René Pöplow
Kurzgeschichten aus Berrá
Der TotenVERgräber
1. Auflage 2012
© René Pöplow
Sämtliche Rechte liegen beim Autor.
Illustration: Sarah Bergmann
Ähnlichkeiten mit toten oder noch lebenden Personen, sowie geschichtlichen Ereignissen sind Zufall und vom Autor nicht beabsichtigt.
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„Wenn ihr mich nicht gefunden hättet, wäre ich verloren gewesen. Ich kann immer noch nicht verstehen, wie ich mich derart im Wald verlaufen konnte.“
Der junge Bursche zog sich die Decke enger um seine Schultern und vergrub das Gesicht dahinter. Die ganze Nacht hatte er damit zugebracht, durch den dunkeln Wald zu irren. Obgleich die Blütezeit bereits in vollem Gange war und angenehm warme Tage bescherte, konnten die Nächte dafür umso kälter sein. Ohne ein wärmendes Feuer hätte er diese Nacht vielleicht nicht überstanden.
„Du musst mich nicht anreden als wäre ich ein hoher Herr. Mein Name ist Nassiehm.“ Die rasselnde Stimme des kleinen Mannes passte zu seinem gebrechlich aussehenden Körper. Der Junge konnte sich nicht erklären wie der alte Kauz es geschafft hatte, ihn zu seiner Hütte zu tragen. „Und wie ist dein Name?“
Erschrocken stellte der Bursche fest, dass er sich noch gar nicht vorgestellt hatte. Mit hochrotem Kopf entschuldigte er sich.
„Ich bin… ich heiße… ich… habe keinen Namen.“
Nassiehm drehte sich um und ging zum Kamin hinüber. Der Junge bemerkte sofort, dass neben der Feuerstelle ein großer Schürhaken stand.
„Du gehörst zu den Sklaven der Südländer, nicht wahr? Ich habe gehört, dass eines ihrer Schiffe vor der Küste von Obaru auf Grund gelaufen ist. Man erzählt sich, dass einige ihrer Sklaven geflohen sind und nun durch unsere Wälder streifen.“
Der Bursche sah sich hektisch um. Normalerweise hätte er vor einem Mann wie Nassiehm keine Angst gehabt. Die harte Arbeit, die er seit seiner Kindheit verrichten musste, hatte seinen Körper gestählt und ihm einen wachen Geist verschafft. Mit seinen sechzehn Sommern hatte er bereits den Körper eines erwachsenen Holzfällers. Doch allen Selbstbewusstseins zum Trotze bekam er ein ungutes Gefühl, als er den alten Mann neben dem Schürhaken stehen sah. Eine ungewöhnliche Ausstrahlung ging von ihm aus, welche der Bursche nicht einzuschätzen vermochte.
Er weiß, dass ich einer der Sklaven bin. Verdammt! Sicherlich wird er versuchen mich solange aufzuhalten, bis die Südländer hier auftauchen. So arm wie er aussieht, wird er die Kupferstücke gut gebrauchen können.
Der junge Sklave erblickte einen kleinen Haufen mit Holzscheiten neben sich. Unauffällig ließ er seinen Blick über den Stapel gleiten und hoffte einen geeigneten Knüppel zur Verteidigung zu finden. Als er an dem Alten vorbeischaute, sah er wie dieser gerade etwas in die Hand nahm und sich über das Feuer beugte.
Er will den Haken wohl erst heiß machen, wie? Aber so leicht werd ich es dir nicht machen!
Der Junge nahm eines der Holzscheite in die Hand und schlich leise über den hölzernen Dielenboden der alten Hütte. Zu seiner Überraschung gab es keinerlei Geräusch, als sich die alten Bretter unter ihm durchbogen.
Nur noch zwei kurze Schritte und ich bin in Sicherheit. Von dem Schlag wird sich der Alte so schnell nicht erholen.
In diesem Moment drehte sich Nassiehm um und hielt dem Jungen etwas entgegen. Erschrocken wich dieser ein kleines Stück zurück und hob den Holzscheit zur Abwehr nach oben.
„Oh. Danke. Ich wollte gerade etwas Holz nachlegen, damit das Feuer nicht ausgeht. Hier, iss erstmal etwas. Du musst wieder zu Kräften kommen.“
Jetzt konnte der Sklavenjunge sehen, dass Nassiehm ihm eine Schale mit dampfendem Eintopf entgegenhielt. Ein schneller Blick zum Feuer zeigte ihm, dass der Schürhaken immer noch an seinem alten Platz stand. Augenblicklich ließ er den Scheit sinken und verbeugte sich.
„Danke. Das ist wirklich sehr nett von dir.“
Ein Augenzwinkern war die Antwort des alten Mannes.
Hat er etwa gewusst, dass ich ihm eins über den Schädel ziehen wollte? Was ist das nur für ein Mann?
Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, nahm der Junge an dem breiten Tisch Platz und begann damit, seine Suppe zu löffeln. Auch Nassiehm füllte sich seine Schale bis obenhin voll und setzte sich dann zu seinem Gast.
„Also…“, begann er. „… du bist ein Sklave aus Munday? Ich dachte Imperator Lokanus hat den Menschenhandel und die Leibeigenschaft verboten. Zumindest erzählt man sich das hier.“
Der Junge schlürfte und schmatzte, dass es einem Menschen mit feinen Manieren übel geworden wäre. Anscheinend hatte er schon längere Zeit nichts so Gutes mehr zu essen gehabt. Mit vollem Mund berichtete er Nassiehm von den jüngsten Ereignissen auf Komara.
„Der junge Imperator hat die Sklaverei tatsächlich abgeschafft. Jedoch nur in seinem unmittelbarem Einflussgebiet. Man sagt, dass er Angst hätte, den Unmut des Adels auf sich zu ziehen, wenn er die Leibeigenschaft ganz verbieten würde. Die südlichen Regionen sind einem der obersten Fürsten zugesprochen worden. Sein Name ist Medehan. Er hat dafür gesorgt, dass die Edelleute im Süden weiterhin Sklaven halten dürfen. Nun kaufen sie sich aus allen Ecken der Welt Leibeigene und behandeln sie wie Tiere.“
„Und du? Wie kommt es das du diesem Schicksal entgangen bist?“
„Ich bin in Knechtschaft geboren und aufgewachsen. Entgangen scheint mir also nicht das richtige Wort zu sein.“
„Bitte verstehe das nicht als Beleidigung, aber für einen jungen Sklaven drückst du dich sehr ungewöhnlich aus. Beinahe könnte man meinen du seiest ein Nachwuchsgelehrter aus Inaros.“
„Nicht alle Sklaven sind hirnlose Ochsen, die zu nichts weiter taugen als Gruben auszuheben und in Minen nach Edelsteinen zu schürfen!“
„Das habe ich auch nicht behauptet. Nur wirst du meine Überraschung verstehen, auf jemanden deines Alters zu treffen, der behauptet in Knechtschaft aufgewachsen zu sein und trotzdem die Zunge eines jungen Philosophen besitzt.“
Der Junge schob seine leere Schüssel weg und blickte sich in der Hütte um.
„Für jemanden, der soviel weiß, führst du aber auch ein recht bescheidenes Leben. Ich sehe keinerlei Familienwappen oder andere Bilder an den Wänden hängen. Ich dachte auf Obaru währt ihr alle so fromme Menschen.“ In der Tat war Nassiehms Behausung sehr schmucklos gehalten, dafür aber umso gemütlicher. Es gab viele Truhen, Kisten, kleine Fässer und auch ein paar Sitzmöbel. Überall lagen dicke Kissen, grob gewobene Decken und handgeschnitzte Skulpturen herum. Der Junge nahm eine von ihnen auf und fühlte mit den Fingern über das glatte Holz. „Eine sehr schöne Arbeit. Ist das dein Beruf? Du verkaufst Schnitzereien auf den Marktstraßen?“
Nassiehm schüttelte grinsend den Kopf. Dabei legte sich das Gesicht des kleinen Mannes so sehr in Falten, dass es mit einem der älteren Kissen hätte verwechselt werden können.
„Nein, ich verkaufe diese Figuren nicht. Dazu sind sie zu wertvoll.“
„Wertvoll?“ Der Junge hielt die Figur eines Hornbullen ins Licht und besah sich das Holz etwas genauer. Verwundert rieb er über die Skulptur und roch sogar daran. „Das ist doch normales Fichtenholz. Warum…?“
Der alte Mann nahm seinem Gast die Figur aus der Hand und reichte ihm stattdessen einen Becher.
„Gib mir das, bevor du noch reinbeißt und setz dich ans Feuer.“
Der Junge roch an dem Becher und zog angewidert das Gesicht zurück.
„Ich will dich nicht beleidigen, Nassiehm. Aber für Wein bin ich noch ein wenig zu jung. Besonders für einen, der so… Ich bin für Wein einfach zu jung.“
Doch Nassiehm ließ nicht locker und drückte den Jungen auf einen dick gepolsterten Stuhl hinunter.
„Keine Widerrede. Wer in meinem Hause nächtigen will, der muss auch mit mir trinken. Also setz dich hin und beantworte endlich meine Frage.“
„Welche Frage?“
Mit einer Weinkaraffe in der Hand nahm Nassiehm dem Jungen gegenüber Platz und sah ihn durchdringend an.
„Dein Geist wirkt wacher als der so manches Kaufmanns, den ich kenne. Es fällt mir schwer zu glauben, dass du dein ganzes Leben in Knechtschaft verbracht hast.“
Der Bursche nippte an seinem Becher und kämpfte dagegen an, den Wein wieder auszuspucken. Dann blickte er ins Feuer und seufzte.
„Es gibt viele Formen der Knechtschaft. Und ich habe wahrscheinlich alle von ihnen erlebt. Meine erste Erinnerung beginnt damit, dass ich über die Erde kroch und mich aus einem Berg von Scheiße wühlen musste. Weißt du, die Menschen, welche mich in die Sklaverei brachten, erzogen ihre jungen Knechte auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Jeden Tag wurden die Kinder in die Stallungen der Schweine geschickt, während diese zum Fressen nach draußen gelockt wurden. Die Kinder sollten mit kleinen Schaufeln die Scheiße und anderen Unrat beseitigen. Wenn die Schweine nichts mehr zu fressen hatten, kamen sie zurück in die Stallungen und machten sich über die Kinder her, die nicht schnell genug gearbeitet hatten und deswegen nicht mehr hinaus gelassen wurden. So gewann jeder. Die Herren bekamen schnell arbeitende Sklaven. Die Schweine konnten sich satt fressen. Und jedes Kind, das nicht mehr die Kraft hatte sich noch auf den Beinen zu halten, wurde durch die Hauer der gierigen Viecher erlöst.“ Der dunkelhäutige Bursche führte wieder seinen Becher zum Mund und nahm dieses Mal einen kräftigen Schluck, ohne das Gesicht zu verziehen. „Als ich größer wurde, beschloss man, dass ich ein gutes Haustier für eines der Edelkinder abgeben würde. Das wurde als wahre Belohnung angesehen. Ich durfte mich täglich waschen. Bekam saubere Kleidung und gutes Essen. Und damit es dem Kind mit mir nicht zu langweilig wurde, bekam ich Unterricht in Sprache und Wissen. Ich wurde wie ein Tier im Käfig gehalten und zeitgleich darin erzogen, mich manierlich zu verhalten.“
Er blickte Nassiehm an, der nun wusste, warum sein ungewöhnlicher Gast einen so kultivierten Eindruck machte.
„Aber irgendwann warst du wohl auch als Kinderspielzeug nicht mehr geeignet. Sonst wärst du nicht hier. Was ist passiert?“
„Auch Kinder werden irgendwann größer. Und so kam es, dass ich die letzten sechs Jahre meines Lebens damit zubrachte, Steine zu schleppen, Holz zu hacken, Pflüge zu ziehen und Tote zu begraben. Andere Sklaven, die ich im Lauf der Zeit kennen lernte, erzählten mir von dem was hinter den Grenzen meiner Welt alles geschah. Es ist erst wenige Umläufe her, dass mein letzter Herr mich und einige andere verkauft hat. Wir sollten per Schiff nach Talamarima gebracht werden. Doch irgendwie muss es passiert sein, dass der Steuermann vom Kurs abkam und wir an der Küste von Obaru strandeten.“
Nassiehm zog verwundert die Augenbrauen hoch.
„Vom Kurs abkam? Das muss dann aber der schlechteste Navigator von ganz Berrá gewesen sein. Obaru und Talamarima liegen gut und gerne sechs Umläufe voneinander entfernt. Und das ist noch milde geschätzt.“
Der eben noch so selbstsicher und erwachsen wirkende junge Bursche wandelte sich schlagartig zu einem eingeschüchterten Kind, dem man gerade eine Standpauke gehalten hatte.
„Ich weiß nicht wie ich hierher kam. Eine bessere Erklärung fällt mich nicht ein.“
Nassiehm leerte seinen Becher in einem Zuge und füllte sowohl sich als auch seinem Gast nach.
„Vielleicht war es ja die Hand des Göttervaters, die dich hierher brachte.“
Der Bursche kniff die Lippen zusammen und schwenkte den Wein hin und her. Dann trank auch er den Becher in einem Zug aus.
„Dein Göttervater hatte nichts damit zu tun! Es war einfach nur Zufall, dass ich hier landete! Vielleicht war unser Reiseziel ja auch geändert worden, ohne dass man den Sklaven davon erzählte! Oder der Kommandant hatte vor auf Obaru einen kleinen Handel abzuwickeln, bevor er uns ausliefern wollte! Aber eines weiß ich mit Sicherheit! Dein Gott hat mir nicht geholfen, den Fängen meines Herren zu entkommen!“
„Woher willst du das wissen?“
„Sollte es wirklich einen Gott geben, der sich um das Wohlergehen seiner Kinder sorgt, so ist er mir noch nicht begegnet. Mein Leben begann in einem Berg von Scheiße und führte mich direkt in die Sklaverei! Wo war die Gnade deines Gottes, als ich meine Kindheit damit verbrachte, mit anzusehen wie Gleichaltrige von dreckigen Schweinen gefressen wurden, weil sie deren Unrat nicht schnell genug beseitigt hatten? Wo war dein Gott, als ich fast tot gepeitscht wurde, weil ich einen wurmstichigen Apfel aus einem Trog stahl? Wo war dein Gott, als ich tagelang unter der brennenden Wüstensonne marschieren musste? Und wo war dein Gott, als mich meine Mutter in diese Hölle stieß, die mein Leben wurde? Sag es mir!“
Zornig donnerte der Junge seinen Becher auf den Tisch und erhob sich. Obwohl er in Wut gesprochen hatte, konnte man die Trauer in seinen Augen deutlich sehen. Er wandte sich von Nassiehm ab und begab sich zur Tür. Dort angekommen zögerte er jedoch, sie zu öffnen. Wollte er von Nassiehm aufgehalten werden? Oder wusste er einfach nicht wohin er gehen sollte? Vielleicht war es beides. Der alte Mann bewahrte die Ruhe und sprach mit gelassener Stimme. Man konnte spüren, dass er überzeugt war von dem was er sagte.
„Mein Gott hat dir die schnellen Beine gegeben, damit du vor den Schweinen flüchten kannst. Er hat dir den Willen gegeben, die Bestrafungen deiner Herren zu erdulden. Mein Gott hat dir die Kraft gegeben, den Marsch durch die Wüste zu überstehen. Und mein Gott hat dich deiner Mutter genommen, weil er wusste, dass sie bereit war dein Leben für ein Kupferstück einzutauschen! Da war mein Gott.“ Nassiehm legte noch einen Scheit aufs Feuer und setzte sich anschließend in einen breiten Sessel in einer dunklen Ecke des Zimmers. „Ich werde nun schlafen gehen. Wenn du willst, kannst du über Nacht bleiben und morgen mit gestärkten Kräften deinen Weg fortsetzten. Wo auch immer er dich hinbringen mag.“
Der Junge blieb immer noch an der Tür stehen und suchte nach der Kraft, sie zu öffnen. Er wollte nichts mehr von einem Gott und dessen Gnade hören. Er wollte nicht mehr an seine Vergangenheit erinnert werden. Doch hatte er noch eine Zukunft wenn er jetzt kopflos durch die Nacht irrte?
Nachdem er sicher war Nassiehm schnarchen zu hören, ließ er schließlich von der Tür ab und machte sich ein kleines Lager neben der Feuerstelle zurecht. Er hatte schon beinahe vergessen, wie es war auf einem Kissen mit einer weichen Decke zu schlafen. Das komfortable Bett tat sein Übriges dazu, den Jungen schnell einschlafen zu lassen. In der dunklen Ecke des Zimmers drehte sich derweil Nassiehm noch einmal zu seinem Gast um und schmunzelte in sich hinein.
Ich weiß, dass dir ein ganz besonderer Weg vorbestimmt ist. Dein bisheriges Leben wird dir schon bald fremd erscheinen. Und doch vermag niemand, auch der Göttervater nicht, dir den Schmerz der Vergangenheit zu nehmen. Aber schon bald wirst du erkennen, dass aus eben diesem Schmerz ein neues Schicksal entstehen wird.
Als der Bursche am nächsten Tag aufwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Er konnte sich nicht entsinnen wann er das letzte Mal so lange geschlafen hatte. Die Müdigkeit hatte ihn dazu gebracht, in einen tiefen und erholsamen Schlaf zu fallen. Der dicke Eintopf und der kräftige Wein waren daran allerdings auch nicht unbeteiligt.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: René Pöplow
Bildmaterialien: René Pöplow
Lektorat: Keines
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5520-8
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dieses Buch ist allen Musikern, Autoren, Malern, Bildhauern und allen anderen Künstlern dieser Welt gewidmet. Unser Handwerk mag nicht immer Früchte tragen. Aber was wäre die Welt doch arm ohne uns.