragen. Besser wir schieben es zurück ins Meer und gönnen ihm einen friedlichen Schlaf bei den Fischen.“
Elynos nickte und warf einen Blick zurück auf das Schiff, welches sie von Obaru in ihre Heimat getragen hatte. Es lag still auf der ruhigen See und wirkte neben der umliegenden Schönheit völlig fehl am Platze.
„Wir hätten es versenken oder mit losgemachten Segeln auf die offene See schicken sollen. Jeder der es sieht
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: René Pöplow
Bildmaterialien: René Pöplow
Cover: René Pöplow
Lektorat: Keines
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2018
ISBN: 978-3-7438-8467-0
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Onkel Werner, Dieter und Peter.
Hermann Hesse schrieb einst: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Mit dem Ende des Lebens, fängt die Erinnerung an.
So geben wir uns nun dem Zauber der Erinnerungen hin.
Gewidmet
Meiner Schwester Christine
Du hast mich von Anfang an unterstützt. Egal was ich auch gemacht habe, egal was für Entscheidungen ich getroffen habe, du hast immer zu mir gehalten. Es ist nicht schwer jemandem beizustehen wenn er auf Erfolgskurs segelt. Doch es erfordert wahre Treue jemandem beizustehen der, entgegen jeder Vernunft, immer nur seinem Herzen folgt. Mehr als einmal hat mein Herz meinen Kopf überlistet. Vielleicht war nicht jede Entscheidung in meinem Leben richtig, doch sie hat mich zu dem gemacht was ich bin. Danke, dass du mich dabei unterstützt hast.