Nachdem sich die Klasse im Zeichensaal der Schule eingefunden hat und sich das Stimmengewirr langsam leiser wird, schreibt der Kunstlehrer die Aufgabe an die Tafel. Er ist kein Mann großer Worte, auch, weil Taten manchmal mehr als tausend Worte sagen.
"Zeichne etwas, woran du glaubst."
Einige Minuten geht ein Murmeln durch die Klasse, verwirrte Blicke treffen sich, ratlose Gesichter starren auf ihre leeren Blätter. Mit der Zeit wird es ruhiger und der Raum ist erfüllt von knisterndem Papier, dem Kratzen der Bleistifte auf den Blättern und hin und wieder einem nachdenklichen Seufzer.
Als am Ende der Stunde die Schulglocke läutet ist es vorbei mit der Stille. Schulsachen werden zusammen gepackt und in die Taschen zurück gesteckt, Stühle werden unsanft unter den Tisch geschoben und bevor alle aus dem Klassenzimmer strömen machen sie noch schnell einen Abstecher am Lehrerpult und werfen ihr Aufgabenblatt auf einen unordentlichen Haufen. Nach wenigen Minuten ist das Zimmer wieder fast leer. Fast. Ein Mädchen sitzt noch immer über ihrem leeren Blatt und zieht jetzt die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich. Er geht zu ihr hinüber und während sie zusammen packt, überlegt er sich seine Worte. "Was hast du denn die ganze Stunde gemacht? Dir ist klar, dass ein leeres Blatt als Leistung einer ganzen Stunde absolut nicht ausreichend ist?" Sein Blick war streng und ruhte verständnislos auf ihrem Blatt.
"Aber ich bin doch fertig", rechtfertigte sich die Schülerin nach einer kurzen Pause des Schweigens. Nachdem sie den verblüfften und gleichzeitig gereizten Blick ihres Lehrers sah, der wohl dachte, sie wolle ihn provozieren, setzte sie zu einer Erklärung an. Sie schluckte noch einmal, ordnete ihre Gedanken und räusperte sich kurz, bevor sie mit sicherer Stimme zu erklären begann: "An meinem Bild wird sich nichts mehr verändern. Ich kann das, woran ich glaube, nicht zeichnen. Zum Beispiel glaube ich an Gott. Aber wie soll ich Gott zeichnen? Haben sie ihn schon einmal gesehen? Ich glaube an Engel. Aber wie soll ich einen Engel zeichnen? Ich habe noch nie einen gesehen. Und ich glaube an die Liebe." Das Mädchen machte eine kurze Pause, sah auf ihr Blatt und überlegte einen Moment, wie sie es sagen sollte. "Aber wie soll ich die Liebe zeichnen? Liebe sieht man nicht. Man fühlt sie. Und wie soll man etwas zeichnen, das man noch nie gesehen hat?" Das Mädchen verabschiedete sich und ging mit schnellen Schritten aus dem Klassenzimmer.
Texte: Das Copyright der Texte liegt bei der Autorin.
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Das Schönste am Leben ist die Liebe ... das Schlimmste die Sehnsucht.
Ich widme diesen Text 2 Personen, die mich sehr verletzt haben. Ich habe es immer noch nicht ganz verkraftet, aber ich liebe euch trotzdem, B&D.
Jeder hat eine 2. Chance verdient, denn irgendwann braucht man sie selbst.