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Wir fuhren im Auto die Elbchaussee in Richtung Övelgönne entlang. Hamburgs Prachtstraße mit den riesigen Villen und den teilweise recht eigenartigen Baustilen faszinierte meinen Begleiter. Immer wieder bat er mich, doch kurz anzuhalten, um ein Gebäude oder eines der riesigen, parkähnlich angelegten Grundstücke genauer in Augenschein nehmen zu können. Schließlich suchte ich einen Parkplatz in der Nähe der Himmelsleiter, die das ehemalige Fischerdörfchen Övelgönne mit der Elbchaussee verbindet. Wir stiegen aus und wanderten die Straße auf der Elbseite entlang ein ganzes Stück zurück. Mein Begleiter war so fasziniert, dass ihm gar nicht auffiel, wie tief ich in Gedanken versunken war. Das geht mir immer so, wenn ich die Elbchaussee entlanggehe, darum vermeide ich es auch, wenn es möglich ist. Selbst nach all diesen Jahren sind die Fragen zu quälend, deren Antworten zu ungewiss.

Nach einiger Zeit kamen wir an der weißen Patriziervilla vorbei. Einiges hatte sich verändert; die Auffahrt war breiter und moderner geworden, und sicherlich war im Innern des Hauses vieles renoviert und dem heutigen Geschmack angepasst worden. Ob wohl die alten Ölbilder noch an den Wänden im Flur hingen?
„Hier ist es“, sagte ich zu meinem Begleiter, „hier habe ich mal ein halbes Jahr lang gewohnt.“
Mein Begleiter sah mich prüfend an. Endlich war ihm wohl aufgefallen, daß ihn eine Geschichte erwartete.
„Erzähl“, sagte er nur.
Und ich erzählte.

„Ich war damals gerade einundzwanzig Jahre alt geworden. Mit meinem Abiturzeugnis war kein Staat zu machen gewesen, ich war nur gerade so mit hindurchgerutscht. Für ein Studium reichte es jedenfalls nicht wirklich, und außerdem wusste ich auch gar nicht, was ich studieren wollte. So vertrieb ich mir die Zeit mit kleinen Jobs, die mir immer schnell langweilig wurden.
Ein Bekannter hat mir dann von dem Stellenangebot erzählt. Eine alte Dame, ungefähr achtzig, suche eine intelligente, nette Gesellschafterin. Ich war mir nicht sicher, ob ich so nett und intelligent war, wie es gefordert wurde, aber die Arbeit schien mir nicht allzu anstrengend und würde für meine Verhältnisse geradezu fürstlich honoriert werden, also bewarb ich mich.
Ich erinnere mich noch wie heute, als ich das erste Mal diese Auffahrt entlang ging. Ich hatte mein bestes schwarzes Kleid angezogen, weil ich mir vorstellte, daß eine Gesellschafterin so auszusehen habe, aber dennoch fühlte ich mich klein und unbedeutend, als ich im Schatten dieser riesigen Bäume auf das Haus zuging.
Auf mein Klingeln hin öffnete mir ein älterer Herr, der soviel Würde ausstrahlte, daß ich beinahe vor ihm in die Knie ging, aber wie ich später erfuhr, handelte es sich um den Butler, nicht um ein Familienmitglied. Und dieser Butler führte mich zu meiner zukünftigen Arbeitgeberin.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ich erinnere mich, daß mich die winzige Frau mit dem langen weißen Haar überraschte.
Obwohl sie im Rollstuhl saß, schien sie immer in Bewegung zu sein. Ihr Lachen klang wenig herrschaftlich, eher burschikos, und als sie mich mit durchdringendem Blick musterte, kam es mir vor, als könne sie alle meine Gedanken lesen. Ich schien ihr zu gefallen, denn nach einem kurzen Gespräch war ich eingestellt.
Einen Tag später zog ich mit meinen wenigen Habseligkeiten in die Villa an der Elbchaussee und begann mit meiner Arbeit.
Viel wurde nicht von mir verlangt, wenn es der Dame auch offenbar Spaß machte, mich ein wenig herumzuscheuchen. Das schien gar nicht böse gemeint zu sein. Sie wartete ganz offensichtlich im Gegenteil eher auf Widerspruch und lachte dann ihr keckerndes Lachen, während ich betont höflich blieb, oder sie mit der Nachsicht behandelte, die man im Allgemeinen eher einem kleinen Kind zukommen lässt.
Abends liebte sie es, wenn ich ihr vorlas. Ihre Augen seien nicht mehr so scharf wie früher, behauptete sie, und sie genoss die ruhigen Zeiten vor dem Kamin in der Bibliothek sehr. Ich nicht weniger.
Im Haus kannte ich mich bald recht gut aus. Waren mir die vielen Gänge und Zimmer eingangs noch verwirrend vorgekommen, so wusste ich schon nach kurzer Zeit, wo ich zu erscheinen hatte, wenn ich zum Speisezimmer, zur Bibliothek oder in den Wohnraum bestellt wurde.
Besonders hatte es mir einer der Flure im ersten Stock angetan. Dort hingen, in Öl gemalt, die Ahnen meiner Chefin bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Unbeweglich und ernst blickten sie den Betrachter von der Wand aus an, und immer versuchte ich mir vorzustellen, wie sie wohl im wirklichen Leben ausgesehen haben mochten; wie sie durch die Gänge der Villa gelaufen waren, wie sie vielleicht – beinahe unvorstellbar mit diesen strengen Gesichtern – gelacht und geliebt hatten.
Auch das Bild meiner Chefin hing an der Wand, ein wunderschönes junges Mädchengesicht. Sie mochte zum Zeitpunkt des Entstehens ihres Konterfeis vielleicht 20 Jahre alt gewesen sein, und zweifellos hatte sie die roten Haare und die braunen Augen ihres Vaters auf dem Bild gleich daneben geerbt.

Der Hausherrin war nicht verborgen geblieben, wie sehr mir die Gemälde gefielen. Eines Tages rief sie mich zu sich in die Bibliothek und befahl mir, die Tür zu schließen und mich zu setzen. Ich überlegte schnell, ob ich mir irgendetwas hatte zuschulden kommen lassen, aber mir fiel nichts ein, und das war es auch gar nicht, was sie wollte.
„Heute erzähle ich

ihnen mal eine Geschichte“, beschied sie mir. „Ich hoffe sehr, sie können schweigen“.
Und dann begann sie zu erzählen.

„Vor beinahe achtzig Jahren wurde in diesem Hause ein kleines Mädchen geboren. Die Mutter war von schwächlicher Konstitution, und Stillen war damals für Angehörige der Oberschicht nicht besonders üblich. Da die Eltern sich aber das Beste für ihr einziges Kind wünschten, wurde zu gegebener Zeit nach einer Amme gesucht. Und so kam eine junge Frau namens Henrietta in das Haus, welche ebenfalls ein neugeborenes Mädchen hatte, und die das Baby neben ihrem eigenen stillte. Und als die Zeit des Stillens vorbei war, behielt man Henrietta, da sie so ein einnehmendes Wesen hatte, und auch, da sie so gut mit dem kleinen Kinde umgehen konnte, denn die Mutter, die ihre Tochter zwar liebte, fühlte sich doch sehr überfordert mit dem kleinen Wesen, auch war sie meist leidend und kränklich. Der Vater kümmerte sich ebenfalls wenig um das Mädchen, denn er hatte sich insgeheim einen Sohn als Erben gewünscht und wußte mit Mädchen nur wenig anzufangen. So geschah es, daß die beiden Mädchen miteinander aufwuchsen, und man hätte sie für Zwillinge halten können, denn sie waren nicht nur beide fast gleichaltrig, sondern sahen sich zudem noch recht ähnlich mit ihren roten Haaren, wenn auch die eine braune Augen besaß und die andere blaue.
Als die beiden Mädchen 10 Jahre alt waren, starb die Mutter. Das war traurig, aber ihre Tochter hatte keinen herzlichen Kontakt zu ihr gehabt, sondern war immer mit all ihren Sorgen und Nöten zu ihrer ehemaligen Amme gelaufen, und so änderte sich in ihrem Leben nicht allzu viel.
Beide Mädchen besuchten die Schule, wenn auch die eine auf eine Volksschule ging, welche sie nach der achten Klasse verließ, um in die Dienste des Hauses zu treten, die andere aber eine teure Privatschule besuchte, auf welcher sie ihr Abitur machte.
Nach dem Schulabschluss war es damals für höhere Töchter Sitte, daß sie ein wenig von der Welt kennen lernten, und da Henrietta schon seit langem dem Hause so treue Dienste leistete, wurde sie beauftragt, als Anstandsdame mitzukommen. Und weil ihre eigene Tochter sich mit der Tochter des Hauses so gut verstand, wurde sie als Zofe mitgenommen.
So fuhren die drei eines Tages ab, zuerst nach Paris, dann nach Florenz und Rom und schließlich nach Neapel. Und dort, im sonnigen Süden, erreichte die kleine Reisegruppe dann eine tragische Nachricht. Der Vater des jungen Mädchens war gestorben, an einer Lungenentzündung, die er sich im kalten Hamburg zugezogen hatte.
Natürlich musste die Reise sofort abgebrochen werden. In aller Eile packte man die Koffer und machte sich auf den Weg nach Hause – und da passierte ein schrecklicher Unfall. Ganz in ihre Trauer versunken, hatte Henriettas Tochter nicht Acht gegeben, war auf die Straße gelaufen und von einem Auto überrollt worden. Sie war sofort tot.“

Meine Chefin war tief in Gedanken, als sie bei diesem Teil der Geschichte ankam. Dann richtete sie ihre braunen Augen auf mich und schüttelte sacht den Kopf. „Ich habe um sie mehr getrauert als um meinen eigenen Vater“, sagte sie leise. „Sie war mir wie eine Schwester, während ich doch meinen Vater kaum jemals zu Gesicht bekommen hatte. Aber ich tat, was getan werden musste, und Henrietta half mir dabei. Sie fuhr voraus, und ich, als nunmehr Herrin des Hauses, kam hinterher und wir beerdigten beide, meinen Vater und sie… und ich trug stets eine Sonnenbrille, hinter der man meine verheulten Augen nicht sehen konnte. Ich entließ alle Bediensteten und suchte mir ein paar neue Hilfen. Einen Koch, ein Küchenmädchen, ein Zimmermädchen, einen Butler… dann kam der Krieg und später die Währungsreform, und in dieser Zeit verlor ich viel von dem Vermögen der Familie. Ich musste sparen, und so entließ ich auch diese Bediensteten wieder. Nur der Butler ist heute noch übrig, aber er hat Henriettas Tochter und meinen Vater nie kennen gelernt.
Henrietta lebt seit vielen Jahren in einem Altenheim. Und obwohl sie manchmal sehr durcheinander ist, hat sie all die Jahre nicht ein Wort über diese Geschichte verraten.“
Und meine Chefin lachte ihr keckerndes Lachen. Ich dagegen fühlte eine Gänsehaut auf meinem Rücken. Ich wollte etwas fragen, wusste aber nicht genau, wie ich es formulieren sollte.
Schließlich sagte ich vorsichtig: „Das Ölgemälde von Ihnen, da oben im Flur… hatte es immer schon braune Augen?“
Meine Chefin sah mich aufrichtig belustigt an.
„Es war nicht einfach, einen Künstler zu finden, der die Augen braun übermalte, und zwar so, daß es niemandem auffiel. Und der dann auch noch verschwiegen war“
„Aber“, stotterte ich, „aber das ist doch…“
„Rechtmäßiger als sie denken, mein Kind“, erwiderte meine Chefin. „Schließlich waren wir Halbschwestern. Unser Vater hatte ein außereheliches Techtelmechtel mit dem jungen Dienstmädchen eines Bekannten gehabt, und als feststand, daß Henrietta dann schwanger war, hatte er ihr gegenüber wohl ein schlechtes Gewissen. Da traf es sich ganz gut, daß seine Frau ebenfalls ein Kind bekam, und er stellte seine Geliebte einfach als Amme für seine eheliche Tochter ein. Eigentlich wäre ich also wirklich erbberechtigt gewesen. Wenn ich nur nicht ein unehelicher Bastard gewesen wäre.“, setzte sie mit kaum hörbarem Seufzen in der Stimme zu.
„Und Ihrer… also, seiner Frau ist nie ein Verdacht gekommen, daß sie beide Halbschwestern sein könnten? Sie sahen sich doch offenbar außerordentlich ähnlich?“, fragte ich erstaunt. Meine Chefin schüttelte den weißen Kopf. „Ich kann mich nicht erinnern“, gab sie dann zu.
"Ich war doch erst zehn Jahre alt, als sie starb, und Henrietta hat mir die Geschichte erst viele Jahre später erzählt. Vielleicht wurde unter den Dienstboten getuschelt, vielleicht hatte sie auch einen Verdacht, aber wenn sie ihn ausgesprochen hätte, wäre es zu einem Skandal gekommen, und so sagte sie vermutlich lieber nichts.“
Ihre braunen Augen blitzten in kaum verhohlener Erheiterung.
„Vergessen Sie nicht, daß sie Stillschweigen geschworen haben“, ermahnte sie mich dann. Und ich nickte verwirrt und schwieg.
Einige Monate später ist meine Chefin dann gestorben, und ich begann endlich mit einer vernünftigen Ausbildung.“

Mein Begleiter runzelte nachdenklich die Stirn.
„Aber Du hättest doch etwas unternehmen müssen“, meinte er mit leisem Vorwurf in der Stimme, „immerhin war es doch Betrug, was Deine Chefin da gemacht hat“
„Das dachte ich zuerst auch“, antwortete ich. „Aber dann, ein paar Wochen, nachdem sie gestorben war, kam mir der Gedanke, Henrietta im Pflegeheim zu besuchen. Vielleicht konnte sie mir einige Fragen beantworten, die ich gerne noch geklärt hätte.
Henrietta war weit über 90, und wie mir meine Chefin schon erzählt hatte, war sie oft nicht ganz bei sich. Ich nahm an, es habe keinen Sinn, ihr zu erzählen, daß ihre Tochter gestorben sei, denn das hätte sie nur aufgeregt. Ich sprach sie stattdessen direkt darauf an, daß sie nach dem Tode der wirklichen Erbin ihrer eigenen Tochter geholfen hatte, die Identität ihrer Halbschwester anzunehmen.“
„Und was sagte sie dazu?“, fragte mein Begleiter gespannt.
„Sie sagte, sie habe nur die Ordnung wieder hergestellt“, erwiderte ich, "und dann fing sie an, über etwas ganz anderes zu reden. Mehr habe ich also nicht von ihr erfahren können"
Mein Begleiter war erstaunt.
„Was meinte sie denn damit“, fragte er verwirrt. Ich lachte.
„Oh, so ganz genau werde ich es wohl nie wissen. Aber ich nehme an, sie hatte die Babys bereits direkt nach ihrem Einzug in die Villa ausgetauscht, weil sie ihrer eigenen Tochter ein besseres Leben ermöglichen wollte. Sie wusste ja nicht, wie lange sie bleiben durfte, und als uneheliches Kind eines Dienstmädchens hatte die Kleine nicht viel vom Leben zu erwarten. Aber dann kümmerte sie sich über all die Jahre um beide Kinder und gewann sie auch alle beide lieb. Und hatte wohl immer ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Tat. Ich nehme stark an, meine damalige Chefin war immer die richtige Erbin gewesen.“
Wir starrten eine Weile schweigend auf die weiße Villa.
Nach einiger Zeit öffnete sich die prunkvolle Eingangstür und ein Mann trat heraus.

Ich kannte ihn nicht.

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Tag der Veröffentlichung: 03.11.2008

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