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Der Kussstand

„Nein Mama! Vergiss es. Ich werde das nicht machen, das ist doch krank!“

Wütend gestikulierte ich, aber meine Mutter blieb stur. „Dann kannst du dir den Urlaub mit deinen Freunden abschminken! Ich weiß, dass ich dafür unterschreiben muss, du bist noch nicht achtzehn.“

 

Das saß. Das war das Todesargument. Meine Mutter wusste genau, dass ich mich seit Monaten auf diesen Urlaub freute, wir hatten alles geplant und ich hatte das nötige Geld zusammen. Nur brauchte ich für die endgültige Buchung die Unterschrift meiner Mutter.

 

„Also gut. Was genau soll ich also machen?“

Sie erklärte es mir. Ich sollte bei ihrem nächsten Firmenfest an einem Kussstand arbeiten. Einem Kussstand. Das hieß im Klartext ich sollte mir von diversen, völlig fremden Menschen die Zunge in den Hals schieben lassen.

 

Dazu muss ich sagen: Meine Mutter ist selbstständig und gerade zu versessen darauf, bei solchen Gelegenheiten Gage für Profis zu sparen. Ich musste auch schon Kinderschminken, Kuchen verkaufen und Schnaps ausschenken, aber das jetzt?!

Das war eigentlich zu viel ... wäre da nicht dieser Urlaub. Vermutlich war es nicht einmal legal, unter achtzehn so einen Job zu machen, aber das störte meine Mutter natürlich nicht.

 

 Sie war nicht gerade die Fürsorge in Person und seit der Scheidung von meinem Dad war sie nur noch an ihrer Firma interessiert. Also musste ich da durch. Eine ganze Schicht am Kussstand, das bedeutete: Drei volle Stunden. Hoffentlich fing ich mir keinen Herpes ein.

 

Als der Tag des Grauens kam, hatte ich noch weniger Lust auf diesen Müll, als schon die ganzen anderen Tage davor.

Ich wollte keine wildfremden Menschen küssen. Dafür hatte ich mir alle Mühe gegeben, mich möglichst unansehnlich herzurichten. Hatte mir keine Mühe mit meiner Frisur gegeben, mich schmuddelig angezogen.

Vielleicht wollte mich ja so keiner küssen? Aber meine Mutter hatte Einspruch eingelegt, mir andere Kleidung ausgesucht - ich war siebzehn verdammt, nicht fünf! - und meine Haare frisiert. Sie hatte mir sogar Mundspray in die Tasche gesteckt. Wohl für mich. Dabei hätten das meine „Kunden“ wahrscheinlich eher nötig.

 

Die Leute aus der vorherigen Schicht - Männlein und Weiblein- schienen recht erleichtert zu sein, dass ich sie ablöste. Mit mir zusammen waren noch eine pummelige Blonde und ein Strebertyp in der Schicht. Na, toll. Wer würde also das Hauptziel sein?

 

Es war eine Tortur. Dutzende von Leuten kamen, begafften uns und bezahlten dann ganze vier Euro für einen Kuss mit mir.

Ich küsste ältere, jüngere und zu meinem Entsetzen Männer und Frauen.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich absolut kein Interesse an Frauen habe? Zum Glück waren diese so genannten „Küsse“ nur ein Aufeinanderpressen der Lippen.

 

Und dann kam schließlich er.

 

Er war jung - vielleicht zwanzig Jahre alt - und eindeutig der attraktivste Mann auf dem ganzen Fest. Er hatte kurze, braune Haare und trug ein enges weißes Hemd, das an den richtigen Stellen beinahe leicht spannte.

 Und das Beste: Er kaufte eine Karte für mich. Mein Bauch begann zu kribbeln, als er langsam die Stufen zu meinem kleinen Podest hochkam und mich verlegen anlächelte.

Ich lächelte zurück, konnte mein Glück kaum fassen.

 

„Hey“, begrüßte er mich, offenbar ein wenig schüchtern und ich grinste ihn mutig an. „Hallo, du willst mich also küssen?“ Er schmunzelte. „Ja schon, ähm, ich setze mich jetzt wohl mal hier zu dir hin, oder?“ Fahrig nahm er auf dem Hocker vor mir Platz.

Er räusperte sich. „Ich bin Jonas“ stellte er sich überflüssigerweise vor, aber ich war nur froh erstens: Meine drei Stunden angenehm zu verkürzen und zweitens: Mehr über ihn zu erfahren. „Ich bin René“ gab ich zurück.

 

„Schön dich kennen zu lernen“ machte er weiter Smalltalk mit mir. Er war eindeutig sehr nervös. „Weißt du ich hab 'ne Wette verloren, deswegen muss ich dich jetzt küssen“ stammelte er und meine Hochstimmung verflog fast sofort. „Ach so“, sagte ich leicht schroff und er hob sofort abwehrend die Hände. „Aber ich habe sie mit Absicht verloren, ich meine, ich habe absichtlich … also, ich wollte einen Grund haben dich zu küssen“, hängte er an und plötzlich wurde mir wieder warm und ich strahlte innerlich. Äußerlich erlaubte ich mir lediglich ein Schmunzeln.

„Na dann küss mich doch einfach“ unterbrach ich ihn sanft und legte eine Hand an seine Wange. Gut, das gehörte eigentlich nicht zum Service, aber für ihn machte ich eine Ausnahme.

Jonas kam mit seinem Gesicht nahe an meines, sah mir aber noch kurz in die Augen. Er hatte sehr schöne, grüne Augen mit langen Wimpern. Dann schloss er seine Lider und küsste mich. Er schmeckte verdammt gut. So gut, dass ich meinen Mund leicht öffnete und seiner Zunge Einlass gewährte. Ich saugte leicht an seiner Unterlippe und er legte seine Hände an meine Wangen. Ich vergaß völlig wo ich war, mir wurde heiß und kalt auf einmal und ich wollte nur noch mit diesem Mann alleine sein.

Nackt, versteht sich.

Dann war es auf einmal vorbei, wir lösten uns voneinander und er stand auf. „Danke, ich meine … der Kuss war sehr schön.“ Ich sagte nichts mehr, lächelte nur und schon war er weg.

Mist. Ich hätte ihn nach seiner Nummer fragen sollen, ein Date ausmachen oder zumindest nach seinem Nachnamen fragen! Ich war so blöd. Und schon stand mein nächster Kunde auf der Matte.

 

Schließlich hatte ich es fastgeschafft, nur noch zehn Minuten, dann hieß es „Tschüss Kussstand“ und „Hallo Urlaub“.  Ein junges Mädel kam gerade die Stufen hoch, höchstens so alt wie ich und breit grinsend. Na toll, wieder eine Frau.

Sie setzte sich vor mich und schaute mich aufmerksam an. Ihr Mund näherte sich meinem. „Das ist für dich“ flüsterte sie und ehe ich mich's versah hatte sie mir einen Zettel in die Hand und einen Kuss auf den Mund gedrückt. Schon hüpfte sie die Stufen wieder hinunter. Ich starrte ihr nach, den Zettel in der Hand. Es war ein gefaltetes Stück Papier und ehe ich drauf schauen konnte, kam schon wieder der nächste Kusspartner.

 

Endlich war es vorbei. Ich räumte so schnell ich konnte meinen Platz, um mir etwas Deftiges zu Essen zu holen. Ich hatte Hunger. Beim Laufen fiel mir der Zettel auf, den ich in meine Hosentasche gesteckt hatte. Ich zog ihn hervor und las:

 „Hey du, ich hoffe ich habe das vorhin richtig gedeutet, dass dir der Kuss auch gefallen hat? Ich würde dich gern wieder sehen! Jonas“

 Hinter dem Namen stand eine Handynummer. Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Oh mein Gott, er musste dieses Mädchen geschickt haben, um mir diesen Zettel zu bringen! Er wollte mich wieder sehen! Muss ich erwähnen, dass ich ihm sofort schrieb?

 

„Hallo Jonas, hier ist René, du hast dich nicht geirrt, schön von dir zu hören!“

Keine Minute später kam schon eine Antwort. „Ich bin noch auf dem Fest, du auch?“

Ich bejahte. „Treffen wir uns am Ausgang?“ Ein Lächeln huschte auf mein Gesicht, dann schrieb ich "Okay".

 

Fünf Minuten später sah ich ihn, er trat am Ausgangstor von einem Fuß auf den anderen und sah sich nervös um. Ich biss noch einmal genüsslich von meinem Steakbrötchen ab, kaute, schluckte und trat zu ihm. „Hallo Jonas.“ Er fuhr herum und seine Hand schnellte zu seinen Haaren. “Hey, wow, du ähm, bist gekommen.” Jetzt lachte ich. “Ja, hab ich doch gesagt. Willst du auch noch was zu essen?“ „Oh, nein, danke, ich hatte schon was.“ Ich zuckte mit den Schultern und aß weiter. „Sorry, ich hatte bis eben Schicht und total Hunger“ entschuldigte ich mich, aber es schien ihm sowieso nichts auszumachen.

 

„Was willst du machen, noch hier bleiben?“ fragte er verlegen, ich lehnte sofort ab. „Bitte nicht, das ist das Fest von meiner Mutter, lass uns abhauen von hier“ bat ich ihn und er grinste. „Okay, gern.“

„Bist du mit dem Auto da?“ fragte ich ihn und fügte hinzu: „Ich bin noch nicht achtzehn, also noch auf den Bus angewiesen.“ Er zog einen Autoschlüssel aus der Tasche. „Wohin willst du, du schönes Wesen?“ Lachend machte ich eine Geste, die soviel hieß wie: Dein „schönes Wesen“ hat keine Ahnung, wo es hin möchte. „Du kannst mit zu mir, meine Mutter ist den ganzen Tag hier und sonst ist niemand zuhause“ bot ich dann an und er nickte.

Wir fuhren schweigend. Jonas fragte nur hin und wieder wo er abbiegen müsse und einmal fragte er mich, ob ich freiwillig am Kussstand gewesen wäre.

Wohl kaum.

Bei mir angekommen gingen wir in mein Zimmer und legten erst einmal eine DVD ein. Ich holte was zu trinken und dann setzten wir uns nebeneinander auf die Couch. Es war sehr schön und aufregend zugleich, so hier mit ihm zu sitzen. Ich versuchte, mich auf dem Film zu konzentrieren.

„Gott“ stieß Jonas dann plötzlich aus, „das ist so was von abgedreht.“ Ich runzelte die Stirn. Mir kam die Handlung des Films völlig nachvollziehbar vor.

„Wir kennen uns gar nicht, haben uns aber schon geküsst und jetzt sitzen wir in deiner Wohnung und tun so, als wären wir beste Freunde.“ Er lachte unsicher und schaute mich an. „Das ist doch komisch, oder?“ fragte er dann verlegen, als ich nicht gleich antwortete. „Wir können uns ja besser kennen lernen“ schlug ich vor, „indem wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben.“

 

Damit legte ich eine Hand in seinen Nacken und zog ihn zu mir. Er stöhnte leise auf, als sich unsere Lippen zum zweiten Mal an diesem Tag trafen und drängte sich gleichzeitig näher an mich. Mein Herz begann wild zu klopfen und mein eigener Mut überraschte mich.

Ich zog ihn auf mich und wir begannen uns auszuziehen. Ich atmete schneller, als ich seine nackte Haut spürte.

Es war ein wahnsinnig sinnliches Erlebnis, er war so zärtlich und gleichzeitig leidenschaftlich, dass es mir schwer fiel, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Er verwöhnte mich mit seinem Mund, seinen Händen und schließlich auch mit seiner harten Erektion, bis mein Orgasmus mich überrollte. Er kam in mir und vergrub dabei sein Gesicht stöhnend an meiner Schulter. Heftig atmend blieben wir liegen, küssten uns wieder und wieder.

 

Als er an diesem Tag gehen musste, versprachen wir uns, uns bald wieder zu treffen und genau das haben wir natürlich auch getan.

 

Meinen Urlaub hat meine Mutter mir auch endlich unterschrieben, aber was sie nicht weiß: Es ist jetzt einer mehr dabei, als vorher geplant.

 Jonas und ich sind seit einigen Monaten ein Paar und sogar meiner Mutter habe ich ihn nach unserem Urlaub vorgestellt. Dass ich ihn am Kussstand kennen gelernt habe, habe ich ihr allerdings verschwiegen. Diesen Triumph gönne ich ihr nicht. Jonas und ich sind ziemlich glücklich miteinander und haben sehr viel Spaß im Bett.

 

Die einzige Frage, die jetzt noch bleibt, ist die folgende:

Was meinst du, bin ich ein Mann, oder eine Frau?

Impressum

Texte: Der Text und die Figuren sind von mir. ;-)
Bildmaterialien: Covergestaltung: Haunted Hunter
Tag der Veröffentlichung: 03.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der Person, die Unisex- Namen erfunden hat und jedem, der einen Kommentar schreibt ;)

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