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Talfahrt



Ich rüttelte einmal kräftig an der Türklinke. Und endlich ließ sich der Schlüssel im verrosteten Türschloss drehen. Die Tür quietschte laut, als ich sie aufschob und mir stieg der Geruch von Zigarettenrauch in die Nase. Aus dem nur leicht beleuchteten Wohnzimmer dröhnte der Fernseher. Ich hing meine Jacke über die offen stehende Toilettentür und warf meine Schultasche in eine Ecke. Ich schlurfte ins Wohnzimmer, wo meine Mutter ausgestreckt auf der Couch lag und gebannt auf den Bildschirm starrte. Sie bemerkte mich, wie ich da still neben der braunen Ledercouch stand, warf mir einen kurzen Blick zu und fragte mich tonlos: „Wie war’s in der Schule?“ „War wie immer“, erwiderte ich, doch meine Mutter hatte, da war ich mir sicher, meine Antwort nicht mitbekommen. In diesem Augenblick erinnerte ich mich an meine 1 in Mathe. Alle normalen Eltern würden ihren Kindern zuhören und sich für sie freuen, wenn diese eine 1 schreiben würden. Aber mir war klar, dass es auch Kinder mit nicht so netten Eltern gab. Und ich hatte mich schon lange damit abgefunden, dass ich zu diesen Kindern zählte. Ich ging aus dem Raum und hob im Flur meine Schultasche auf. Es war gerade mal 16 Uhr und trotzdem fiel nicht mehr viel Licht durch mein Fenster, da es seit bestimmt einem Jahr nicht mehr geputzt wurde. Meinem Vater war der Fensterputzer zu teuer und meine Eltern würden sich selber niemals die Hände schmutzig machen. Also schaltete ich das Licht an. Ich schaute mich in meinem Zimmer um und seufzte. Es war klein. Trotzdem hatte ich alles, was ich brauchte. Vor dem Fenster stand mein Schreibtisch mit meinem Computer. Es war ein recht altes Modell, aber ich brauchte nicht unbedingt so einen High-Tech-Flachbildschirm. An der linken Wand stand ein alter Schrank mit einer Menge Bücher und rechts mein Bett. Jetzt schweifte mein Blick hinüber zur Wand über meinem Bett. Dort hingen Bilder. Bilder von Johnny Depp. Seit meinem 7. Lebensjahr wusste ich, was ich werden wollte. Ich wollte Schauspieler werden. Ich wollte so werden wie Johnny Depp. Als ich aber anfing, Bilder von ihm über mein Bett zu hängen, merkte ich wieder, dass ich eines dieser Kinder war, die von ihren Eltern nicht gemocht wurden. Ich erinnere mich noch heute an eine Situation mit meinem Vater, die mich dazu brachte, meinen eigenen Willen durchzusetzen.

Es war ein Freitagabend. Ich war 9 Jahre alt und mein Vater war gerade von einem Treffen mit seinen Freunden aus einer Kneipe zurückgekommen. Er trat die Haustür mit seinem Fuß auf und torkelte in die Wohnung. Ich hatte ihn schon oft betrunken gesehen und mir fiel es schon fast nicht mehr auf. Auf dem Weg zu meinem Zimmer schmiss er seine Jacke auf den Boden. Ich saß gerade auf meinem Bett und schmückte meine Wand mit neuen Bildern, als er in mein Zimmer kam und brüllte, ich solle die Bilder sofort von meiner Wand nehmen. Ich solle gefälligst ein Mann werden und kein Milchbubi, der sich nicht wehren kann. Als ich mich nicht rührte, stieg er mit seinen Schuhen auf mein Bett und riss alles ab. Meine ganze Sammlung von über 2 Jahren landete zerrissen auf dem Boden. Ich weiß noch genau, dass ich an diesem Abend nicht mehr aufhörte zu weinen. Aber ich weinte hinter geschlossener Tür, weil ich nicht wollte, dass mein Vater etwas davon mitbekam. Er würde noch sauer genug werden, wenn er eine Woche später wieder die Wand über meinem Bett betrachteten und eine neue Sammlung Bilder dort hängen sehen würde.

Ab da wurde mir klar, dass ich anfangen musste, mich in bestimmten Situationen zu wehren.
5 Jahre waren seit diesem Tag vergangen, und heute brachte mir dieser Entschluss, mich zu wehren, nichts mehr. Meinen Vater kümmerte es jetzt nicht mehr, mit was oder mit wem ich mein Zimmer ausstattete. Im Allgemeinen war ich ihm in diesen 5 Jahren scheißegal geworden. Er hatte gesagt, er würde sich für mich schämen. Ich war abgehärtet. Und obwohl ich meine Eltern nicht leiden konnte, tat es doch weh, als ich das 1. Mal vor 2 Jahren sah, wie mein Vater meine Mutter schlug.

Sie hatte geschrien und nach einer halben Stunde hatte sich mein Vater in sein Zimmer zurück gezogen und geschlafen, während meine Mutter noch in der Küche saß und stundenlang weinte.
Ich wusste, dass ich, der von seinem Vater eh nicht wahrgenommen wurde, keine Chance hatte, etwas gegen seine Prügelattacken zu unternehmen. Also entschloss ich mich auch dazu, alles was in unserer Wohnung geschah zu vergessen, wenn ich in der Schule oder bei meinem besten und einzigen Freund Max war.

Jetzt wollte ich erst einmal alles, was passiert war, vergessen und mich voll und ganz auf meine Hausaufgaben konzentrieren. Ich mochte die Schule. Ich mochte sie aber nicht, weil ich gute Noten schrieb oder weil ich die Lehrer so gut leiden konnte. Ich mochte die Schule, weil ich dort die Chance bekam an etwas anderes zu denken als an meine Familie.

Es war eine Woche später, als mein Wecker wie üblich um 6:45 Uhr klingelte. Ich schlug die Augen auf und schaltete ihn schnell aus. Meine Mutter saß meistens schon in der Küche, wenn ich aus meinem Zimmer kam aber mein Vater schlief noch . Er wurde immer sauer, wenn er von meinem Wecker aufwachte und dann wollte man ihm nicht gegenüberstehen. Ich sprang aus dem Bett und zog mich an. Danach nahm ich meine Schultasche mit in den Flur und ging in die Küche. Meine Mutter saß auf einem der Küchenstühle und hielt in beiden Händen eine dampfende Tasse Kaffee. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um mir eine alte Schale aus dem Schrank zu nehmen und füllte sie mit Schokomüsli. Im Kühlschrank fand ich keine Milch. Nur Bierflaschen. Volle und leere. Ich schenkte mir ein Glas Wasser ein und setzte mich gegenüber meiner Mutter an den Tisch. Wir sagten kein Wort. Das war aber nichts Neues, denn wir sprachen morgens nie. Meine Mutter war immer so gereizt. Ganz plötzlich drang das Geräusch einer zuschlagenden Tür in die Küche. Ich zuckte zusammen und horchte auf weitere Geräusche, während ich die halb angelehnte Tür beobachtete. Im Augenwinkel sah ich, wie meine Mutter aufstand, um sich in die hinterste Ecke der Küche zu begeben. Dann ging die Küchentür langsam auf. Man sah meinem Vater an, dass er nicht viel Schlaf gehabt hatte. Die Augen, unter denen dunkle Augenringe waren, waren nur noch schmale Schlitze in seinem faltigen Gesicht. Er trug noch immer seine Straßenschuhe. „Dein Wecker war zu laut!“ sagte er. Er sagte das nicht so wie ich es erwartet hätte. Er hatte nicht geschrien. Seine Stimme war ganz ruhig gewesen. Unheimlich ruhig. Ich atmete einmal tief ein und sagte dann leise: „Tut mir leid“. Ich wusste nicht, was jetzt passieren sollte. Mir war diese Reaktion nicht bekannt. Früher hatte er immer sofort gebrüllt, wenn ich ihn aus Versehen mit geweckt hatte. Es war immer noch ganz leise. „Wie die Ruhe vor dem Sturm“, dachte ich. „Es tut dir also leid, ja?“ fragte mein Vater höhnisch und richtete sich langsam vor mir auf. „Ja“, sagte ich fast flüsternd. „Ich muss mir das aber nicht mehr länger gefallen lassen! Hab gefälligst Respekt vor mir, klar?“ „Ja“ wollte ich sagen, aber er schrie los: „Stell dich gefälligst hin wie ein MANN, wenn ich mit dir spreche.“ Er hatte mich an meinem T-Shirt hoch gezogen und mich auf die Füße gestellt. Jetzt verließ meine Mutter die Küche. Mein Vater hatte mich fest an den Schultern gepackt und drückte zu. „Aua! Lass mich los, das tut weh“ wimmerte ich. Mein Vater ließ mich nicht los sondern schüttelte mich kräftig. „Bitte Papa!“ Ich fing jetzt an zu weinen, aber mein Vater schien mich nicht zu hören. Ich versuchte mich zu wehren und trat nach ihm. Er lachte nur und warf mich auf den Boden. Es war Reflex und ich konnte nicht aufhören zu treten und zu schlagen, obwohl ich die ganze Zeit, während ich dort in der Küche auf dem Boden lag, wusste, dass er zurück schlagen würde.

Eine halbe Stunde später fuhr ich in rasendem Tempo auf den Schulhof und bremste an den Fahrradständern hart ab. Ich wollte gerade mein Fahrrad anschließen, als ich merkte, dass ich denn Schlüssel für das Schloss zu Hause vergessen hatte. „Hey Justin!“ Mein bester Freund Max war gerade hinter mir aufgetaucht. „Hi Max!“ sagte ich mit gesenktem Blick. Mein Gesicht tat von den Schlägen meines Vaters unglaublich weh. „Wie geht’s?“ fragte er mich. „Gut“, antwortete ich tonlos, „und dir?“ „Super! Wir haben gestern ein Spiel gewonnen. 4:1. Cool oder?“ „ Cool“ Ich versuchte, glücklich zu klingen aber es gelang mir nicht. Wir betraten schweigend das Schulgebäude. Ich spürte Max Blick im Nacken, aber ich wollte ihm jetzt nichts erzählen. Ich wollte am liebsten ganz allein sein. „Justin? Was ist denn los mit dir?“ fragte Max keuchend, denn ich lief jetzt schneller. „Nichts“, erwiderte ich barsch.

Ich steuerte auf unsere Klasse zu und stieß die Tür auf. Thomas, Jasmin und Rene waren schon da. Ich hing meine Jacke an einen Haken und setzte mich an meinen Platz. Max hatte es aufgegeben, ein Gespräch mit mir anzufangen. Er setzte sich an seinen Platz, der neben meinem war. In der 1. Stunde hatten wir Englisch und ich zog meine Bücher aus der Tasche. Plötzlich stand Max auf und hockte sich neben meinem Tisch auf den Boden, ohne dass ich es bemerkte. Als er nach Luft schnappte, zuckte ich zusammen und blickte ihn an. „Oh mein Gott! Was ist mit deinem Gesicht?“ fragte er entsetzt, als er die Schwellungen sah. Ich sagte nichts sondern blickte nur still auf meine Tischplatte. Als die anderen ebenfalls meine Verletzungen bemerkten, stand ich im Mittelpunkt, bis die Lehrerin kam. Auch sie wollte wissen, was passiert war, aber ich sagte ihr nichts. Ich denke, ich habe ihr damals nichts gesagt, weil ich Angst hatte. Ich hatte Angst davor, dass mein Vater erfuhr, dass ich mich bei jemandem ausheulte. Und so ließ ich es besser gleich. In der 2. Pause stritt ich mich heftig mit Max. Es war das 1. Mal, dass ich mich mit jemandem geschlagen hatte und dann noch mit meinem besten Freund! Ich weiß nicht, wer von uns angefangen hatte und mir war es auch egal. Er hatte mich einen Feigling genannt. Ohne Grund. Er meinte, wir wären keine echten Freunde, wenn ich ihm nicht erzählen würde was passiert war. Sollte er doch aufhören mein Freund zu sein. Ich brauchte ihn nicht.

Als ich mich später lautlos durch das dunkel angestrichene Treppenhaus schleppte, fühlte ich mich seltsam. Ich war allein. Ich hatte meine Eltern noch nie besonders leiden können, aber ich hätte nicht gedacht, dass mein Vater mir weh tun würde. Ich wusste damals nicht, dass mich das Ereignis mit meinem Vater dazu brachte, in ein sehr tiefes Loch zu fallen, aus dem es keinen vorhersehbaren Ausweg gab. Im 3. Stock war die Wohnung meiner Eltern. Ja, es war die Wohnung meiner Eltern. Nicht meine, denn ich fühlte mich dort nicht mehr zuhause. Als ich die Wohnung betrat, hörte ich meine Eltern streiten. Ich blickte vorsichtig ins Wohnzimmer und sah, wie mein Vater meine Mutter anschrie. „...rausgeschmissenes Geld! Fahr doch hin, wenn du mit den bekloppten Weibern reden willst.“ „Du kannst mich mal!“ schrie sie zurück. „Du kannst mich mal? Du kannst mich mal was?“ fragte er und stürmte aus dem Wohnzimmer. Ich konnte mich nicht rechtzeitig verstecken. Mein Vater packte mich ohne ein Wort am Kragen und schleuderte mich in mein Zimmer. Dann knallte er die Tür zu und schloss ab. Ich hörte, wie er die Wohnung verließ. Ich seufzte und setzte mich erschöpft auf mein Bett.

Die folgenden drei Wochen sprach ich kein einziges Wort mit Max. Ich vermisste ihn schon ein wenig, aber wenn er nicht begreifen konnte, dass ihn nicht alles etwas anging, waren das nun mal die Folgen. Meine Situation zu Hause war schlimmer geworden. Mein Vater hasste mich. Er meinte, ich könnte nicht sein Kind sein, weil ich viel zu feige sei. Es machte mich rasend, das zu hören. Doch der heutige Tag wurde zu dem Tag, der mein Leben für immer veränderte. Alles fing an, als ich mich in der Schule an meinen Platz setzte und einen kleinen Zettel entdeckte, der auf dem Tisch lag. Ich nahm ihn in die Hand und versuchte die krakelige Schrift darauf zu entziffern.

„Hi Justin,
Ich bin Torben aus der 11. Klasse. Ich schätze du hast schon mal von mir und meinen beiden Freunden gehört. Wir haben auch schon von dir gehört. Du sollst ein echt schlimmer Streber sein. Aber das, was wir vor 3 Wochen auf dem Schulhof gesehen haben, hat unser Bild von dir echt stark verändert! Diese Prügelei war voll cool. Wir würden gern mal was mit dir unternehmen, um dich ein bisschen besser kennen zu lernen. Also, wenn du Lust hast, komm doch einfach heute um 19:00 Uhr in den Stephensweg. Wie warten vor der Disco ‚Nightscream’ auf dich.
Torben Schneider“

Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich hatte Torben Schneider, den fiesen Macho aus der 11. noch nie gemocht, aber sein Brief faszinierte mich sehr. Er mochte mich. Und dass er und seine 2 Freunde mich einladen wollten, fand ich klasse. In mir kam Hoffnung auf. Ich hatte eine Chance auf Freunde, die mich für mutig hielten. Diese Jungs schienen die einzige Möglichkeit für mich zu sein zu leben. Heute weiß ich, dass es besser gewesen wäre, wenn ich mich wieder mit Max vertragen hätte. Aber damals wollte ich einfach nur etwas erreichen, um nicht immer der kleine Streber zu bleiben. Ich würde hingehen. Ich konnte Torben in der 1. Pause nicht finden, um ihm zu sagen, dass ich kommen würde, also musste ich mich gedulden.

Meine Vorfreude war riesig, als ich auf meinem Rad durch die dunklen Straßen sauste und mir der Wind ins Gesicht peitschte. Es war ein tolles Gefühl. Es war, als wäre ich stark, wenn ich daran dachte, bald möglicherweise zu einer Gruppe von coolen Leuten zu gehören. Als ich mein Rad ein paar Meter von der Disco entfernt abstellte, schlug mein Herz sehr laut und sehr schnell. Es war, als hätte ich einen Presslufthammer in der Brust. Ich schloss meine Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus, aber es brachte nichts. Ich hoffte, dass es den anderen nicht auffallen würde. Ich ging zum Eingang der Disko und blickte mich um. Ich suchte in der Menge, die vor der Disko versammelt war, nach Torben und seinen beiden Freunden. Ein Typ machte mich von der Seite an. Was ich denn hier zu suchen hätte. Erschrocken schüttelte ich den Kopf und stolperte nach hinten. Plötzlich rief jemand meinen Namen und als ich mich umdrehte, sah ich Torben und seine beiden Freunde auf mich zukommen. Als die drei vor mir standen lächelte Torben cool auf mich herab. Aber was ich sah, war nicht das coole Herablächeln, das sagte: „ Na? Wollen wir doch mal sehen, ob du uns gewachsen bist!“. Nein! Es war ein einladendes und freundliches, cooles Lächeln. Es sagte mir: „Schön, das du da bist!“ Ich lächelte vorsichtig zurück. „Hi Justin, wie geht’s?“ fragte Torben. „Super!“ Ich war aufgeregt. Als wäre ich kurz vor einer wichtigen Prüfung. Im Prinzip war es auch eine Prüfung. Entweder ich hatte nach diesem Abend Freunde oder eben nicht. In diesem Moment machte Torben mich auf seine beiden Freunde aufmerksam. „Das ist Dominik und das Frank“ Dominik war ein muskelbepackter Riese. Frank war winzig im Gegensatz zu ihm. Er wirkte etwas schüchtern. Dominik aber ging auf mich zu und streckte mir die Hand entgegen. „Hi, ich bin Dominik. Du kannst mich Nick nennen“. Ich nahm seine Hand und schüttelte sie. „Okay“, sagte ich. „Hey! Als ich gesehen hab, wie du diesen Typ verprügelt hast... da warst du voll cool! Ich hätte nie gedacht dass du so cool sein kannst!“ Der Junge, den Torben mir als Frank vorgestellt hatte, war vorgetreten. Er war der kleinste von den drei Jungen, aber immer noch einen ganzen Kopf größer als ich. Ich wollte mich bedanken, aber da sagte Torben schon: „Genug gequatscht! Kommt, wir gehen rein und trinken was.“ Torben ging voraus und wir gingen ihm hinterher. Drinnen war es stickig und heiß. Plötzlich packte mich jemand fest an meiner linken Schulter und hielt mich fest, so dass ich nicht weiter gehen konnte. Ich sah mich um. Ein glatzköpfiger, muskulöser Mann stand hinter mir und lächelte mich fies an. „ Dich kenn ich nicht!“ stellte er fest. „Hey Jack, lass ihn los! Er gehört zu mir.“ rief Torben, der zum Glück zurück gekommen war, um nach mir zu sehen. „Oh das konnte ich ja nicht wissen!“ erwiderte Jack und ließ mich sofort weiter gehen. Ich war sehr glücklich, weil Torben mir geholfen hatte. Er schien mich echt zu mögen.

Wie hatten den ganzen Abend unglaublich viel Spass. Wir erzählten uns von witzigen Ereignissen, die wir erlebten und als ich bemerkte, dass Torben mir so ähnlich war, erzählte ich ihm von meinen Eltern und wie ich lebte. Torben erzählte mir dann, dass auch Nick von seinen Eltern geschlagen wurde. Nick berichtete mir, dass bei ihm alles erst aufgehört habe, als sein Vater gestorben war. Das schockierte mich ziemlich, aber ich könnte mir das gleiche auch für meinen Vater vorstellen. Ich hatte mich schon lange nicht so wohl gefühlt wie heute und ich vertraute Torben vollkommen. Es war leichtsinnig. Das sehe ich heute ein, aber damals hatte ich keine Bedenken, die Flasche Bier von ihm anzunehmen. Zuerst war der Geschmack ekelhaft, aber Torben versprach mir, dass der Geschmack mit der Zeit besser werden würde. Ich glaubte ihm und trank. „Aber ich darf doch eigentlich noch gar keinen Alkohol trinken!“ meinte ich, als ich die Flasche schon fast leer getrunken hatte. „Hey! Du bist 14. Deine Eltern sehen das doch viel zu eng!“ sagte Torben grinsend. „Ja ... wahrscheinlich hast du Recht“ Torben mochte mich, da war ich mir sicher. Das bedeutete doch, dass er nur das Beste für mich wollte. Ich konnte ihm vollkommen vertrauen. Und Torben hatte Recht. Nach der zweiten Flasche merkte ich, dass der Geschmack mich schon nicht mehr so gestört hatte.

Um 21:00 Uhr verließen wir die Disco und zogen noch ein bisschen umher. Später brachte Torben mich nach Hause. Es war schon fast 22:00 Uhr als ich in die Wohnung kam. „Ich bin wieder da,“ rief ich. Natürlich hatte ich keine Antwort erwartet. Jetzt, wo ich wieder in der Wohnung war, wurde ich in meine alte Welt zurückgeworfen. Und ich vermisste die andere, neue Welt, die ich gerade erst kennengelernt hatte. Heute Morgen war ich noch unglücklich gewesen, aber Torben hatte meinen Tag eindeutig zu einem besseren, außergewöhnlichen Tag gemacht. Ich war mir sicher das er jetzt mein neuer bester Freund war.

Am nächsten Tag hing ich in den Pausen mit Torben, Nick und Frank ab. Ich hatte immer noch nicht mit Max gesprochen, seit wir uns gestritten hatten. Das war auch gut so! Ich brauchte ihn nicht mehr. Da war ich mir sicher, denn ich brauchte keinen Freund, der alles von mir erfahren wollte. Ich hatte die Entscheidung getroffen, wenn möglich kein Wort mehr
mit Max zu reden.

Damals wusste ich noch nicht, dass diese Entscheidung schlimme Auswirkungen auf die Zukunft haben würden. Und so ging ich auch an diesem Tag um 19:00 Uhr mit Torben, Nick und Frank in die Disco. Nachdem wir lange und schlecht getanzt hatten, setzten wir uns erschöpft an die Bar. Torben gab uns allen ein Bier aus. Ich trank es. Ich wollte wohl einfach dazu gehören. Daher war mir auch nicht klar, was noch passieren würde.

Als ich die Augen aufschlug, wurde ich von hellem Licht geblendet. Als ich in der Nähe einen Fernseher laufen hörte, dachte ich, ich hätte alles nur geträumt und würde wieder bei meinen Eltern in der Wohnung sein. Aber alles sah anders aus. Nur die Bierflaschen, die ich sah, als ich mich nach rechts drehte, erinnerten mich an mein Zuhause. Plötzlich rief jemand: „Hey Torben, ich glaub der Kleine ist wach!“ Es entfernten sich Schritte. Ich lauschte und hörte wieder Schritte näher kommen. „Na Justin. Gut geschlafen?“ Das war Torben. „Wo bin ich?“ murmelte ich. „Hab dich zu mir nach Hause gebracht. Ich weiß ja, dass du deins nicht magst. Als du dich dann gestern n’ bisschen übernommen hast hab ich gedacht...“ „ Was meinst du damit. Ich hab mich übernommen?“ unterbrach ich ihn und schnellte dabei hoch, musste mich aber schnell wieder hinlegen, als mir schwindelig wurde. „Na ja... Du hast ganz schön viel getrunken! Ich dachte, du könntest dich erinnern. Ich würde so einen Abend nie vergessen.“ Bei den letzten Worten lächelte er mich über die dunkelbraune Sofakante hinweg an. Langsam sickerten seine Worte zu mir durch und ich begann, mich verschwommen an Lichter und dröhnende Musik zu erinnern. Und Alkohol. „Aber wieso? Wieso hast du mich denn nicht daran gehindert?“ fragte ich entsetzt. „Hey was denn? Ich dachte du wolltest mit uns abhängen. Da kann man doch ruhig ein bisschen trinken oder etwa nicht? Bist du doch ein Weichei oder was? Also wenn du keinen Bock mehr hast, zu kommen, dann ... komm einfach nicht mehr.“ Er wurde immer wütender. Alles protestierte in mir: Geh nicht mehr hin, geh nicht mehr hin! „Doch! Ich will doch noch kommen! Ich muss mich nur irgendwie an diesen ganzen neuen Kram gewöhnen. Das mit dem Trinken.“ „Okay. Justin, ich versteh das. Aber du bist echt stark!“ Torben sprach jetzt wieder freundlicher. Ich mochte Torben. Und an seine Freunde könnte ich mich sicher auch gewöhnen! An das mit dem Alkohol vielleicht ja auch noch. Auf jeden Fall war ich mir sicher, dass sich zwischen uns eine gute Freundschaft entwickeln würde.

Ich ging heute mit Torben zur Schule. Wir waren zu spät. Was war daran schon schlimm. Nick und Frank warteten am Schultor auf uns. Dann sah ich Max. Er stand in einiger Entfernung von Frank und Nick. Er brachte ein vorsichtiges Lächeln hervor. Dann sah er, dass ich mit Torben kam und sein Lächeln verschwand wieder. Als wir näher kamen würdigte ich ihn keines Blickes. „Hängst du jetzt echt mit denen ab?“ rief er zu mir herüber. Ich blieb abrupt stehen und drehte mich auf dem Absatz zu ihm um. „Hey! Das ist tausend Mal besser als mit dir!“ erwiderte ich cool. „Du redest Scheiße! Es wäre besser für dich, wenn du mein Freund wärst,“ schrie Max. „Rede nur! Du hast keine Ahnung, was besser oder schlechter für mich ist. Du hältst es ja auch für besser, wenn du alle meine Geheimnisse kennst,“ schrie ich zurück. „ Ich will doch nicht sofort alle wissen. Aber das gehört doch auch dazu. Wir sind doch Freunde.“ Max wurde immer leiser, während er sprach. „Nein! Das waren wir einmal.“ sagte ich, ohne eine Miene zu verziehen. Ich schlug Max mit all meiner Kraft in den Bauch und trat ihm gegen das Schienbein. Ich war überrascht von meiner eigenen Stärke, als ich sah wie Max auf den Boden sank. „Komm mit,“ sagte Torben und zog mich in das Schulgebäude. „ So jemand war mal dein Freund?“ fragte Nick. „Ja ... leider!“ antwortete ich.

Als Max in der 1. Stunde in die Klasse kam, setzte er sich ohne ein Wort an seinen Platz. Wir hatten unsere Tisch auseinander gezogen. Unsere Lehrerin schaute ihn nur kurz fragend an und fuhr dann mit dem Unterricht fort. Ich konnte nicht verstehen, was Max gegen Torben hatte. Nun gut. Torben wirkte von außen ziemlich draufgängerisch und machomäßig. Aber Torben war ein anderer Mensch, wenn man ihn erst kannte. Max kannte ihn nicht. Er war nicht in der Lage, ihn zu beurteilen. In diesem Moment fragte unsere Lehrerin: „Justin? Kannst du mir die Antwort geben?“ „Ähm...Nein.“ sagte ich kopfschüttelnd, während meine Lehrerin mich fragend anblickte.

Nach der vierten Stunde verschwand ich. Ich sagte meinem Lehrer, mir ginge es nicht gut. Als ich auf mein Fahrrad sprang und mit aller Kraft in die Pedale trat. Ich ging in irgendeine Kneipe nicht weit von der Schule entfernt. Ich setzte mich an die Bar und bestellte ein Bier. Ich saß lange dort, ohne dass ich merkte, wie die Zeit verstrich. Um halb drei ging ich aus der Kneipe und schlich die Straßen entlang. Ohne dass ich es bemerkt hatte, stand ich bald vor der Disco. Sie wurde gerade geöffnet und ich trat ein. Ich kaufte mir noch ein Bier. Nach dem ersten Schluck wurde ich müde und schlief dann mit dem Kopf auf dem dunklen Holz der Theke ein. Ich träumte. Ich lief durch den Flur der Wohnung meiner Eltern. Er war länger als sonst. Endlos lang. Ich ging an Gesichtern vorbei. Da war mein Vater und meine Mutter. Ich ging immer weiter und rannte immer schneller. Ich ging an Torben, Nick und Frank vorbei. Dann war ich an der Wohnungstür angekommen und öffnete sie. Alles wurde bunt und schön. Ich hörte Menschen lachen und dann tauchte Max vor mir auf. Er lachte auch. Als er aufhörte zu lachen, sah er mich überglücklich an. Ich drehte mich um und ging zurück zu der Wohnungstür. Max rief meinen Namen, aber ich hörte nicht auf ihn. Plötzlich öffnete sich die Wohnungstür und meine Eltern traten heraus. Gerade machte mein Vater den Mund auf, um etwas zu sagen, da schüttelte mich jemand sanft an der Schulter.

Ich schreckte hoch. Ich lag immer noch auf dem dunklen Holz der Bar. Torben hatte mich geweckt. Jetzt saß er rechts von mir und Nick und Frank links. „Ist das hier jetzt dein Lieblingsplatz?“ fragte Torben lächelnd. „Ja. Ich denke schon.“ antwortete ich ein wenig benommen. Hatte dieser Traum eine Bedeutung? Sicher nicht! Schließlich war es nur ein Traum. Ich sah, wie Torben der Frau an der Bar ein kurzes Zeichen gab und sie ihm zunickte. Sie drehte sich kurz um und stellte dann ein paar Flaschen Alkohol vor uns auf den Tisch. Ich hatte nicht wirklich nachgedacht über das, was ich als nächstes tat. Vielleicht wollte ich es, vielleicht aber auch nicht. Es passierte automatisch, weil ich jetzt dazu gehörte. Ich gehörte zu einer Gruppe und in dieser Gruppe gab es Regeln. Es waren Regeln, die ich nicht gezwungen war, mitzuspielen, die ich aber mitspielen wollte, um dazu zu gehören. Also nahm ich eine Flasche Wodka. Sie stand mir am nächsten. „Du musst das nicht tun, wenn du es nicht willst! Torben hat uns erzählt das du vom letzten Mal nicht besonders begeistert warst.“ sagte Nick. Er lächelte. Ich schüttelte einfach nur den Kopf. Ich schraubte die Flasche auf und nahm 2 große Schlucke. Es war kein schöner Geschmack, aber das war nicht interessant für mich. Tatsache war einfach nur, dass ich trank. Ich ließ den Verschluss langsam um meine Fingerkuppe kreisen. Aus dem Augenwinkel glaubte ich, ein zögerliches Kopfnicken von Torben zu Nick zu vernehmen. Aber wahrscheinlich hatte ich mich doch getäuscht. Torben griff nach einer Flasche Rum und nahm einen Schluck. Dann hielt er sie mir hin. „Hier, bitte.“ sagte er. Ich legte den Verschluss der Wodkaflasche vorsichtig auf den Tisch und starrte auf die Flasche Rum.

Meine Gedanken schossen in meinem Kopf umher. Warum nicht? dachte ich mir. Was hast du denn noch? Warum solltest du diese Flasche jetzt nicht nehmen? Ich wusste nicht, weshalb ich so etwas dachte. Ich hatte keinen Grund dafür. Plötzlich war es, als hörte ich ein leises Flüstern in meinem Kopf. Was würde Max jetzt nur von dir denken? Er würde dir sicher raten, damit aufzuhören. Er ist dein Freund. Er würde nur das richtige für dich wollen. Er ist nicht mein Freund!’ dachte ich mit all meiner Wut. Dann nahm ich die Flasche von Torben und trank. Das Flüstern war verstummt. Bald störte der Geschmack mich nicht mehr. Torben, Nick und Frank meinten, dass ich den Alkohol für mein Alter gut vertragen würde. Torben erzählte mir, sie hätten schon länger einen vierten gesucht, der mit ihnen rumhängen wollte. Er meinte, vor mir wäre keiner dabei gewesen, der gut zu ihnen passen würde. Nach einer kurzen Pause sagte er: “Wir haben es auch bei Max versucht.“ Ich hob den Kopf. „Stimmt,“ sagte Nick mit einem breiten Grinsen. “Er hatte aber keine Lust, bei uns zu sein. Der hält, glaub ich, nicht so viel von uns oder?“ „Na ja...Nein er hält nicht so viel von euch, aber das ist mir egal! Max und ich sind jetzt keine Freunde mehr,“ sagte ich. „Oh, ich finde nicht, dass das schade ist oder so. Nein! Ich bin der Meinung, dass er kein guter Freund für dich war,“ sagte Torben. „Da hast du wohl recht,“ grinste ich ihn an. Ich hielt mich fest, weil ich fast vom Stuhl gerutscht wäre. „Aber wir sind doch deine Freunde oder?“ fragte Nick interessiert. „ Ja! Ihr seid meine Freunde. Ihr seid gute Freunde. Ihr habt mich aus einem echt tiefen Loch gerettet.“ „Hey! Bist du betrunken oder kommt der Streber durch?“ fragte Frank, der sich daraufhin einen Seitenhieb von Nick einfing. Torben sah Frank böse an und sagte dann zu mir: “Tschuldige. Manchmal kann sich Frank einfach nicht benehmen.“ Torben lächelte mich vorsichtig an. Wenn ich eben noch sauer gewesen war, merkte ich das jetzt nicht mehr. Torbens Lächeln hatte meine Wut schmelzen lassen. „Ach was, ist doch nicht so schlimm,“ sagte ich und lächelte auch.

Ich hatte mich damals so unerfahren angestellt. Ich war ohne mit der Wimper zu zucken auf den charmanten Torben hereingefallen. Heute denke ich, ich war einfach einfältig und dumm. Es gab so viele negative Andeutungen. Gemeine Sätze von Nick oder Frank. Ich kann mein damaliges Verhalten heute auch nicht mehr verstehen. Ich bereue es nämlich zutiefst. Ich hätte damit mein ganzes Leben zerstören können. Am Anfang war alles noch so harmlos gewesen und am liebsten würde ich jetzt wie bei einer Fernsehserie mit lebensgefährlichen Stunts einblenden lassen: „Nicht nachmachen!“ Aber ich kann es nicht. Man kann solche Ereignisse nicht steuern. Selbst, wenn man versucht, sich an seine eigenen Regeln zu halten bricht man sie doch irgendwann. Ja! Irgendwann ist immer das erste Mal.

Bald bekam ich Lust auf mehr. Whisky war nicht mein Geschmack. Das dachte ich auf jeden Fall zuerst. Whisky brannte im Hals. Aber ich merkte, dass der Geschmack vermischt mit Rum gar nicht mal mehr so schlecht war. Ich merkte nicht, wie die Zeit verging. Irgendwann verschwamm meine Sicht und ich schloss die Augen, damit ich nicht umfiel. Ich war wie benebelt. Die hellen Lichter nahm ich kaum noch wahr, doch die Musik war wie ein Presslufthammer in meinen Ohren. Ich trank weiter von dem Rum und vom Whisky. Immer abwechselnd. Die ganze Zeit über waren meine Körperteile wie gelähmt. Ich konnte meine eigenen Bewegungen nicht mehr kontrollieren und wollte am liebsten nur noch schlafen. Plötzlich fragte Frank: „Ok?“ „Ja, ist ok,“ sagte Torben. „Was isn los?“ nuschelte ich benommen. Meine Augen waren gerade dabei, zuzufallen und ich nahm noch einmal einen Schluck Rum. „Wir gehen jetzt. Komm!“ Nick und Frank griffen unter meine Arme und schleppten mich aus der Disko und weiter die Straße hinunter. Ich kicherte. „Sei vorsichtig,“ flüsterte es in meinem Kopf. Ich kicherte noch einmal und nahm das Flüstern nicht ernst. Hätte ich bloß! Die Straßenbeleuchtung wurde immer schwächer. Ich wusste nicht, wo sie mich hinbrachten. Torben ging vor. Ich hatte die Flasche Rum mitgenommen und nahm noch einen Schluck. Ich wusste genau, dass ich betrunken war aber ich war bei meinen Freunden. Mir konnte nichts passieren. Ich nahm wahr, dass wir in einen Wald gingen. Irgendwann konnte ich nichts mehr sehen und merkte nur noch wie ich von Nick und Frank weiter gezogen wurde. Plötzlich ließen sie mich einfach auf den Boden fallen. „Was isn?“ fragte ich und versuchte aufzustehen. „Es ist nichts!“ meinte Torben kalt. „Uns ist jetzt einfach nur n’ bisschen langweilig,“ fuhr er fort und dann trat mir plötzlich jemand mit voller Wucht in den Bauch. Ich erkannte entsetzt Torben, wie er neben mir stand und lachte. „Hey! Was soll n’ das?“ rief ich wütend und vor Schmerzen. „Was das soll? Das habe ich dir doch schon gesagt. Uns ist sehr, sehr langweilig.“ Torben sprach mit mir, als wäre ich ein Kleinkind. Aber ich war wehrlos. Alle drei schlugen und traten auf mich ein. Es tat so weh. Ich fing an zu weinen, doch sie lachten nur über mich. Die ganze Zeit fragte ich mich nur, weshalb die drei das mit mir machten. Was hatte ich ihnen getan. Nach gefühlten zwei Stunden ließen sie endlich von mir ab und schleppten mich weg. Irgendwo warfen sie mich dann auf den Boden. Ich schlug mit dem Kopf an etwas Hartes und verlor das Bewusstsein.

Als ich wieder wach wurde, war ich allein und die Sonne funkelte durch die Zweige und Blätter der Bäume. Ich erinnerte mich an den vergangenen Abend. Eigentlich hatte ich gehofft, wie schon einmal bei Torben aufzuwachen. Ich hatte gehofft, alles wäre nur ein Traum gewesen. Aber es war kein Traum. Und jetzt war ich allein. Als erstes rannte ich aus dem Wald. Ich wollte nicht zur Wohnung meiner Eltern und ich konnte nicht zu Max. Er hatte anscheinend Recht gehabt mit dem, was er über Torben und seine Freunde gesagt hatte, aber er würde mich wegen diesem einen Fehler nie in Ruhe lassen. Außerdem war ich immer noch sauer, weil er alle meine Geheimnisse kennen wollte. Also musste ich wohl oder übel allein bleiben, denn ich wollte und konnte nicht in mein altes Leben zurück.

Ich blieb nicht lange allein. Als ich ein paar Kilometer gelaufen war, traf ich auf Morten. Er lebte noch nicht lange auf der Straße und er war ein ziemlich ruhiger Kerl. In der Folgezeit gingen wir zusammen betteln und teilten uns unsere Beute. Unsere „Beute“ war meistens Alkohol. Wir zogen immer weiter. Unser Ziel war Berlin. Bald trafen wir Pete. Pete war ein echt cooler Typ. Er war schon 16 Jahre alt und lebte seit mehr als zwei Jahren auf der Straße. Eines Tages erzählte er mir, dass auch er ein Opfer von Torben und seinen Freunden geworden war. Das verband uns die ganze Zeit. Wir waren wie Brüder. Wir hielten immer zusammen, auch als nach einem Monat unser Freund Morten starb. Im Krankenhaus hieß die Diagnose Alkoholvergiftung. Es hätte uns eine Lehre sein können, aber wir konnten nicht aufhören zu trinken. Ich benutze das Wort „Sucht“ nicht so gerne, aber das war wohl der Grund, weshalb wir tranken. Jetzt waren wir nur noch zu zweit, aber das sollte sich schon bald ändern. In einem Zug auf dem langen Weg nach Berlin trafen wir Ben und Thomas. Die beiden kamen aus England und waren Zwillinge. Sie sagten uns, jeder Zugfahrer in Deutschland würde sie kennen. Das schien zu stimmen, denn wir kamen immer gut davon, wenn uns jemand ohne Ticket erwischte. Ben und Thomas sagten uns nie, wie alt sie waren, aber ich schätzte sie auf 20.

Kurz vor meinem 15. Geburtstag kamen wir in Berlin an. Ben und Thomas blieben bei uns, denn wir hatten uns mit den beiden angefreundet.

Unser Treffpunkt war der U-Bahnhof Alexanderplatz. Bald reichte das Betteln allein nicht mehr aus, um über die Runden zu kommen. Also mussten wir stehlen. Mir gefiel das überhaupt nicht. Wir machten aus, dass wir nur stehlen durften, wenn es unbedingt sein musste. Das war eine der zwei Regeln, die es bei uns gaben. Die zweite war: Keiner lügt! Und alle Regeln wurden befolgt. Wenn wir es einmal nicht mehr aushalten konnten in der Kälte zu schlafen, gingen wir zum Sleep-in oder wir zogen für ein paar Nächte in ein verlassenes, einsturzgefährdetes Haus. Wir betranken uns eigentlich jeden Abend. Wir taten das nicht, weil wir Spaß daran hatten und wir taten es auch nicht nur aus Zwang. Wir ertränkten damit für kurze Zeit den Schmerz, den wir alle einmal erfahren hatten. Ich führte dieses Leben drei Jahre. Es wahren drei Jahre, die ich schnell und heftig lebte. Als Anführer einer kleinen Gruppe.

Man könnte sich nun fragen, wie ich Ben, Thomas und Pete vertrauen konnte, wo ich doch schon einmal von Menschen, die sich als meine Freunde ausgegeben hatten, getäuscht worden war. Auf diese Frage habe ich eine Antwort. Damals bei der Sache mit Torben hatte ich immer wieder dieses eine Gefühl gehabt. Dieses Flüstern, welches mich unbedingt vor einem großen Fehler warnen wollte. Ich fand heraus, was dieses Flüstern, dieses Gefühl war. Es war Angst. Und dieses Flüstern hatte ich nie gespürt, als ich mit Ben, Thomas und Pete zusammen war.

Eines Abends, es war ungefähr 22:00 Uhr, waren wir in einer Disko und hatten uns ziemlich betrunken. Wir hörten gar nicht mehr auf. Bis dann Ben einfach umfiel und liegen blieb. Wir kamen an diesem Abend alle ins Krankenhaus. Ben starb. Pete, Thomas und ich schafften es aber. Wir wurden in ein Heim für gestrandete Jugendliche und junge Erwachsene gebracht. Wir wussten, das es das beste für uns war. Bei mir dauerte es kein Jahr, da hatte ich mir das Trinken abgewöhnt. Bei Thomas und Pete war es ähnlich. Im Heim bekamen wir auch Unterricht. Als Pete 22 war und Thomas 26 verließen sie das Heim mit einem Realschulabschluss. Wir hatten die ganze Zeit über Kontakt. Ich hatte mir ein Ziel gesetzt. Ich wollte mein Abitur schaffen, denn das brauchte ich, um das zu schaffen, was ich jetzt werden wollte. Ich lernte sehr viel. Und es hatte sich ausgezahlt, als ich mit 23 Jahren und mit Abitur das Heim verließ. Als nächstes ging ich auf die Uni und studierte fünf Jahre lang. Ich hatte in der ganzen Zeit nur ein Mal mit meinen Eltern gesprochen. Ein Mal und dann nie wieder. Aber ich denke, das war auch gut so. Ja, es ist gut, wie sich nun alles entwickelt hat, denn wenn ich an Ben und Morten dachte, wusste ich, dass alles auch viel schlimmer hätte kommen können!

Heute bin ich 30 Jahre alt. Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Mein Sohn ist drei Jahre alt. Er heißt Max. Meine Tochter Melanie ist gerade mal drei Wochen alt. Ich denke, ich bin ein guter Vater, so wie ich es mir auch von meinem Vater immer gewünscht hatte. Aber heute weiß ich, dass nicht jeder Wunsch in Erfüllung geht. Ich bin kein Schauspieler geworden. Ich bin Schulpsychologe und sehr zufrieden mit meinem Job. Zu Thomas und Pete habe ich noch Kontakt. Wir telefonieren ab und zu und an Weihnachten kommen sie immer zu uns. Thomas ist Tischler geworden und Pete schreibt Bücher.

Wie gesagt... eigentlich ist alles so wie es sein soll. Aber mein größter Wunsch ist es, Max noch einmal zu sehen. Und wenn es nur für ein paar Sekunden wäre. Ich möchte mich doch noch bei ihm entschuldigen. Für den größten Fehler meines Lebens.


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Tag der Veröffentlichung: 04.12.2011

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