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Kapitel 1




Mit quietschenden Bremsen hielt ein silberner Mercedes in der gepflasterten Hofeinfahrt vor dem großen, gelblichen Haus. Die vielen Fenster in den weißen Fensterrahmen waren voller winziger Regentropfen, die wie kleine Flüsse die Scheiben hinunter flossen. Es dämmerte bereits und im Erdgeschoss brannte Licht. Hinter dem erleuchteten Fenster befand sich die Küche, in der ein schlaksiges Mädchen mit blonden Haaren und klaren, blauen Augen mit Tellern hantierte.
Die Autotür wurde aufgestoßen und ein großer, braun gebrannter Mann im Anzug stieg aus. Er war das perfekte Beispiel für einen typischen Geschäftsmann. Dunkelbraune, beinahe schwarze Haare, braune Augen, die eine Menge Selbstsicherheit ausstrahlten, groß und schlank, dazu das gepflegte Aussehen und der schwarze Aktenkoffer. Den Koffer über den Kopf gehalten, um die Haare vor dem Regen zu schützen, eilte er auf das Haus zu. Er warf dem Mädchen in der Küche, die eben auf ihren Vater aufmerksam geworden war, ein kurzes Lächeln zu und sah dann kurz besorgt zu dem einzigen Zimmer im ersten Stock, in dem Licht brannte, bevor er die Haustür aufschloss.
Aus dem ersten Stock kam laute Musik. Tiefe Bässe und E-Gitarren Solos dröhnten durch das Haus. Kopfschüttelnd stellte der Mann seinen Aktenkoffer ab und zögerte einen Moment, bevor er die Treppe hinauf ging. Oben angekommen klopfte er leise an eine schwarz gestrichene Holztür, die mit Stickern beklebt war, auf denen stand: „Betreten auf eigene Gefahr“ oder „Vorsicht, bissiger Teenager“. Er trat ein, wobei sein Blick sofort auf das schwarzhaarige Mädchen fiel, das zusammen gekauert auf dem blutroten Teppich saß. Den Kopf gesenkt und das Gesicht hinter den Haaren und der Kapuze ihres Pullovers verborgen hatte sie nicht bemerkt, dass ihr Vater das Zimmer betreten hatte.
„Liv? Olivia?“ Olivia zeigte keine Reaktion. Ihr Vater schüttelte erneut den Kopf, ging zu der silbernen Stereoanlage in dem schwarz lackierten Regal aus Eichenholz hinüber und drückte ahnungslos auf ein paar Knöpfen herum, bis die Musik endlich verstummte. Mit einem Ruck drehte sich Olivia um und sah ihren Vater böse an. „Kannst du bitte anklopfen, anstatt einfach in mein Zimmer zu kommen und die Musik auszumachen?“ Olivia hatte einen zickigen Unterton in der Stimme und wurde am Ende des Satzes immer lauter. Ihre klaren, himmelblauen Augen, die mit tiefschwarzem Eyeliner und Kayal dick umrandet waren, waren wütend auf ihren Vater gerichtet, der etwas hilflos in dem düsteren, nur schwach beleuchteten Zimmer stand und verloren in Olivias Gesicht starrte. Genervt zog Olivia eine ihrer schmalen, schwarzen Augenbrauen hoch und sah ihren Vater vorwurfsvoll an, als wollte sie ihn fragen, warum er immer noch in ihrem Zimmer stand.
„Es … gibt Essen“, meinte er sanft, um Olivia zu beruhigen, doch dabei klang er eher etwas kleinlaut und schüchtern, anstatt ruhig und selbstbewusst, wie es sonst seine Art war. So sehr er auch versuchte, sie zu verstehen, sich in ihre Situation hinein zu versetzten, er schaffte es nicht. Er verstand seine Tochter nicht. Deshalb versuchte er, immer freundlich zu klingen, auch wenn er innerlich am verzweifeln war.
„Ich habe keinen Hunger.“ Olivias Augen waren kühl, sie drehte sich um und wandte sich ihrem Zeichenblock zu. Ihr Gesicht schützte sie wieder mit ihren langen, schwarzen Haaren vor dem Blick ihres Vaters. Mit der rechten Hand zog sie ihre Kapuze noch tiefer ins Gesicht.
Ihr Kleiderschrank bestand fast nur noch aus Kapuzenpullovern. Nicht, weil sie ein oder zwei Kilo Übergewicht verbergen wollte, im Gegenteil, sie hatte eine vollkommen normale Figur, auf die so manch ein Mädchen an ihrer Schule neidisch sein konnte. Der eigentliche Grund für die Kapuzen war, dass sie Angst hatte. Angst davor, ihre wahren Gefühle zu zeigen.
Den ausdruckslosen Blick starr auf das leere, weiße Blatt Papier gerichtet, wartete sie, bis ihr Vater endlich das Zimmer verließ. Als die pechschwarze Tür leise hinter ihm ins Schloss fiel, atmete Olivia erleichtert aus. Sie stand auf und warf den kurzen, stumpfen Bleistift in den schwarzen Mülleimer, der neben einem ebenfalls tiefschwarzen Schreibtisch stand.
Olivia drehte sich um und betrachtete nachdenklich ihr Zimmer. Fast alles in ihrem Zimmer war schwarz, bis auf eine weißgestrichene Wand und den blutroten Teppich, der ein Drittel des dunklen Laminatbodens bedeckte. Neben der schwarzen Tür stand ihr Kleiderschrank in ebendieser Farbe, gegenüber dem Regal mit der Stereoanlage. Daneben befand sich ihr schwarzer Schreibtisch, den Olivia drei Mal nachgestrichen hatte, damit man die Maserung des Holzes nicht mehr erkennen konnte. In einer kleinen Nische unter dem einzigen Fenster des Zimmers stand ihr großes Himmelbett mit den seidenen, schwarzen und dunkelroten Vorhängen, die das Bett geheimnisvoll verhüllten.
Als Olivia sich auf ihr Bett fallen ließ, fiel ihr ein kleines Foto auf ihrem Nachttisch auf. Es zeigte ein hübsches Mädchen von etwa fünfzehn Jahren. Sie hatte langes, strohblondes Haar, das ihr in leichten Wellen über die Schultern fiel und in der Abendsonne einen leicht rötlichen Schimmer hatte. Ihre Nase zierten ein paar Sommersprossen, die jedoch kaum auffielen. Die hellblauen Augen strahlten und waren so klar, wie ein See, bei dem man etliche Kilometer weit in die Tiefe sehen konnte. Die langen Wimpern waren schwarz von Wimperntusche, sonst war das Mädchen ungeschminkt. Ihre Lippen formten ein strahlendes, glückliches Lächeln, wobei sich kleine Grübchen auf ihren Wangen bildeten. Olivia nahm das Foto vorsichtig in die Hand, als könnte es jeden Moment zerbrechen, in tausend Teile zerspringen. Sie betrachtete es lange, doch so sehr sie auch versuchte, sich an das Mädchen zu erinnern, sie kannte es nicht. Zumindest nicht mehr, denn das Mädchen auf dem Foto war niemand anderes, als sie selbst.
Olivia fröstelte und stellte das Bild zurück an seinen Platz. Sie hatte das Gefühl, als wäre eine unsichtbare Barriere in ihr, die das Mädchen, das sie früher einmal gewesen war, zurück hielt, es irgendwo tief in ihr gefangen hielt und nicht nach draußen lassen wollte. Es war wie bei dem Foto. Das Mädchen mit dem ehrlichen Lächeln war hinter der Glasscheibe des Bilderrahmens gefangen. Wollte man sie berühren, über ihre glänzenden Haare streichen stieß man gegen eine harte, kalte Schale aus Glas, die so undurchdringlich schien und doch so zerbrechlich war. So zerbrechlich wie Olivia selbst, auch wenn sie es nicht zeigte, sondern hinter der harten Schale aus schwarzen Klamotten und Make-up und ihrem kühlen Verhalten versteckte.

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Tag der Veröffentlichung: 15.08.2011

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