Plastik-Zs
Eines meiner Kinder hat eine Magnettafel mit Buchstaben dran. Nicht so eine kleine Kindertafel, sondern eine hochprofessionelle Manager-Training-Tafel, und auf der kleben (oder wie nennt man das, was magnetische Buchstaben machen – festbacken? Hängen?) mehrere Packungen bunter Plastikbuchstaben.
Ursprünglich benutzte mein Kind die zum Lesenlernen, aber lesen kann es inzwischen, und irgendwie hat es sich so eingebürgert, daß ich jeden Abend einen neuen Satz an die Tafel schreibe. Manchmal entweichen mir solche geistigen Höhenflüge wie „Gute Nacht mein Schatz“ (es gibt keine Kommata bei den Buchstaben), ein anderes Mal schreibe ich ein Gedicht, und je schräger es ist, um so schöner findet das Kind meinen Abendsatz. Mein letzter Satz war: „On top of spaghetti, all covered with cheese, I lost my poor meatball, when somebody sneezed
“.
Stammt natürlich nicht von mir, der Satz, hatte aber einen durchschlagenden Erfolg – besagtes Kind kicherte noch eine halbe Stunde lang im Bett vor sich hin, bevor es endlich einschlief.
Neuerdings haben wir ein Problem – aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen sind alle „Z“s verschwunden. Und das ist gemein. Wie soll ich jetzt so schöne Sätze schreiben wie: „Zehn zahme Ziegen zogen zehn Zentner Zucker zum Zoo
“?
Ich muss stattdessen Umschreibungen ohne „Z“ benutzen: „Mehr als neun paarhufige, bärtige Säugetiere bewegten mittels Seilen relativ viele Süsstoffe in Richtung ihrer Wohnstätte
“ – na ja, oder so ähnlich. Aber optimal ist das nicht.
Bei dem Wort „sneezed“ habe ich geschummelt. Ich habe ein „N“ genommen und auf die Seite gekippt. Das sieht fast so aus wie ein „Z“. Bei den „E“s schummle ich auch manchmal. Ich drehe ein „M“ auf die Seite oder eine „3“ auf den Kopf, oder ich nehme im äußersten Notfall ein F und klemme ein I darunter.
Aber lieber hätte ich die richtigen Buchstaben wieder.
Sollte ich hier mal ausziehen, ich wette, ich finde irgendeine Ecke, in der sich einzelne Socken und Handschuhe, vor Jahren auf geheimnisvolle Weise verschwundene Schokoladentafeln, mein Lieblingskugelschreiber und die Versichertenkarte meines Sohnes stapeln.
Und eben jede Menge bunter Plastikbuchstaben…
Flache rote Sechser
Legosteine, das ist bekannt, fördern die Phantasie und Kreativität der Kinder. In Schweden gehören die Legosteine sogar zum Unterrichtsmaterial an einigen Schulen. Das finden die Kinder sicher witziger als Mathe und Deutsch.
Mein Bruder und ich hatten früher hunderte (oder tausende, wir sind nicht sicher) kleiner roter, gelber und blauer Legosteine, und als Höhepunkt ein paar Fenster, Türen, Dachziegel und Räder. Eine Unterhaltung zwischen uns hörte sich normalerweise so an: „Ich brauche einen weißen Vierer“ – „Und ich einen roten Sechser, aber einen flachen“ – „Den hab ich schon benutzt, aber du kannst einen blauen flachen Sechser haben“
Auf diese Art entstanden wunderbare Bauwerke, die anstandshalber wochenlang in der Ecke stehen mussten und verstaubten, die auseinanderzubauen aber niemand das Herz hatte, weil sie so viel Arbeit gemacht hatten. Schließlich kamen wir auf die Idee, die Kunstwerke vor dem Auseinanderbau zu fotografieren, so daß die flachen roten Sechser wieder zur Verfügung standen, und wir eine Erinnerung für die Nachwelt hatten.
Heutzutage sind Legosteine irgendwie nicht mehr ganz so kreativ. Statt sich gewaltige Bauten auszudenken, deren Bausteine in einem Riesenhaufen gesucht werden müssen, kauft man einen Bausatz, nach dessen Vollendung man immer die gleiche Autowaschanlage oder Polizeistation hat, und man sucht die Einzelteile in Plastiktüten. Falls man es dann wagt, sein Legokunstwerk auseinanderzubauen kann man sicher sein, das Teil 13 a von Bild 48 nie wieder zu finden.
Zugegeben, viele Bausätze von Lego sind wirklich hübsch. In dem Lego-Store (früher hätte man „Geschäft“ gesagt, aber das war vor der Zeit der Legobausätze) gibt es einen imperialen Sternenkrieger und ein Tadsch Mahal in beinahe-Lebensgröße, die jeweils ungefähr soviel kosten wie mein monatliches Einkommen beträgt. Und offenbar gibt es für beides sogar Abnehmer (was mich vermuten lässt, daß mein monatliches Einkommen zu gering ist, ich muss das mal mit meinem Chef besprechen).
Zweifellos sind einige Lego-Bausätze auch erzieherisch wertvoll. Der Roboter beispielsweise hat meinem ältesten Sohn damals erste Einblicke in die Programmiersprachen verschafft. Heute programmiert er 3-D-Egoshooter mit real funktionierender Physik-Engine, was es viel witziger macht, Blut von einem Hochhaus tropfen zu lassen oder Gedärme in sorgfältig aufgebaute Flaschenpyramiden zu schleudern.
Allerdings, als er damals genug von seinem Roboter hatte, baute er ihn auseinander und verbastelte den programmierbaren Motor in eine seiner Jahrmarkts-Attraktionen – ein Legokarussel, welches sich im Kreis drehte, wobei die Gondeln sich auch noch um ihre eigene Achse drehten und den Legomännchen (Darth Vader, einige Cowboys und ein Skelett) schlecht wurde.
Einige Teile des Roboters sind nie wieder aufgetaucht. Aber das Karussell haben wir fotografiert, um eine Erinnerung für die Nachwelt zu haben.
Der Frischkäseclub
Mein Kind hat einen Frischkäseclub gegründet. Aufbauend auf der Tatsache, daß er sowie drei seiner Klassenkameraden heute Frischkäse auf ihren Broten hatten, haben sie ihre Gemeinsamkeit in einem Club verewigt. Die Statuten des Clubs verlangen, soweit ich informiert bin, nicht mehr, als morgen ebenfalls Frischkäse auf dem Brot zu haben.
Merkwürdig, daß Kinder Clubs so sehr lieben. Ich kann mich an mindestens fünf Jugendbücher erinnern, in denen Kinder einen Club gründeten, zumeist allerdings mit hehreren Zielen als Frischkäse auf dem Brot zu haben. Stattdessen wurden in den Jugendbuchclubs fiese Verbrecher gefangen, die Welt von allem Übel befreit, verschwundene Katzen gesucht und Mädchen verachtet. Letzteres in den Comics „Calvin und Hobbes“ von Bill Waterson, eine Pflichtlektüre für alle Menschen, die Kinder zu erziehen haben und gleichzeitig ihrer Vorliebe für Sarkasmus frönen wollen (ohne daß die Kinder nachts nicht schlafen können). Der Name des geheimen Clubs von Calvin und seinem Stofftiger ist übrigens gleich das ganze Programm: auf deutsch „E.M.S.V“ – eklige Mädchen sollen verduften. Ein Programm, das Calvin toll findet, sein Tiger aber eigentlich nicht.
Für Erwachsene gibt es natürlich auch genügend Clubs. Entweder man begibt sich in die Gefilde der deutschen Vereinsmeierei und werkelt an Samstagnachmittagen gemeinsam mit Nachbarn auf den öffentlichen Wegen der Schrebergärten oder man schießt Tontauben ab. Die neuere Version der Vereinsmeierei befindet sich im Internet und nennt sich „Forum“. Es gibt Foren-Clubs mit den verschiedensten Themen: Hunde, Diäten, Sex, Delphi-Programmierung, Spinnenphobie, das Erzählen schlechter Witze, das Erzählen guter Witze, Mathematik und Ausmalen von Mandalas. Na, und natürlich noch alles andere, was einen interessieren könnte. Um die Clubs exklusiv zu halten ist es nötig, sich einen Account und ein ganz geheimes Passwort zuzulegen, mittels dessen man dann an den Gesprächen teilnehmen kann. Oder an den Bildern teilhaben. Oder was sonst so auf der Internetseite los ist.
Besonders skurille Blüten treibt diese Forengeschichte auf der Seite „Schüler-VZ“ – eines meiner Kinder ist in diversen Foren Mitglied, unter anderem in einem mit dem Namen „Gurken-Auf-den-Mac-Donalds-Hamburgern-Mitesser“ (es gibt auch ein Anti-Forum dazu), dann ein „Es-heißt-DAS-Nutella“-Forum, und besonders schlimm: „Ich muss meinen Namen immer buchstabieren, weil ihn sonst keiner versteht“. Tut mir echt leid, mein Kind…
Allerdings, ich glaube, ein Frischkäseforum gibt es noch nicht.
Kann aber nicht mehr lange dauern…
Wunder zu unseren Füßen
Schon irgendwie peinlich... wir schicken Milliarden Euro teure Sonden in den Weltraum um herauszufinden, ob einer unserer Nachbarplaneten vielleicht bewohnt ist und ob das merkwürdige Gas, das man auf dem Mars entdeckt hat, vielleicht von irgendwelchen furzenden Marskühen stammt, und gleichzeitig haben wir nicht die geringste Ahnung, was eigentlich auf unserem eigenen Planeten so vor sich geht. Nicht nur, dass wir ausgesprochen viele der auf unserem Planeten auf dem Land lebenden Spezies noch nicht einmal kennen, jetzt wurden auch in 3000 Metern Meerestiefe noch lustige Tierchen und Pflanzen entdeckt, in einer Region, in der man Leben lange Zeit für unmöglich hielt – aus dem einfachen Grund, dass WIR da nicht leben könnten.
Einer der beteiligten Forscher meint dazu: «Da unten muss chemisch etwas Seltsames vor sich gehen.»
Da wir Menschen ja immer zuerst alles töten und untersuchen müssen, sind uns die Unterwassertierchen und –pflanzen sicher sehr dankbar, wenn wir unseren Blick schleunigst wieder gen Himmel richten und vergessen, was sich auf unserem Heimatplaneten alles so seltsam-Chemisches zu unseren Füßen tut. Wie gut, dass irgendwer für unseren ach so unglaublichen Verstand ein paar vermutlich leblose Spielzeuge in benachbarte Umlaufbahnen platziert hat, an denen wir herumforschen können, ohne allzu viel kaputt zu machen.
Rechts-Links-Küsser
Als es begann dachte ich, es sei irgendeine dieser Modetorheiten die sich schnell wieder überleben, wie zum Beispiel Badelatschen zum Abendanzug oder der Drei-Tage-Bart, für den man einen extra Drei-Tagebart-Scheraufsatz auf denn Rasierapparat setzen konnte, um ihn jeden Tag erneut auf die richtige Länge zu bringen. Inzwischen gehört es aber zum guten Ton, und das nicht erst, seit die gekrönten und ungekrönten Staatsoberhäupter es uns vormachten: eine Begrüßung ist erst vollständig, wenn einem rechts und links ein Küsschen auf die Wange gehaucht wird.
Aus einer Familie stammend, in der selbst die eigenen Kinder nach acht Jahren Abwesenheit mit einem hoheitsvollen Kopfnicken und als Gipfel der Gefühlsekstase vielleicht mit einem Handschütteln begrüßt werden, hatte ich doch etwas Probleme, diese Mode mitzumachen. Auch die Kussetikette ist mir bis heute nicht völlig geläufig. Und so gerate ich jedes Mal leicht in Panik, wenn einer der Rechts-Links-Küsser auf mich zustürmt. Ich versuche dann, an seinem Gesichtsausdruck und seinen Bewegungen vorherzusehen, zu welcher Spezies er gehört: Beginnt er die Knutscherei links oder rechts? Es kann ausgesprochen peinlich sein, als eingefleischter Zuerst-Rechts-Küsser an einen begeisterten Zuerst-Links-Küsser zu geraten. Die Gefahr, daß man sich die eigene Nase an der des Gegenübers stößt, ist in diesem Fall ausgesprochen hoch. Hat man dieses Problem allerdings überwunden, indem die Körpersprache des Gegenübers durch leichte Rechtsneigung die bevorzugte Kussbeginnrichtung signalisiert hat, muss man irgendwie herausfinden, ob der Gegner zu den zweimal- oder dreimal-Küssern gehört. Wenn man da nicht mit dem Gegenüber konform geht, kann es sein, daß derjenige entweder mit gespitzten Lippen hinter einem herläuft oder aber der eigene Kuss peinlicherweise ins Leere geht. So gesehen ist es höchst praktisch, wenn ich als verunsicherter Nicht-Küsser einen dominanten Begrüßungskuss-Partner habe, der mir mit seinem Gebaren genau anzeigt: von rechts nach links und das bitte dreimal.
Natürlich ist diese Küsserei enorm praktisch. Man merkt innerhalb von Sekunden, wann sich das Gegenüber zum letzten Mal rasiert hat, welches Parfum er / sie benutzt und ob er oder sie sich heute schon die Zähne geputzt hat. Außerdem kann man auf diese Art heimlich kleine Vertraulichkeiten austauschen. Meine Mutter behauptet bis heute, Erich Honecker, einer der ersten mir bekannten deutschen Begrüßungskussfanatiker, habe beim ersten Kuss auf die westlichen Staatsmannwangen immer „Guten Tag“ geflüstert und beim zweiten Kuss: „Hast du mir auch was mitgebracht?“
Geküsst wird anscheinend bei jeder Gelegenheit, ob man sich nach zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder sieht oder ob man nur kurz die Kiste Wasser aus dem Keller geholt hat. Die Etikette verlangt das Rechts-Links-Luftgeküsse, so wie sie früher den Diener bei kleinen Jungen und den Knicks bei ihren gleichaltrigen Leidensgenossinnen verlangte.
Vor einiger Zeit wurde ich Zeuge, wie sich zwei Männer ausdauernd umhalsten und begeisterte Küsse in die Luft hauchten. Etwas später fragte ich einen der enthusiastischen Knutscher, wie lange er seinen Kumpel denn nicht gesehen habe. Die Antwort war ernüchternd.
„Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wer das war“, sagte der Mann und holte sein Atemfrisch-Spray aus der Tasche, um für weitere Überfälle gerüstet zu sein.
Ich bin ja nicht sicher, ob es in diesem Fall ein hoheitsvolles Nicken nicht auch getan hätte…
Aufgeräumt
Das Erste, was meine Kinder morgens zu mir sagen, ist nicht „Guten Morgen“, sondern „Mama, ich brauche…“. Der Rest fällt unterschiedlich aus – sie brauchen saubere Socken, Geld für die Klassenkasse, einen Lebensplan für die Zeit nach der Pubertät oder Haargel. Was mir allerdings besondere Probleme bereitet, sind Entschuldigungen morgens um 7:20 Uhr, wenn das Kind um 7:25 an der 10 Minuten entfernten Bushaltestelle sein muss. Natürlich finde ich so schnell keinen Kugelschreiber. Wenn ich ehrlich bin, würde ich auch langsamer keinen Kugelschreiber finden – obwohl ich Kugelschreiber niemals einzeln kaufe, sondern den Stapel Hunderterpackungen mit dem Ellbogen in den Einkaufswagen fege, ist nie einer da, wenn ich ihn brauche. Aber da ich die Kinder jeden Abend frage, ob ich noch etwas unterschreiben muss, kann ich ihnen um 7:20 Uhr wochentags wenigstens die Schuld an meinem Versagen in die Schuhe schieben.
Das fragliche Kind ist auch durchaus schuldbewusst und bringt mir ein Sammelsurium an Stiften, mit denen ich keine ernstzunehmende Unterschrift leisten kann: Einen rosafarbenen Glitzergelschreiber, einen stumpfen gelben Buntstift, einen Lippenstift in Apricot und einen Pinsel nebst dazugehörigem Tuschkasten. Ich überlege kurzfristig, den Text mit meinem Blut zu schreiben, finde aber schließlich doch noch einen alten Kalligrafiefüller in der Küchenschublade, dessen grüne Tinte zwar eingetrocknet ist, den ich aber unter dem Wasserhahn für ca. 10 Wörter wieder zum Leben erwecken kann. Jetzt brauche ich nur noch einen Zettel. Computerpapier ist alle, aber mein Kind kommt hilfsbereit mit einer alten Zeitung, einem benutzen Briefumschlag und zwei Karten zur Auswahl an, auf denen „Alles Gute zum dritten Geburtstag“ und „Herzliches Beileid“ steht. Ich weise alles entrüstet von mir und reiße stattdessen ein Stück Raufasertapete von der Wand, auf dem ich zu schreiben beginne:
„Sehr geehrte Frau Lehrerin,
hiermit bestätige ich den Erhalt Ihres Schreibens, in dem Sie mir mitteilen, daß mein Sohn wiederholt seine Arbeitsmaterialien für den Biologieunterricht nicht dabei hatte.
Mit freundlichen Grüßen
Eloise“
Ich kann mir echt nicht denken, wo er das her hat…
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2009
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