René Pöplow
Kurzgeschichten aus Berrá
Meister aller Trolle
1. Auflage 2013
© René Pöplow
Sämtliche Rechte liegen beim Autor.
Illustration: Sarah Bergmann
Ähnlichkeiten mit toten oder noch lebenden Personen, sowie geschichtlichen Ereignissen sind Zufall und vom Autor nicht beabsichtigt.
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Kapitelübersicht
Der einsame Troll
Die Verbannung
Vier Monate später
Die Ehre der Ausgestoßenen
Das Tor der Macht
Ein letzter Kampf
Aufstieg
Eine neue Zeit
Der achte Tag
Das Ende der Kämpfe
Die Krone des Drullkönigs
Die Suche
Der verlorene Lehrmeister
Die Herren des Landes
Mythos wird Wirklichkeit
Das Erbe
Die Legende der Baromuhl Schlucht
Auszug aus Band 1 der Berrá Chroniken
Nachwort
Mein Dank geht an
Wer glaubt, dass Trolle denselben Werten wie die Menschen folgen, der irrt sich. Die Dickhäuter sind nicht an Reichtümern und Macht interessiert. Doch es wäre ein Fehler, sie deswegen nicht als ehrgeizig anzusehen. Obgleich es schon vereinzelte Trollhäuptlinge gegeben hat, denen der menschliche Wunsch nach Macht und Unsterblichkeit zum Verhängnis geworden ist, gehören diese Ziele eigentlich nicht zu ihrem Leben. Für einen Troll steht die Sicherheit des Rudels immer an erster Stelle. Solch eine Gruppe kann bis zu vierzig oder fünfzig dieser Riesen umfassen. Der Anteil von Trollmännern und Trollfrauen hält sich dabei fast immer die Waage. Die Frauen beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Ausbau der heimischen Höhlen sowie der Erziehung des Nachwuchses. Die Männer versorgen das Rudel mit Nahrung und beschützen es vor jedweden Gefahren. Die Nachkommen werden mit einer unerwarteten Fülle von Liebe und Sorge bedacht. Da Trolle keine Schriftgelehrten in ihren Reihen haben, dienen die Jungen zur Erhaltung ihrer Kultur und der Weitergabe von Weisheiten. Wenn ein Pärchen sich dazu entschließt einen gemeinsamen Nachkommen zu zeugen und der Vater zu einem späteren Zeitpunkt sein Leben verliert, wird die Trollmutter mitsamt ihrem Kind vom Rest des Rudels beschützt und versorgt. Sobald die Jungen älter werden, folgen sie dem Beispiel ihrer Eltern und leisten einen Beitrag zur Erhaltung der Gemeinschaft. Nur die wenigsten verlassen ihre Verwandten, um ein eigenes Rudel zu gründen.
Seit Beginn des vierten Zeitalters leben die Dickhäuter fast ausschließlich im Dunkelfelsgebirge. Die im Norden gelegene Bergkette des Kontinentes Obaru versorgt die Trolle mit allem was sie zum Leben brauchen und ist gleichzeitig so unwirtlich, dass kein anderes Volk Interesse daran hat, ihnen diesen Ort streitig zu machen. So war es im Laufe der Jahrzehnte möglich, dass das stolze Volk der Riesen wachsen und erblühen konnte.
Ein Troll hat in seiner Heimat keinerlei natürliche Feinde mehr. Lediglich die Jungen müssen sich vor Ogern und Formwandlern, sogenannten Mogeltrollen, in Acht nehmen. Doch auch vor diesen beschützt sie das Rudel.
Aber was würde wohl geschehen wenn ein Trolljunge ohne die schützende Gemeinschaft eines Rudels aufwächst? Wie würde einer dieser Riesen mit der einsamen Wirklichkeit des Dunkelfelsgebirges umgehen, wenn ihn niemand vor dessen Gefahren beschützt und die Werte des eigenen Volkes lehrt? Die einzige Hoffnung solch ein Schicksal überhaupt meistern zu können, würde aus dem erwähnten Ehrgeiz der Trolle wachsen. Der Ehrgeiz zu überleben und das eigene Dasein über alle anderen zu stellen, würde all sein Denken einnehmen. Doch wohin führt ihn dieser Weg?
Die Geschichte jenes Trolls beginnt im zweiten Zeitalter. Einer Zeit, die geprägt wurde von Umbrüchen und Kriegen. Die Trolle waren damals noch nicht im Dunkelfelsgebirge auf Obaru beheimatet, sondern lebten seit ihrer Flucht aus der verbogenen Welt auf dem Schreckenskontinent Teberoth. Das Volk der Dickhäuter bewohnte hauptsächlich die südliche Hälfte des Landes und nannte sowohl Höhle und Berge, als auch die trockenen Ebenen sein Eigen. Auch zu der damaligen Zeit war Teberoth ein Land, welches von zahlreichen Kreaturen der Finsternis beheimatet wurde. Wesen, die so abscheulich und bösartig waren, dass man keine Gelegenheit hatte sie genauer zu studieren, hielten jedes andere Volk davon ab, sich auf Teberoth anzusiedeln. Lediglich die mächtigen Trolle trauten es sich zu, diesen Ort als neue Heimat zu wählen.
Zu jener Zeit als der Einsame das erste Mal die Augen aufschlug, lebte sein Volk schon einige Jahrhunderte auf Teberoth. Doch der Jungtroll hatte kein Rudel, welches sich um ihn kümmerte. Seine Erinnerungen begannen damit, dass er die Eingeweide eines Schlammaals hinunterschlang, während er in einer dunklen Höhle hinter einem Felsen kauerte. Der Troll wusste nicht wer oder was er war. Es gab niemanden, der ihn das Sprechen, Jagen oder andere Dinge lehrte. Und dennoch schaffte es diese einsame Kreatur, sich gegen die unwirtliche Welt um sich herum zu behaupten. Er lernte, dass es Nacht und Tag gab. Auch erkannte er schnell welche Dinge er zum Überleben brauchte. In seiner Höhle fand er eine unterirdische Quelle, welche ihn mit Wasser versorgte. Und weil er bei der Jagd anfangs noch erfolglos war, wagte er sich daran, ein paar der Knollengewächse zu kosten. Doch das Fleisch seiner Beute und dessen warmes Blut übte eine weitaus größere Anziehung auf den Namenlosen aus. Es dauerte nicht lange und er lernte, wie er sich seinem Opfer zu nähern hatte. Und da er nie einem anderen Wesen von seiner Größe und Kraft begegnete, sah er sich selbst bald als den Herren über das ihm bekannte Land. Er konnte spüren wie die Jagd durch das Gebirge seine Muskeln stählte und die Sinne schärfte. Seine Kraft schien beständig zuzunehmen. Voller Übermut entwurzelte er große Bäume und schleuderte Felsbrocken durch die Luft. Mit bloßen Fäusten schlug er manchmal tagelang auf Steine ein oder sprang von immer höheren Vorsprüngen hinunter, um die Erde unter sich erbeben zu lassen. In seinem Inneren schien etwas nach einer Antwort auf die Frage, wozu er mit solchen Kräften beschenkt worden war, zu suchen. Warum konnte er Steine zu Staub zermahlen und auch die mächtigsten Bäume mühelos aus dem Boden reißen? Wieso ließen seine Schritte den Boden erzittern? Und warum war er der Einzige seiner Art in diesem Land? Der Troll war nicht in der Lage, sich diese Fragen selbst zu beantworten. In seinem Kopf kreisten sie jedoch Tag und Nacht umher. Während er zusah wie die Sonne sich hinabsenkte und der Mond immer deutlicher am Himmel zu sehen war, spähten seine Augen in die weite Ferne der staubigen Ebene, welche sich vom Bergmassiv in Richtung Süden erstreckte. Jahrelang hatte er zugesehen wie die leuchtenden Scheiben ihre Bahnen zogen und sich dabei stets aus dem Weg gingen. Für ihn waren die immer wiederkehrenden Gestirne ein Zeichen dafür, dass alles was im Westen verschwand, im Osten wieder auftauchte. Doch was war mit dem Rest des Landes? Von der Spitze seines Berges aus konnte er sehen, wie das Meer den Norden umklammerte und sich bis in die unendliche Ferne erstreckte. Doch was würde wohl im Süden auf ihn warten? Sollte er es wagen und seinen Berg verlassen, um das Land jenseits des Gebirges zu erkunden? Er konnte sich nicht vorstellen, dass er dort etwas Besonderes vorfand. Und dennoch konnte er seinen Blick nicht von der Ebene abwenden. Wütend griff er sich einen faustgroßen Stein und schleuderte ihn Richtung Süden. Der Brocken flog in hohem Bogen durch die Luft und verschwand schließlich in einer kleinen Staubwolke, als er auf den Sandboden traf. Ein halblautes Grummeln war seiner Kehle entsprungen, ehe er sich in seine Höhle zurückzog, um zu schlafen.
Als der einsame Troll aufwachte hörte er Geräusche, die er noch nicht kannte. Beinahe so wie sein Bauch klang, wenn er lange Zeit nichts gegessen hatte, tönte es von außerhalb der Höhle. Außerdem hörte er ein Rauschen, welches er sonst nur von Sandstürmen her kannte. Doch die Luft schmeckte zu feucht für einen Sandsturm. Neugierig stand der Hüne auf und ging zum Höhleneingang, als plötzlich ein grelles Licht auftauchte, das ebenso schnell wieder verschwand wie es gekommen war. Dem Licht folgte ein lauter Knall. So als ob man zwei Steine aufeinander schlug. Nur um ein Vielfaches lauter. Der Riese hielt kurz inne, spürte dann jedoch Wut in sich aufsteigen und lief brüllend aus der Höhle hinaus. Plötzlich fiel Wasser auf ihn hinab, welches den Troll regelrecht anzugreifen schien. Er wusste nicht wie ihm geschah und schlug nach allen Seiten um sich. Doch das Wasser griff weiter an. Unzählige kleine Tropfen flogen durch die Luft und nahmen ihm die Sicht. Wie er es einst auch schon bei dem Sand in der Ebene erlebt hatte, war nun auch das Wasser zum Leben erweckt worden und hüllte den Troll in einen dicken Schleier ein. Doch die kleinen Tropfen konnten ihm nichts anhaben und so gab er nur ein triumphierendes Lachen von sich, während er der nächtlichen Himmelsscheibe herausfordernd die Zähne zeigte. Wieder erschien ein helles Licht, welches dieses Mal von einem raschen Donnern begleitet wurde. Es schien vom Himmel zu kommen und in der Erde zu verschwinden. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er so etwas wie Ehrfurcht. Dort wo das Licht in den Boden gefahren war hinterließ es aufgewühlte, dampfende Erde. Und auch ein paar kleinere Felsen waren durch die Luft gewirbelt worden. Doch sofort gewann der Trotz wieder Oberhand und der Troll schrie die Himmelsscheibe aus voller Kehle an. Er griff nach einem Stein und schleuderte ihn aufwärts. Doch das Wurfgeschoss verschwand still im dichten Tanz des Sturmes. Jetzt spürte er plötzlich wie das Wasser in breiten Rinnsalen um seine Füße herumlief und das Plateau vor seiner Höhle überschwemmte. Wieder fuhr ein Licht hernieder. Dieses Mal traf es die Spitze des Berges und riss sie in Stücke. Große und kleine Felsbrocken flogen umher. Einige stürzten auch auf den Troll hinab und zwangen ihn, in Deckung zu gehen. Es schien als hätte er endlich einen ebenbürtigen Gegner gefunden. Keine leichte Beute wie er sie sonst im Gebirge vorfand. Der Dickhäuter wollte seinem gesichtslosen Angreifer zeigen wie stark er war und schlug auf eine der Felswände ein, bis sich von dieser ein nahezu trollgroßer Stein löste. Mit all seiner Kraft hob er den Brocken auf und warf ihn von sich. Dem Schrei des Hünen folgte nur noch ein weiteres Licht, welches direkt neben ihm einschlug und ihn beinahe vom Plateau schleuderte. Er fühlte sich plötzlich kraftlos und taub. Der Troll konnte das Donnern kaum noch hören und sein ganzer Körper kribbelte. Gerade als er sich wieder auf die Füße stellen wollte, wurde er von einem rollenden Felsbrocken im Rücken getroffen. Mit einem tiefen Röcheln stolperte er vorwärts und rutschte dabei über die Kante des Plateaus hinweg. Das Wasser nahm ihm jede Möglichkeit noch Halt zu finden. Stattdessen trieb es ihn auf einen Vorsprung zu, dessen scharfe Kanten auch in der nächtlichen Schwärze noch zu erkennen waren. Er krachte mit voller Wucht gegen den Fels und schlug wie von Sinnen um sich. Doch als ein weiterer Felsbrocken ihn am Kopf traf, entschied sein Gegner den Kampf endgültig für sich.
Die Luft schmeckte immer noch feucht, als der Troll erwachte. Doch dieses Mal hörte er kein Donnern und auch der Sturm schien sich gelegt zu haben. Von einem Augenblick zum anderen fiel ihm wieder ein was passiert war. Er sprang auf und ballte die Fäuste, um sich zu verteidigen. Doch sein gesichtsloser Gegner war anscheinend verschwunden. Der Hüne blickte sich um und musste feststellen, dass er den ganzen Weg vom Plateau bis hinunter zur Ebene geschleudert worden war. Der Troll streckte Arme und Beine von sich und tastete seinen Kopf nach schmerzenden Stellen ab. Doch es bedarf schon mehr als ein paar Steine, um das Haupt eines solchen Hünen zu verletzen. Grummelnd blickte er auf das was einst sein Heim gewesen war. Die Bergspitze war mitsamt seiner Höhle von dem grellen Licht zerstört worden. Sein Gegner musste gewaltige Kräfte haben, dachte er sich. Der aufkommende Zorn des Riesen wurde von dem Anblick der dunklen Ebene verdrängt. Noch nie zuvor fühlte sich die Erde feucht oder gar nass an. Immer noch rannen dünne Rinnsale über den Felsen und tropften auf den ansonsten kargen Boden. Seine gewaltige Pranke fuhr durch die nasse Erde. Vorsichtig zog er den feuchten Duft ein. Es roch nicht besonders. Der Troll schüttelte die Erde ab und wandte seinen Blick nach oben. Dort wo letzte Nacht sein Gegner gewesen sein musste, glänzte nun die große Tagesscheibe am Himmel. Der Hüne verspürte plötzlich keinerlei Verlangen mehr, noch länger an diesem Ort zu verweilen. Ein Gegner, der so mächtig war, dass er einen Berg in wenigen Augenblicken zerstören könnte und sich dann noch nicht einmal seinem besiegten Gegner zeigte, konnte jederzeit wieder die Lust verspüren, den Troll anzugreifen. So fasste er den Entschluss, sich eine neue Heimat in der Ebene zu suchen. Vielleicht würde er sogar sehen was sich am anderen Ende der endlosen Landschaft befand.
Nachdem er ein paar Schritte gegangen war, blieb der Hüne noch einmal stehen und wandte sich der Himmelsscheibe zu. In diesem Augenblick war ihm klar, dass er eines Tages zurückkehren würde, um noch einmal gegen den unsichtbaren Feind zu kämpfen. Und dann würde er siegen.
Der Gang des Trolls hätte kaum eintöniger sein können. Karger Felsen, farbloser Sand und spärlicher Pflanzenwuchs waren zu einem dauerhaften Anblick geworden. Nicht die kleinste Spur eines Beutetieres war zu erkennen. Der Hüne riss eine Pflanze aus dem Boden, welche ihm bis zur Hüfte wuchs und an dessen oberen Ende ein paar seltsam aussehende Knollen hingen. Er Troll schnüffelte dran und steckte sie sich in den Mund. Doch bereits nach wenigen Augenblicken spuckte er die Knollen angewidert aus. Sie schmeckten bitter und sauer und schienen ihm die Zunge verbrennen zu wollen. Wütend schleuderte er den Rest der Pflanze hinfort und ging zu einem schattigen Platz unter einem vorstehenden Felsen. Die große Himmelsscheibe brachte eine unvorstellbare Hitze in die Ebene. Die Luft schien von unten aufzusteigen und sich kratzend in den Hals des Hünen zu legen. Zu allem Unglück gab es nicht das geringste Anzeichen von Wasser. Als er sich rückwärts an den Felsen lehnte, genoss er dessen angenehme Kühle und schloss die Augen. Der Troll gab ein Seufzen von sich und dachte an seine Höhle zurück. In seinem Berg war er der Herr des Landes gewesen. Er war mächtig und unbesiegbar. Zumindest bis ihn der Gesichtslose niedergestreckt hatte. Er wusste nicht was Besitz oder Macht war. Und dennoch fehlten ihm diese Dinge nun. Der Troll dachte an das viele Kleingetier, welches an seinem Berg lebte und denen er manchmal aus Langeweile beim Tunnelbau zugesehen hatte. Vielleicht war er für irgendjemand anders ja ebenfalls nur ein kleines Tier. Ein Winzling. Kaum bedeutend genug, um ihm beim Jagen oder Graben zuzusehen. Der Gedanke vielleicht ein völlig unbedeutendes Wesen zu sein, versetzte den Hünen erneut in Rage. Irgendwo musste es einen Weg zu seinem gesichtlosen Gegner geben. Er musste ihn finden und beweisen, dass er keine nichtige Wühlmaus, sondern ein großer, mächtiger und starker Riese war.
Durst und Hunger von sich weisend stand der Troll auf und schenkte der Himmelsscheibe ein herzhaftes Knurren. Den Blick wieder gen Süden gerichtet setzte er seinen Weg fort, bis er auf einmal etwas witterte. In nicht allzu weiter Ferne musste Beute sein. Er konnte den Geruch von verwesten Pflanzenresten und Exkrementen riechen. Doch der Duft war um ein vielfaches stärker als jener, den er von seinen üblichen Beutetieren her kannte. In einiger Entfernung konnte er einen Riss in der Ebene erkennen an dessen Rand zahlreiche Sträucher standen. Obgleich die meisten kahl zu sein schienen, konnte er dennoch Blätter und Früchte ausmachen. Darauf achtend die Erde unter seinen Füßen nicht allzu sehr aufzuschrecken, bewegte er sich auf dem weichen Sand in Richtung der Schlucht. Der Geruch nach Beute wurde immer stärker. An den Fängen des Trolls tropfte schaumiger Speichel hinab. Die Aussicht auf ein Mahl ließ ihn beinahe unvorsichtig werden. Er mahnte sich selbst zur Ordnung und hob einen Stein auf, welcher die Größe eines Menschenkopfes hatte. Plötzlich spürte er wie der Wind sich langsam zu drehen begann. Er durfte jetzt keine Zeit mehr verlieren. Sonst würde seine Beute gewarnt werden. Seine Schritte wurden immer länger, bis er schließlich in einen langsamen Trott verfiel. Der Schrei eines Vogels hallte durch die Luft und plötzlich kam Bewegung in die Ebene. Am Rande der Schlucht hatte offenbar eine ganze Herde von Pflanzenfressern an den Sträuchern seinen Hunger gestillt. Die merkwürdigen Tiere hatten sechs Beine und waren größer als alles was der Troll kannte. Ihre matte Haut sah genauso aus wie der Sand, auf dem sie standen. Deswegen hatte der Troll sie vorher nicht gesehen. Doch jetzt, aufgeschreckt durch den Vogelruf, ließen sie von ihrem Mahl ab und trampelten sich bei dem Versuch zu fliehen beinahe gegenseitig um. Der Hüne hatte seine Mühe ein lohnenswertes Ziel auszumachen. Der aufgewirbelte Sand nahm ihm teilweise die Sicht. Und die panische Beute wechselte ständig die Richtung. Schließlich fasste er eines der dickeren Exemplare ins Auge und schleuderte seinen Stein mit aller Kraft gegen den Kopf des Opfers. Dieses geriet kurz ins Taumeln, raste dann jedoch ebenso davon wie seine Artgenossen. So schnell er konnte setzte der Troll hinterher. Ihn trennten nur noch wenige Schritte von seiner Beute. Je näher er kam desto besser erkannte er die tatsächliche Größe der Pflanzenfresser. Die kleinsten reichten ihm kaum bis zum Knie. Während die ausgewachsenen Exemplare beinahe bis an seine Brust heran kamen. Die Sechsbeiner hatten zwei lange, spitze Stosszähne am Maul, welche dem Troll vielleicht sogar gefährlich werden könnten. Doch der Hüne war sich seiner Kräfte sicher und sprang auf eines der größeren Tiere zu. Seine Pranken packten die Beute am Kopf und rissen sie herum. Doch das Tier gab sich nicht einfach geschlagen. Schnaubend riss der Sechsbeiner sein Haupt herum und rammte mit dem Schädel das Bein des Trolls. Ein Ruck ging durch dessen Körper und sein Griff lockerte sich. Doch sofort gruben sich seine Nägel wieder in die dicke Haut seines Opfers, um es zu bändigen. Einer der Stosszähne schrammte am Bauch des Hünen vorbei und bescherte ihm einen armlangen Schnitt, welcher jedoch nicht allzu tief zu sein schien. Zornig trat der Troll mit all seiner Kraft in die Seite des Sechsbeiners. Dieser heulte kurz auf, kämpfte jedoch weiter. Immer noch im Griff des Hünen gefangen wandte er seinen Kopf hin und her, um ihm zu entrinnen. Doch der Troll ließ nicht locker. Er stemmte sich in den sandigen Boden und schleuderte den Sechsbeiner herum. Als dessen Vorderläufe einknickten riss der Hüne den Kopf seines Opfers nach hinten, woraufhin ein lautes Knacken ertönte und der Sechsbeiner augenblicklich zu Boden fiel. Der Troll hielt seine Beute noch einen Moment an den Stosszähnen gepackt, bis er sicher sein konnte, dass er wirklich tot war. Triumphierend riss der Hüne seine Arme in die Höhe und gab ein nicht enden wollendes Gebrüll von sich. Der Rest der Herde war bereits außer Sicht entschwunden, als der Riese seine Beute zu einem Felsen zerrte und damit anfing sie auszuweiden. Das Schmatzen und Schlürfen des Trolls erfüllte die karge Ebene noch bis in die Nacht hinein.
Selten war sein Bauch derart gefüllt gewesen. Obwohl der Troll stundenlang an seinem Beutetier gefressen hatte, war immer noch genügend Fleisch vorhanden, um davon weitere zehn Tage zehren zu können. In seinem Berg gab es derart große Beute nie. Dort musste er fast den ganzen Tag jagen, um seinen Hunger zu stillen. Das reichliche Mahl und das warme Blut seines Opfers hatten ihr übriges getan, um den Troll in einen tiefen Verdauungsschlaf fallen zu lassen. Gesicht und Hände immer noch vom getrockneten Lebenssaft beschmiert lag der Hüne neben den Resten seiner Beute und gab ein zufriedenes Grunzen von sich.
Doch die erfolgreiche Jagd war nicht unbemerkt geblieben. Im Schatten des Felsens schlichen sich zwei Gestalten an den Kadaver heran und begannen leise zu tuscheln. Sie schienen sich uneins zu sein ob es sicher wäre, sich an dem Fleisch zu schaffen zu machen oder ob der mächtige Jäger diesen Diebstahl auf unangenehme Art rächen würde. Eine der Gestalten streckte schließlich die Hand nach dem Kadaver aus und riss sich ein Stück des Fleisches heraus. Das schmatzende Geräusch ließ die Diebe innehalten und einen Blick auf den rechtmäßigen Besitzer werfen. Doch der Troll gab keinerlei Regung von sich. Wieder griff die Schattengestalt nach dem Kadaver und riss noch ein Stück heraus. Jetzt schien auch die zweite Person vom Hunger übermannt zu werden. Hastig grub sie ihre großen Hände in die Eingeweide des Sechsbeiners und machte sich einem dicken Blutklumpen zu Eigen. Nachdem die nächtlichen Diebe ihren ersten Hunger gestillt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: René Pöplow
Bildmaterialien: René Pöplow
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2013
ISBN: 978-3-7309-5161-3
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Mein Dank geht an
Sarah Bergmann für die Coverillustration;
Christine Heitzler für Korrekturlesen und Verbesserungen;
Daniela Eberhardt meine unverzichtbare Heilpraktikerin;
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