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Das Märchen vom bösen Krumbigel

Kennst Du den Wald der Träume?
Ich meine, Du müsstest ihn kennen.
Sicher bist Du schon einmal unter seinen riesigen Bäumen entlang gewandert, hast den warmen Waldboden unter Deinen bloßen Füßen gespürt. Du hast gesehen, wie die Sonne ihren Weg durch die glänzenden Blätter suchte und lustige Kringel zu Deinen Füßen malte. Und dort, im Wald der Träume, geschützt vom dichten Grün der Bäume, hast Du dann leise Deinen Wunsch ausgesprochen.
So ein Traum muss vorsichtig behandelt werden, das weißt Du. Er ist so zerbrechlich wie Glas, aber ebenso schön, und als Du ihn beim Namen nanntest, flog er davon, schillernd und leicht wie ein Schmetterling. Zur Lichtung im Wald der Träume flog er, dort, wo die Feen leben. Manche Träume holen sie ab, manche Wünsche tragen sie dorthin, wo die Träume der Menschen erfüllt werden. Aber nicht alle Träume, nein, nicht alle. Manche Träume bleiben wie glitzernde Tautropfen an den Blättern hängen, und wenn ein leichter Wind durch die Bäume fährt, klingt es wie ein Chor aus tausenden kleiner, glücklicher Stimmen. Auch Träume, die sich nie erfüllen werden, sind wunderschön…

Wie es passierte, weiß keiner. Irgendwie fand er den Weg zum Wald der Wünsche, der böse Krumbigel.
Er ging unter dem glänzenden Laub entlang, aber er sah es nicht.
Er lief auf dem weichen Waldboden, aber er spürte ihn nicht.
Und auch das Sonnenlicht, welches die schönsten Kringel auf den Waldboden zauberte, war ihm ganz egal, ja, es blendete ihn sogar in den Augen, so daß er sie böse zusammen kniff.
Er war kein netter Mensch, dieser Krumbigel, ganz sicher nicht. Früher einmal, da hatte auch er Wünsche gehabt. Früher einmal, da flogen auch seine Träume durch den Wald zur Lichtung, ließen sich auf den Bäumen nieder und begannen, im Wind zu singen und zu tanzen. Aber irgendetwas war passiert. Vielleicht war eine Fee nicht vorsichtig genug gewesen mit seinem Traum, hatte ihn achtlos zerschlagen? Ich weiß es nicht. Eigentlich tun Feen so etwas nicht. Aber es war nun einmal geschehen. Krumbigel hatte keine Träume mehr, und so stapfte er wütend durch den Wald.
Und dann kam er an die Lichtung im Wald der Träume.
Er sah nicht die Schönheit, der hörte nicht den wunderbaren Chor der kleinen Stimmen. Er bemerkte nur, daß dort etwas war, was er nicht besaß, und in seinem finsteren Herzen spürte er nur das eine Verlangen: niemand solle etwas so Schönes besitzen, wenn er es nicht besitzen konnte. Und er begann zu schreien, laut und böse.
Von dem Lärm zerplatzen die empfindlichen Träume, einer nach dem anderen.
Da schreckte plötzlich ein kleines Mädchen auf und weinte, weil es wusste, es würde die schöne Puppe nie bekommen, die es sich so gewünscht hatte. Natürlich nicht, denn die Mutter hatte doch kein Geld…
Und eine Frau schüttelte traurig den Kopf – sie würde nie ein Buch schreiben, es gab doch so viele, die das versuchten, und alle scheiterten…
Und ein Mann senkte verlegen den Blick, als die Frau, die er heimlich liebte, an ihm vorüber ging und ihn nicht bemerkte.
Und der böse Krumbigel schrie weiter und weiter, und mit jedem Schrei zerplatzen mehr Träume und lösten sich auf. Aber mit jedem Schrei begann auch das Laub des schönen Waldes zu verwelken, und schließlich fielen alle Blätter braun und verdorrt von den Bäumen, bis der Wald kahl und tot dastand.
Krumbigel sah sich um und war zufrieden. Hier würde auf lange Zeit nichts mehr wachsen. Niemand würde es jetzt besser haben als er selbst.
Die Menschen aber, deren Träume er zerstört hatte, wandten ihre tränenfeuchten Gesichter in Richtung des Waldes. Und der Wald, der jetzt nackt und kahl war, konnte Krumbigel nicht mehr verbergen. Da stand er, der böse Krumbigel, auf der kalten toten Lichtung, und die Menschen sahen ihn an und wussten, er war es gewesen, der ihre Träume zerstört hatte.
Plötzlich verspürte Krumbigel zum ersten Mal in seinem Leben Angst…

Was nun geschah, wollt ihr wissen? Oh, im wirklichen Leben würden sich die Menschen umdrehen und fortgehen und den bösen Menschen für den Rest ihres Lebens hassen. Aber dies hier sollte ein Märchen werden, oder? Doch, ich schrieb es eingangs, es ist Das Märchen vom bösen Krumbigel

. Und da ich die Märchenfäden webe, und da im Märchen nichts unmöglich ist…
… da fühlte der böse Krumbigel auf einmal ein Gefühl, welches er lange, sehr lange nicht gefühlt hatte. Er erinnerte sich schwach an dieses Gefühl. Damals, als die Mutter ihm gesagt hatte, du wirst es nie zu etwas bringen, und sich umgedreht hatte, fort von ihm
– damals, als der Vater den sportlicheren Bruder vorgezogen hatte
– als der Lehrer gesagt hatte, nein du bist nicht gut genug…

…damals hatte er dasselbe gefühlt und dabei gehört, wie mit einem leisen, traurigen Geräusch wieder einer seiner Träume geplatzt war. Und genau dieses Gefühl spürte er auch jetzt, als er in die weinenden Gesichter all dieser Menschen sah, deren Träume er zerstört hatte. Dieses Gefühl… es war Bedauern.
Da erwachte in dem bösen Krumbigel auf einmal ein Wunsch, der so stark war, daß er ihn nicht für sich behalten konnte. Und er sprach ihn aus, leise erst, und dann noch einmal lauter.
Die Feen aber, die sich hinter den Baumstämmen verborgen gehalten hatten, kamen aus ihren Verstecken hervor und fingen den Wunsch auf und trugen ihn dorthin, wo die Wünsche der Menschen erfüllt werden.
Im selben Augenblick nickte ein Mann seiner Nachbarin freundlich zu, und die sah ihn an und lächelte zurück.
Einer Frau fielen plötzlich wunderbare Worte ein, und sie machte sich daran, sie zu Papier zu bringen, denn dieses Mal waren es gewiss die richtigen Worte.
Ein kleines Mädchen aber lächelte. Bald würde die Mutter wieder eine Arbeit haben und wieder lachen, und sicher würde es dann die wunderschöne Puppe bekommen, die es sich so sehr wünschte.
Die Welt war schön.

Und an den kahlen Bäumen begannen die hellen Blätter des Frühlings zu wachsen…

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.10.2008

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Menschen, die noch Träume haben.

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