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I.Kap.



Wie all die anderen Tage verbrachte sie mit ihren Büchern an der Gartenmauer vor den Waisenheim. Sie las alle Bücher die sie kriegen konnte aber am meisten bereiteten ihr Liebesromane vergnügen, die meistens von armen Mädchen handelten, die auf ihren Prinzen warten, der sie eines Tages aus ihrem ungerechten Leben befreite und wenn sie nicht gestorben sind dann leben sie noch heute. Es gab eine Zeit, da war sie davon überzeugt gewesen, dass es ihr eines Tages genauso wie den Mädchen in den Büchern ergehen würde. Sie glaubte fest daran ein anderes Leben zusammen mit ihren eigenen Traumprinzen in einem Schloss, weit weg von all dem hier, verbringen zu können. Je älter sie wurde, desto seltener dachte sie daran. Jetzt fand sie es belustigend, ja geradezu lächerlich, dass die Geschichten, die mit so viel Schmerz und Ungerechtigkeit begannen am Ende doch noch für die handelnden Personen glücklich endeten, denn sie selbst war das lebende Beispiel dafür, dass das Leben keine Geschichte ist, in der sich alles zum Guten wendet.
Ein barscher Ruf störte sie auf. „Liliana!“
Sie wandte sich schnell vom Buch und ihr Blick schweifte über den ganzen Garten. Mit einem Seufzen wandte sich das Mädchen halb ab von der Frau, die mit grimmigem Blick am Gartentor stand.
„Aha, da steckt also unser Fräulein ich-kann-mir-alles-erlauben!“, schimpfte sie.
„Sitz nur hier rum mit deinen Büchern und du kannst auch gleich die ganze Nacht hier draußen verbringen! Warum kannst du nicht einmal genauso vernünftig wie die anderen Kinder sein?“
„Ich war in Gedanken Iwanka. Ich habe völlig die Zeitvergessen.“
Maulte Liliana und warf der Frau einen vernichtenden Blick zu.
„Wie oft habe ich mir das von dir anhören müssen“, entgegnete die Frau. “Aber bei dir ist Reden sinnlos. Anstatt immer zu maulen solltest du dich glücklich schätzten. Es gibt Gott weiß wie viele Kinder dort draußen die gerne mit dir tauschen würden, denn ein Waisenheim ist allemal besser als mit knurrendem Magen auf der Straße zu leben. Du hast Glück, dass du hier genug zu essen und ein warmes Bett hast. Steh auf, los!“ brummte sie und ging zurück Richtung Waisenheim zurück, als das Mädchen aufstand und ihr mit festen Schritten hinterherlief. Kochend vor Wut lief Liliana über den Weg mit den roten Kieseln.
Besser gar kein Leben, als so ein Leben!
Seit sie sich erinnern kann war sie in diesen Waisenheim gewesen. Sie war schon als kleines Kind abgegeben worden. Von den Betreuerinnen hatte sie mit der Zeit erfahren, dass ihre Eltern, als sie noch ein Säugling war, spurlos verschwunden sind und sich keine Verwandten gefunden haben, um sich für sie zu kümmern. Seitdem verbrachte sie seit achtzehn Jahren, Tag für Tag ihr Leben mit anderen Kindern, die das gleiche Schicksal wie sie teilen mussten. Mittlerweile war sie zu einem reifen und wunderschönen Mädchen geworden. Sie war aber die Art von Mädchen, die sich selbst nicht gut schätzen können. Sie machte sich nichts aus ihrem Äußeren, auch wenn ihr langes Kastanienbraunes Harr, ihre großen, hellen Augen und ihre Schneeweiße Haut jede Blicke, die manchmal auch mit Neid erfüllt waren, auf sich zog.
In so einem Ort nützt Schönheit wenig.
Früher hegte sie noch die Hoffnung eines Tages von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert zu werden und für immer in einer liebevollen Familie zu Leben. Doch wenn sie keiner als Kind haben wollte dann bestimmt auch nicht jetzt, wo sie doch mit achtzehn Jahren als Erwachsene durchgehen könnte. Nachdenklich biss sie sich auf der Unterlippe und klammerte mit ihren dünnen, langen Armen das Buch. Sie warf einen letzten Blick in den schwarzen Himmel, atmete die kühle Luft ein und ging hinter Iwanka in das Weisenheim hinein. Beim Hereintreten spürte sie sofort die Wärme des Waisenhauses auf ihrer Haut und ein Schauer überkam sie. Sie wusste genau was jetzt auf sie zukommen würde. Schon oft hatte sie miterlebt wie die anderen Kinder, wenn sie Unsinn gemacht hatten zum obersten Zimmer gezerrt wurden. >Besinnungszimmer< nannte es Iwanka und das andere Personal immer. Liliana dagegen fand >Schreckenszimmer




II.Kap
Als Liliana am nächsten Morgen aufwachte, taten ihr die Oberschenkel, die mit blutigen Streifen überzogen waren, so weh, dass sie kaum gehen konnte. Die Sonne stand am Himmel und ließ die Welt aus ihrem tiefen Schlaf erwachen. Die Nacht war vorüber. Sie erinnerte sich, wie sie nachts aufgestanden war, weil ihr ganzer Körper schmerzte und sie nicht einschlafen konnte; Sie erinnerte sich, dass sie bei Mondschein ins angrenzende Badezimmer gegangen war und dort wie in Trance aus dem Fenster geblickt hatte, als das Zwielicht sich zur Nacht verdichtete. Tief am Firmament stand die Mondsichel gleißend und ihre silbernen Strahlen küssten den Tau, der die den Wald in hellem Weiß umhüllte. Als sie über die Bergen blickte und nichts außer Dunkel und Tannen zu sehen waren, die wie spitze Zähne in den Himmel ragten überkam sie ein Gefühl von Unbehagen und Faszination zugleich.
> Die Welt hat Zähne und sie beißt. <
Aber jetzt, wo es Tag war, wollte sie so wenig wie möglich an Gestern zurückblicken, wie sie dann, nach einer halben Ewigkeit, jedenfalls kam es ihr so vor, mit ihren kalten, nackten Füßen wieder Richtung Bett eilte und ihre Lieder irgendwann zu schwer wurden und sie einschlief. Nun schienen die hellen Strahlen der Sonne in das Zimmer von Liliana, welches sie sich mit weiteren Mädchen teilen musste. Ruhig lag sie da und sah aus dem Fenster zu ihrer Rechten in den Himmel, wie eine Wolken vom Wind dahin schweifte und ihre Form sich nach kurzer Zeit völlig verformte. Leicht strich sie über den weichen Stoff ihres Kissens. Ein wohliger Seufzer entwich ihr. Sie hörte die Mädchen, die ebenfalls nicht mehr schliefen, leise stöhnen und beobachtete wie sie sich aus ihren Betten quälten. Die Harre der Mädchen waren von der langen Nacht zerzaust und dunkle Augenringe hatten sich unter den noch verträumten und glasigen Augen gebildet. Als wären sie von ihrem Handel nicht ganz im Klaren zogen sie ihre langen Nachthemden aus um die Arbeitkleidung anzuziehen, und ihre dünnen Beine und Arme kamen zum Vorschein. Liliana beobachtete wie einige der Mädchen ins Bad verschwanden. Sie selbst verkroch sich noch tiefer in ihre Decke, wie ein kleines Kind, das nicht aus dem Bett will, wenn es zur Schule muss. Sie wollte noch ein kleines bisschen den Augenblick genießen bevor sie sich wieder auf die Arbeit stürzen würde. Und irgendwie stand ihr ein bisschen Erholung auch in gewisser Weise zu, davon war sie überzeugt. Immerhin musste sie die letzte Nacht solche Schmerzen aushalten und ein bisschen länger im Bett liegen wäre wohl das Mindeste. Gestern war sie gerade noch so davongelaufen aber sie wusste, dass das nicht wieder passieren durfte. Es wäre auch nicht passiert, wenn sich diese Iwanka nicht immer einmischen würde. Sie schloss die Augen und ihre Lippen bildeten ein leichtes Lächeln.
>Was wohl Iwanka sagen würde wenn sie mich noch im Bett sieht? Das ist nicht wichtig. Ihr kann man es nie recht machen und außerdem, ist sie nicht hier.<
Ein lautes Klopfen riss sie aus ihrem schönen Tagtraum. Widerwillig machte sie die Augen auf, drehte sich auf den Rücken und richtete sich dann langsam auf. Mit einem Male wurde die Tür mit einer solchen Wucht aufgerissen, dass sie gegen die Wand knallte und dann zum Stillstand kam. Wie erwartet stand eine der Schwestern vor der Tür und obwohl es noch früh am Morgen war, machte sie einen Ausdruck als hätte der Tag schon vor Stunden begonnen. Kurz ließ die Schwester einen Blick über die Mädchen - die einen verschlafen und die anderen vom lauten Knall der Tür wie verstarrt - schweifen.
„Der Herr hat den Morgen über das land gebracht. Also steht auf ihr Nichtsnutze, wir wollen gemeinsam essen und beten! Wer zu spät kommt muss wohl mit leerem Magen arbeiten!“ Ein grelles Lachen entfuhr ihr und so plötzlich wie sie gekommen war, so plötzlich verschwand sie wieder und ging zu den Zimmern neben an. Ihre grelle Stimme war noch bis zum Ende des Flurs zu hören.
„Halt die Klappe.“ zischte Liliana leise, so das es außer ihr niemand hören konnte. Jetzt stand auch sie auf und streckt ihren Körper genüsslich in die Höhe, bevor sie gähnend ins Bad trottete. Das, was die Mädchen und die Schwestern als Bad bezeichneten entsprach nicht mal annährend der Vorstellung und der Bedingungen wie ein Bad nun mal auszusehen hat. Der Boden verlief leicht zu einem Abfluss in der Mitte des Raumes hin ab und an den Wänden hingen vier kleine Spiegel, deren Ecken mit der Zeit zersplittert sind und so was wie Dreck, was man aber nicht genau sagen konnte, sich auf der glatten Fläche gelegt hatte. Liliana schritt zu einem der Spiegel und als ihr Gesicht auf der dreckigen Platte erschien, betrachtete sich ausgiebig. Dünne rote Adern hatten sich auf ihren Augen gebildet und ihre Haut sah so blas wie noch nie aus. Sie seufzte leise, bevor sie sich auf die Knie nieder ließ und tauchte ihre beiden Händen in das eiskalte Wasser der Behälter aus Ton, die am Boden des Badezimmers standen. >Wenn ich schon wie eine Wasserleiche aussehe, dann möchte ich wenigstens wie eine saubere Wasserleiche aussehen. < Das Wasser war wohltuend kühl, und ihre Müdigkeit verschwand fast augenblicklich. Gänsehaut bildete sich auf ihrer zarten Haut. Danach wischte sie sich beide Hände und ihr Gesicht mit dem Ende ihres Kleides vorsichtig ab.
„Ich habe dich mir schlimmer vorgestellt.“ Ertönte plötzliche eine Stimmer hinter ihr.
„Man erzählt sich, dass Schwester Petricia dich blutig geschlagen hat.“ Liliana fuhr erschrocken und überrascht zurück. Es war eine Stimme die sie auf Anhieb wiedererkannte. Ein Mädchen, kaum älter als sie selbst, stand an der Tür des Badezimmers und schaute Lilian nachdenklich an. Ihre Kastanienbraunen Augen waren auf Liliana fixiert während sie sich lässig an der Tür lehnte.
„Mittlerweile müsstest du doch wissen, wie schnell Gerüchte sich verbreiten. Immerhin bist du doch genau so lange hier in diesem Haus wie ich Anja.“
Für einige Sekunden herrschte Stille, bis ein lächeln von Anja, die jetzt zum Fenster hinaussah, ertönte.
„Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Jetzt war ihr Blick ganz auf Liliana gerichtet und ein Ausdruck, den Liliana überhaupt nicht deuten konnte, legte sich auf ihr Gesicht. Das tat sie immer, wenn sie sich Sorgen machte. Sie kniff immer leicht die Augen zusammen und auf ihrer Stirn bildeten sich Falten, die sie nachdenklich wirken ließen. Liliana kannte Anja seit sie sich erinnern konnte. Als sie beide noch Kinder waren und sich keine Gedanken um die Zukunft machten, lachten und spielten sie den ganzen Tag, als würde es kein Morgen mehr geben. Früher kam ihnen auch das ganze Waisenhaus und der Garten so groß vor, dass sie sich immer vorstellten sie sein Prinzessinnen und würden in einem Schloss zu leben. Liliana erinnerte sich, wie sie sich zusammen mit Anja immer auf der Wiese legte und fasziniert die Wolken am Himmel betrachtete, die vom Wind davon geweht wurden und manchmal Tiergestallten annahmen.
„Schau Liliana! Siehst du die Wolke da? Sie sieht wie ein Kaninchen aus. Kannst du sie sehen?“
Merkwürdiger weise, sah Anja immer Kaninchen, jedenfalls kam es Liliana immer so vor. Sie selbst konnte nie eine Wolke mit zwei langen Ohren, welche auch nur annähernd einem Kaninchen ähnelte, erkennen, auch wenn sie es versuchte. Sie lagen da wie kleine Puppen, die man im Park vergessen hatte, und schauten den Himmel an. Ein Mal hatte sie Anja gefragt:
„Glaubst du an Schicksal?“ sie sprach die Worte aus ohne Liliana anzusehen und fügte dann hinzu:
„Ich meine, glaubst du, dass das alles für uns vorgesehen wurde? Glaubst du Gott hat das so entschieden und wir müssen nach seinem Willen leben?“
Ein leichter Windstoß bewegte das Gras der Wiese und das Rauschen der Blätter, die im Wind tanzten, war zu hören. Eine kleine Haarsträhne schwebte für kurze Zeit vor Lilianas Gesicht, bis sie sich dann langsam auf ihrer Wange fallen ließ. Jetzt stand sie auf, entfernte das etwas Gras auf ihrem Kleid mit einpaar kurzen Schlägen und blickte dann über den Garten. Einen Moment lang sah sie aus, wie ein Heeresführer, der nachdenklich über das Schlachtfeld blicke um sich eine genauere Vorstellung von der bevorstehenden Schlacht zu machen. Doch wenn man genauer hinsah, dann sah man nur ein kleines, wunderschönes Mädchen, deren Blick sich jetzt auf die Freundin, die neben ihr saß, richtete und sagte:
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht warum ausgerechnet wir hier sind, oder warum wir es verdient haben keine Eltern zu haben. Ich weiß nur, dass ich nicht mein ganzes Leben lang hier bleiben werde. Du wirst sehen Anja, wenn ich groß genug bin, werde ich von hier verschwinden. Meinetwegen auch ganz alleine. Wenn das Glück nicht zu mir kommen will, dann geh ich es eben suchen.“
Ein leichtes Lächeln bildete sich auf ihren Mund und ihre Zähne strahlten hervor, während der Wind ihr Haar tanzen ließ und Kleid wie ein Schleier schwebte.
Das dumpfe Knurren ihres Magens brachte sie wieder zurück in die Gegenwart. Gegenseitig sahen sich nun die beiden Mädchen, die um einige Jahre älter geworden waren, an und ein Lachen brach fast gleichzeitig los.
„Typisch Liliana!“ schoss es aus Anja, die sich mittlerweile vor Lachen noch mehr an der Tür lehnte und Tränen auf ihren Wangen kullerten.
„Ich habe gestern fast nichts gegessen, du blöde Kuh!“ Kicherte Liliana und rannte auf Anja zu. Wie ein Raubtier warf sich Liliana auf ihre Freundin und nahm sie im Arm als hätte sie sie seit Jahren nicht gesehen.
„Beruhig dich Liliana! Also echt! Egal wie alt du wirst, du benimmst dich wie ein Kind!“
Jetzt ließ Liliana ihre Freundin los und schritt neben ihr aus dem Badezimmer.
„Du musst mich mal als alte Frau erleben, wie glaubst du geh ich dann wohl ab!“ Ein lautes Lachen ertönte bis sie sie dann sagte:
„Und jetzt komm endlich Anja! Es gibt heute Frühstück und wie du hören kannst, hab ich Hunger!“
Still und ohne eine Bemerkung folgte Anja ihr und die beiden gingen wie sonst jeden Tag Richtung Esssaal, wo die anderen Kinder bereits saßen und ungeduldig auf das Essen warteten.
Liliana, die jetzt kaum noch warten konnte endlich essen zu können, setzte sich als erste an einen der riesigen Tische. Ohne langes Überlegen tat es ihr Anja nach. Wieder meldete sich Lilianas Magen, doch sie konnte nichts dagegen tun und sah sich gezwungen zu warten. Sie spürte die Blicke der anderen Kinder auf ihr und das Tuscheln kam ihr lauter wie noch nie vor. >Man sagt sich Petricia hat dich blutig geschlagen.< hatte Anja gesagt und wie es aussieht, glaubten das die anderen im Waisenhaus auch. Sie mochte es nicht wenn andere über sie redeten. Das kränkte sie immer. Was sie aber am meisten kränkte war es, dass sie gar nicht versuchten hinter ihrem Rücken reden. Stattdessen hielten sie die Hand vor dem Mund und zeigten manchmal mit dem Finger auf ihr, so, dass Liliana es gar nicht übersehen konnte. Sie konnte nicht verstehen warum sie sie mit solchen Gästen verletzten. Wie konnten sie es Wagen über sie zu reden obwohl Schwester Patrecia diejenige ist, die Lästern verdient. >Lasst dir nichts anmerken. Die sind ja nicht mal halb so alt wie du. Das sind Kinder, sie können nichts dafür, dass sie so sind. < Da hatte sie nicht viel Unrecht, doch trotzdem konnte sie es nicht über sichergehen lassen. Äußerlich konnte man ihr nichts ansehen aber innerlich sah es ganz anders aus. Schon immer versteckte Liliana ihre wahren Gefühle. Keiner ahnte auch nur wie es wirklich in ihrem Herzen aussieht und das sollte auch so bleiben, denn wenn niemand weiß wie sie denkt und fühlt, so kann auch niemand sie verletzten. Sie hatte gelernt über ihre Gefühle zu schweigen und sie niemandem zu vertrauen. Plötzlich hörte das Kichern und Tuscheln wie einen Schlag auf, als die Haupttür des Saals aufging und Schwester Petricia und zwei der anderen Schwestern neben ihr den Saal betraten. Wie Liliana unverwechselbar erkannte, sah Schwester Petricia wie am Abend zuvor kaltherzig und in ihrer Art unantastbar vor. Wie ein Gespenst in Nonnenkleidern schritt sie zu ihren Tisch, der am Ende des Saals stand und nahm neben den anderen Schwestern platz. Erhobenen Hauptes saß sie da inmitten der anderen Schwestern, wie ein Richter vor der Urteilsverkündung, und wartete auf den Richtigen Moment.
„Wie jeden Tag wollen wir zuallererst beten.“
Das war das gewisse Zeichen für Liliana und den anderen jetzt aufzustehen und die Hände auf beiden Seiten auszustrecken. Anja, die neben ihr saß, nahm eine Hand und ein anderes Mädchen, deren Name Liliana nicht wusste die sich aber ebenfalls neben ihr gesetzt hatte, nahm die andere. Das taten auch die anderen Kinder, bis der Kreis geschlossen war. Sie standen im Esssaal, rochen den Duft des Mahls, das bevorstand, lauschten dem leisen und sahen Schwester Petricia an, die jetzt auch aufgestanden war.
„Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name-„Die anderen stimmten ein, Anja als erste und Liliana als letzte. Die Wände erschallten in der Menge der betenden Kindern und Schwestern.
„-Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Amen.“
Die letzten Wörter klangen eher wie ein Todesgebet als ein Morgengebet.
„Ihr dürft jetzt essen Kinder.“
Lilian sah mit funkelnden Augen auf, ließ die Hände los, die die ihre hielten und setzte sich wie der Rest wieder hin. Zwei Schwestern kamen durch den langen, schmalen Korridor und verteilten die Teller, die mager mit Essen gefüllt waren, der Reihe nach auf den Tischen. Das Essen war nicht gerade ansehnlich, doch was konnte man auch von einem Waisenhaus erwarten. Liliana, die die ganze Zeit gewartet hatte konnte es kaum noch erwarten, als auch sie ihr Teller bekam, zu essen. Das Frühstück bestand aus einem Stück trockenem Brot, etwas Butter und zum Trinken ein Glas Wasser. Doch wenn man Hunger hat, isst man alles. Jetzt ertönten wieder Stimmen und Liliana konnte nur Wortfetzen verstehen. Sie war jetzt ganz dem essen gerichtet und die Blicke und das Tuscheln der anderen vergaß sie völlig.
Jetzt sah Anja Liliana an.
„Liliana, ich bin seit Jahren deine Freundin und du weißt, dass du mir alles sagen kannst-“ sie machte eine kurze Pause bis sie tief Luft nahm und hinzufügte:
„- und außerdem kenne ich dich gut genug um zu wissen, dass du nicht ohne Grunde gestern Abend im Garten gestanden bist. Die anderen können meinetwegen lachen und glauben, dass du völlig die Zeit vergessen hast, aber mich täuschst du damit nicht. Und jetzt sag mir, hast du die Zeit vergessen, Liliana?“
Liliana sah sie unsicher an und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Si wandte sich jetzt von ihrem Essen, legte ihr eines Ellenbogen auf den Tisch und war jetzt völlig auf Anja, deren Geicht wieder einen Ausdruck, den man nicht deuten konnte, angenommen hatte. Anja fiel plötzlich das funkelte Grün von Lilianas Augen auf, die im Moment irgendetwas ausstrahlten, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Liliana zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.
„Was meinst du damit?“ fragte Anja, die jetzt überhaupt nichts verstand.
Ein leichtes Augenrollen war von Lilianas Seite zu sehen.
„Damit meine ich, dass ich die Zeit nicht vergessen habe, sondern Absichtlich nachts dort stand.“
Jetzt drehte sich Liliana wieder gerade und nahm ein Schluck Wasser.
„Ich versteh dich nicht. Warum hast du das getan?“ fragte Anja und nun war sie diejenige, die sich wie ein Kind benahm. Nämlich wie ein etwas zu hysterisches und neugieriges Kind.
„Soll das ein Witz sein? Das sag ich dir doch nicht!“ Sie sah Anja an und grinste. Der Ausdruck fühlte sich abscheulich in ihrem Gesicht an. Und wundervoll zugleich.
„Seit wann verheimlichst du Dinge vor mir. Ich dachte wir sind Freundinnen.“ Anja sah sie nachdenklich an bis Liliana verhalten lächelte.
„Ich-„ stoppte Liliana zugleich und sah sich hastisch um. Als sie überzeugt war, dass ihr niemand außer Anja zuhörte beugte sie sich so unauffällig wie Möglich zu Anja und flüsterte:
„Kannst du dich noch erinnern was ich dir vor Jahren erzählt habe? Nun ja, dass ich irgendwann von hier verschwinde. Gestern hab ich mir einen Plan ausgedacht wie ich das schaffen könnte.“
„Das ist nicht dein Ernst.“ Sagte Anja mit leiser, zitternder Stimme. Sie sah Anja mit hoffnungslosen, flehenden Augen an. Den Augen von jemandem, der nicht glauben konnte, was er da gehört hat.
Lilian wandte den Blick ab; Sie starrte auf ihren fast leeren Teller und spürte, dass ihr der Appetit vergangen war.
„Und du wirst mir dabei helfen Anja.“
„Was?“ fragte sie und begriff ehrlich nicht, was sie ihr gerade gesagt hatte. Lilian nahm erschrocken zu Kenntnis, wie weiß ihr Gesicht war. >So weiß wie sie im Gesicht ist, müsste sie eigentlich bewusstlos auf dem Boden liegen< dachte sie. Statt ohnmächtig zu werden, sah sie Liliana verblüfft und entsetzt zugleich an.
„Das kannst du doch nicht tun! Ich meine, was-„
„Schweigt! Ich hoffe für euch, dass ihr Satt seid.“ Es war mal wieder Schwester Petricias metallische Stimme, die die Mädchen aufschreckte und sie ihr Gespräch beenden mussten.
„Das Frühstück ist für heute beendet. Nachdem wir gebetet und gegessen haben, werden wir uns jetzt ganz der Arbeit widmen. Teilt euch wie immer in eure Gruppen auf fangt an zu Arbeiten.“
Die Stühle wurden zu Seite geschoben und alle standen auf um zu arbeiten und hofften, dass es heute weniger anstrengend wird als die vorigen Tage. Ach Liliana und Anja standen jetzt und schauten sich ernst an.
„Ich muss heute in der Wäsche machen. Wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, dann komm in der Wäscherei und wir reden weiter, hast du gehört?“
Noch bevor Anja antworten konnte machte sich Liliana auf den Weg. Sie warf einen letzten Blick zu ihrer Freundin und verschwand mit der Menge der anderen Kinder Richtung Korridor. Fassungslos sah Anja ihr hinterher, bis auch sie sich in Bewegung setzte.

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Tag der Veröffentlichung: 06.03.2009

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