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Zu den Dingen, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte, gehörte, daß man Gänsebraten mit Thymian und Apfelstrudel mit einem Hauch Zimt zuzubereiten habe, daß eine Dame in Gegenwart eines Herren nicht fluche, daß man stets auf alles vorbereitet sein solle, und daß ein Wendepunkt im Leben einer Frau sich im Allgemeinen durch einen neuen Haarschnitt ankündigt.
Ellen hatte durchaus keine Probleme damit, sich an diese Regeln zu halten. Nur hatte sie, als sie am Morgen das Haus verließ, noch gar nicht gewusst, daß dieser Tag ihr Leben verändern würde.
„Ich hätte sonst“, bemerkte sie später mit unbestreitbarer Logik dazu, „doch nicht einen ausgeleierten BH und einen vom Waschen ergrauten Slip angezogen, sondern das schicke, farblich zueinander passende Wäscheset, welches ich einige Monate zuvor gekauft hatte und für besondere Gelegenheiten aufgehoben hatte.
Nicht, daß diese Gelegenheit je aufgetreten wäre“, fügte sie dann mit einem Seufzer hinzu. Ihrem Ehemann fielen zu jenem Zeitpunkt farblich passende Wäschesets schon lange nicht mehr auf, es sei denn, um zu bemängeln, daß sie wieder zu viel Geld ausgegeben hatte.

Es war ein Dienstag, als Ellen ihr Leben plötzlich änderte. Sie hatte zuhause gefrühstückt, den Kindern die Schulbrote geschmiert und die Äpfel eingepackt, geschimpft, weil der Älteste wieder einmal trödelte, und war dann ihrem Mann hinterher gelaufen, der wieder einmal sein Mittagessen im Kühlschrank vergessen hatte.
Als alle aus dem Haus waren, war sie wie immer durch die Wohnung gegangen, hatte die Betten gemacht, hatte gelüftet, die Katze gefüttert, das Geschirr in den Geschirrspüler gestellt und hatte sich geschminkt, um zur Arbeit zu gehen. Wie an jedem Wochentag.
Dann hatte sie das Haus verlassen, und war in Richtung der Bushaltestelle gegangen.
Statt aber den Bus Nummer 192 zu ihrer Firma zu nehmen, war sie einem plötzlichen Impuls folgend einfach weiter gegangen, an der Bushaltestelle vorbei, in Richtung der Innenstadt. Sie war einfach weiter gelaufen, an kleinen Wohnhäusern und größeren Wohnblocks vorbei, an Bäckereien, die ihr nie zuvor aufgefallen waren, an Modegeschäften, deren Fensterauslagen sicher drei Jahre alt waren, an Tankstellen, einem großen Baugrundstück, einem Fastfood-Restaurant.
Irgendwann fragte sich Ellen, was sie da eigentlich tat. Es würde zweifellos Ärger geben in der Firma. Ihr Chef wartete vermutlich gerade jetzt ziemlich genervt auf seine Sekretärin. Ellen überlegte einen Augenblick, ob sie ihn nicht anrufen sollte, um sich zu entschuldigen, entschied sich dann aber aus demselben Impuls, der ihr eingegeben hatte, an der Bushaltestelle vorbeizugehen, dagegen und bog stattdessen in eine kleine Seitenstraße ein.

Das winzige Musikaliengeschäft hatte sie nie zuvor gesehen. Einen Moment lang stand sie völlig verblüfft vor dem Schaufenster und sah in die Auslage. Blockflöten, große Hefte mit gelblichem Notenpapier, einige Triangeln und eine Bongotrommel waren liebevoll auf grünem Samt drapiert. Und etwas seitlich lag eine Geige. Eine wunderschöne Geige aus honigfarbenem Holz.
Ellen konnte nicht Geige spielen. Ihre Mutter hatte ihr nie erlauben wollen, ein Instrument zu erlernen; vielleicht hatte ihr als alleinerziehender Frau auch einfach nur das Geld dazu gefehlt. Und später dann hatte sie einfach nicht mehr die Zeit dazu gehabt, es zu lernen.
Ellen erinnerte sich, wie sie damals, vor vielen Jahren eine Mitschülerin beneidet hatte, die mit beiden Eltern zusammen lebte, die von ihrer Mutter zubereitete Schulbrote mit in die Schule nahm, statt wie sie selber lieblos aus dem Kühlschrank zusammengesuchte Kuchenstücke essen zu müssen. Und die in den Sportverein gehen durfte, die beliebt war, mit der jeder gerne zusammen war. Und die Geige spielte.
Und da heute kein Tag wie alle anderen war, betrat sie den Laden und kaufte sich die Geige.

Zwei Stunden später saß Ellen in einem Straßencafé, trank einen Latte Macchiato und beobachtet die vorbeihastenden Menschen. Wie eilig sie es alle hatten. Vor Ellens Auge stiegen Bilder von wimmelnden Ameisen auf. Jeder rannte seines Weges, seine Pflichten ausübend und für alle anderen ein Bild eifriger Geschäftigkeit. Was wäre, wenn sie alle einen Schritt langsamer gingen? Wenn sie sich Zeit ließen, sich gegenseitig anzusehen, sich zuzulächeln?
Tief in Gedanken versunken hatte sie nicht gemerkt, daß sich jemand ihrem Tisch genähert hatte.
„Ist hier noch frei?“, fragte der Mann mit einer angedeuteten Verbeugung und zeigte auf den anderen Stuhl.
„Natürlich“, nickte sie höflich, obwohl sie einen Augenblick später dachte, daß sie doch lieber alleine gesessen hätte. Aber der Mann hatte sich bereits hingesetzt. Sie betrachtete ihn vorsichtig aus den Augenwinkeln. Ein paar Jahre jünger als sie vielleicht, mit dunklen Locken, die ihm bis fast über die Schultern fielen, einem dunklen Mantel und leuchtend braunen Augen. Als Ellen bemerkte, daß er sie ebenfalls betrachtete, blickte sie schnell weg.
„Sie haben eine hübsche Frisur“, sagte der Mann.
Instinktiv fuhr Ellens Hand zu ihren Haaren. Sie errötete etwas.
„Ach, das ist doch nur…“ – nein, nicht klein machen. Nicht heute. Die Frisur stand ihr gut, sie wusste das.
„Ja, ich war eben beim Friseur“, sagte sie, und lächelte dem Mann vorsichtig zu.
Er lächelte zurück.
„Sie spielen Geige?“, fragte er dann, auf den schwarzen Koffer neben ihr weisend.
Ellen schüttelte lachend den Kopf.
„Es war ein Gelegenheitskauf“, behauptete sie. „Ich wollte einfach einmal in meinem Leben eine Geige gehabt haben.“
Der Mann nickte nachdenklich.
„Das ist eine gute Begründung.“, behauptete er ganz ernsthaft, aber Ellen sah doch, daß er sich das Lachen verkneifen musste.
„Nein, es ist eine lächerliche Begründung, um an einem Dienstagmittag mit einem Geigenkoffer durch die Stadt zu laufen.“, entgegnete sie. „Leider ist es die einzige, die ich habe, denn sie ist wahr.“
„Darf ich?“
Ohne ihre Antwort abzuwarten, streckte der Mann die Hand nach dem Geigenkasten aus und öffnete ihn. Dann holte er vorsichtig, als sei es aus Porzellan, das Instrument hervor. Er hielt die Geige an sein Ohr, zupfte ein paar Mal probeweise die Seiten und stimmte das Instrument kurz nach. Dann sah er Ellen an.
„Darf ich?“, fragte er noch einmal. Ellen hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie konnte nur nicken. Der Mann erhob sich, ohne sie aus den Augen zu lassen und strich mit dem Bogen über eine Seite.
Ellen konnte später nie sagen, ob der Verkehr in diesem Moment tatsächlich still stand. Waren die Leute wirklich alle stehen geblieben, hatten sie mit ihrer Hetzerei innegehalten, um dem Geigenspiel zuzuhören? Hatte die Bedienung des Cafés das Tablett hingestellt um zu lauschen, hatte das Kind am Nebentisch mit seinem Gequengel aufgehört?
Es war ein wunderbares Lied, das der junge Mann mit dem schwarzen Mantel spielte. Er spielte virtuos, leise, lauter werdend, feurig und dann wieder sanft, sehnsuchtsvoll. Er spielte mitten in dem Café, mitten auf der Straße, mitten in der Stadt, vor all den Leuten. Ellens Blick versank in seinen braunen Augen, die sie nicht losließen. Er spielte nur für sie.

Aber jede Ewigkeit geht einmal zu Ende. Als das Lied verklang, erwachte die Stadt wieder zum Leben. Die Bedienung nahm ihr Serviertablett wieder in die Hand, die Menschen gingen weiter ihrer Wege und nur das Kind am Nebentisch starrte den Geiger unverhohlen an.

„Das war das Lied, für das ich die Geige gekauft hatte“, sagte Ellen leise. Der Mann zwinkerte ihr zu und legte das Instrument sorgfältig wieder in den Koffer zurück. Dann wollte er den Geigenkoffer wieder neben den Stuhl stellen, aber Ellen lächelte nur.
„Nein“, sagte sie, „behalten sie sie. Es ist ihr Instrument, nicht meins.“
Sie hatte ein wenig Angst, daß er anfangen würde, mit ihr zu diskutieren, aber das tat er nicht. Stattdessen nahm er ihre Hand und hauchte einen leichten Kuss darauf.
„Ich danke Ihnen“, sagte er. „Ich werde Ihre Geige immer in Ehren halten“. Er verbeugte sich leicht und ging. Nach wenigen Sekunden war er bereits in den Menschenmassen verschwunden. Da erst fiel ihr auf, daß er gar nichts gegessen oder getrunken hatte. Ellen schüttelte amüsiert den Kopf und bezahlte ihren Kaffee.
Dann ging sie nach Hause.
Sie musste das Mittagessen vorbereiten, mit dem mittleren Sohn Deutsch üben, später den Jüngsten zum Sport fahren.
Sie war gespannt, ob ihrem Mann die neue Frisur auffallen würde, aber eigentlich war es ihr egal.
Sicher war nur eines. Sie würde morgen das neue, farblich zueinander passende Unterwäscheset anziehen. Schließlich wusste man nie, was der Tag bringen würde.

Und wie ihr schon ihre Mutter beigebracht hatte: man sollte stets auf alles vorbereitet sein!


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Tag der Veröffentlichung: 22.12.2008

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