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Begegnung im Wald

Sie hat keine Eile. Langsam und mit Bedacht setzt sie ihre Schritte, geht ihren Weg, jedoch ohne auf seinen Verlauf zu achten. Die Zeit und das Ziel spielen heute keine Rolle. Es ist früher Morgen und ein leichter Nebel beschert dem aufgehenden Tag eine trübe Stimmung. Und obwohl es sie fröstelnd macht, stört es sie nicht, denn das passt gut zu ihrem Seelenzustand, der sich ebenso verhangen und trüb und verfroren anfühlt. Als hätten sich die äußere und innere Stimmung einander angepasst.

Sie hat den Weg am Waldrand entlang eingeschlagen. Schon oft ist sie ihn gegangen. Früher, mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter Lise. Manchmal war auch ihr Vater dabei und immer Fips, Omas Dackelmix. Sie erinnert sich an sein aufgeregtes Kläffen, wenn sein Jagdinstinkt eine vermeintliche Beute im Unterholz neben dem Weg ausgemacht hatte. Und an Oma Lises Ermahnungen, doch mit dem Gekläffe aufzuhören, wovon Fips sich jedoch nie stören ließ.

Sie erinnert sich auch an das leise Geplauder der Erwachsenen, während sie als Kind nebenher lief, manchmal hüpfend und lachend, und weder Interesse noch Verständnis für die Worte aufbringend, die zwischen den beiden Frauen mit liebevoller Leichtigkeit hin und her gespielt wurden. Wenn der Vater sie begleitete, bekam der Ton ihrer Unterhaltung eine andere Klangfarbe, verlor seine Verspieltheit, wurde nüchterner, ernster, dunkler aber er blieb stets liebevoll vertraut. Zwischen Mutter und Großmutter Lise jedoch bestand eine besondere Verbindung, in die sie niemanden einließen. Selbst sie, Marnie, die Tochter und Enkeltochter, fand keinen Einlass zu dieser Zweisamkeit. Manchmal verspürte sie Eifersucht und Neid und gleichzeitig den Wunsch, selber einmal mit einem Menschen solche eine Verbindung eingehen zu können. Vielleicht wenn die Großmutter eines Tages nicht mehr da wäre, würden sie und die Mutter zu so einer Einheit verwachsen können? Das war ihr Wunschtraum, ihre Hoffnung, ihr Ziel. Damals und bis vor kurzem.

Sie bummelt, tief in Gedanken versunken den bekannten, und inzwischen auch unbekannten Weg entlang. Lange ist es her und Vieles hat sich hier verändert. Als sie den Kopf hebt und die Umgebung bewusst wahrnimmt, kommt ihr die Randbepflanzung des Weges viel höher und dichter und der Wald viel düsterer vor als früher. Oder liegt das daran, dass sie sich damals in Begleitung von Mutter und Großmutter, und manchmal auch dem Vater, geborgener fühlte? Behütet und beschützt von vertrauten Menschen? Sie gelangt an eine Weggabelung und kann sich nicht mehr erinnern, welchen Weg sie damals weiter gegangen sind. Sie bleibt stehen und denkt nach. Da wird ihr die tiefe Stille um sie herum bewusst und plötzlich bricht die Einsamkeit über sie herein. Sie ist allein und orientierungslos, wird ihr klar. Nicht nur hier auf diesem Weg, den sie früher in Begleitung lieber Menschen gedankenlos und unbeschwert entlang gelaufen ist. Mutter und Großmutter wussten stets, wo es entlang ging. Sie gaben die Richtung vor und brachten sich und das Kind immer wieder nach Hause, in den sicheren Hafen der Geborgenheit. Doch nun steht sie hier und weiß nicht mehr weiter. Genauso verloren wie hier steht sie auch in ihrem Leben. Sie weiß nicht nur an dieser Wegkreuzung nicht mehr weiter, sondern grundsätzlich. Sie fühlt sich verloren, ratlos und allein gelassen. Einsam.

Marnie blickt verstört um sich. Der Nebel hält sich am Boden und erstickt jegliche Geräusche. Todesstille um sie herum. Todesstille! Tod. Der Tod hat sie ihrer letzten Hoffnung auf Zweisamkeit mit ihrer Mutter beraubt. Erst kam er die Großmutter zu sich holen und kurz darauf hat er ihre Mutter mitgenommen. Gestern. Selbst im Jenseits bleiben Mutter und Großmutter unlösbar miteinander verbunden, in ihrer Zweisamkeit verschweißt. Und sie, Marnie, kann wieder nur zusehen. Sie haben sie zurückgelassen. Ohne jede Chance, dass auch sie selber jemals diese Verbundenheit mit ihrer Mutter erleben wird, die die beiden miteinander hatten und sogar im Tod wieder haben werden. Sie sind ohne sie weiter gegangen.

Marnie entscheidet sich abrupt für einen der beiden Wege. Es ist egal, wohin sie geht. Sie hat kein Ziel und in keiner der Richtungen weiß sie, was sie erwartet. Umso verblüffter ist sie, als der Weg plötzlich endet und sich vor ihr ein Waldsee auftut. Sie erinnert sich nicht daran, dass sie jemals mit Mutter, Großmutter und Vater diesen See entdeckt hatte. Gab es ihn schon immer oder ist er irgendwann in den letzten Jahren neu entstanden? Der See sieht nicht neu angelegt aus. Er erscheint ihr wie ein Zaubersee, unwirklich und verwunschen. Die Nebelschwaden wabern über seine Oberfläche, das Ufer ist wild bewachsen mit hochstehenden Gräsern und Schilf, so dass die Oberfläche des Wassers in grünlichem Ton schimmert.

Plötzlich bricht ein Sonnenstrahl durch den Nebel, lässt das Wasser und das Grün für einen Moment aufblitzen. Fasziniert betrachtet Marnie die Kulisse. Immer häufiger dringt die aufgehende Sonne durch den trüben Nebel und vertreibt die grauen Schwaden. Es glitzert und leuchtet um Marnie herum und sie spürt die wärmende Kraft der Sonnenstrahlen auch auf ihrer Haut. Es zieht sie weiter, um den einsamen See. Sie geht langsam, bis sie auf die Stümpfe, abgesägter Bäume trifft. Hell beschienen von der wärmenden Sonne laden sie zum Niedersetzen und Pausieren ein. Marnie nimmt die Einladung an, setzt sich auf einen der Baumstümpfe und lässt ihren Blick schweifen.

»Mama, warum hast du mich allein gelassen?«, ruft sie spontan hinaus auf den See. Tränen benetzen ihre Augen und Wangen, während sie verzagt in die Weite blickt. Da hört sie ein Geräusch. Sie wendet den Blick zur Seite und sieht in der Ferne einen Mann, der zügig näher kommt. Marnie kneift die Augen zusammen, sie kann den Fremden nicht genau erkennen, da die Sonnenstrahlen sie blenden. Als der Mann nah genug herangekommen ist, brechen plötzlich die Strahlen der Sonne und vor ihr steht ihr Vater. Sie sehen sich an. Sie erstaunt, er verunsichert.

»Ich hoffte, dass ich dich hier finde«, sagt er.

»Warum? Ich meine, woher wusstest du ...«, stammelt sie.

»Nur so eine Ahnung«, sagt er.

Er lässt sich neben sie auf den Baumstumpf sinken, legt einen Arm um ihre Schulter und lehnt seinen Kopf gegen ihren.

»Nur wir beide sind jetzt noch übrig geblieben«, flüstert er. »Wir müssen jetzt ganz fest zusammenhalten, damit wir uns nicht auch noch verlieren«.

In dem Moment brechen die Sonnenstrahlen mit einer Stärke zwischen den Zweigen der Bäume hindurch, dass die beiden Menschen dort vollkommen in ihre Helligkeit und Wärme getaucht werden. Marnie schmiegt sich an ihren Vater und plötzlich lichtet sich nicht nur der Nebel am See, sondern auch in ihrem Herzen. Sie ist gar nicht allein. Da ist noch ein vertrauter Mensch - ihr Vater. Und sie haben eine Chance, sich so nah zu kommen, dass sie sich trösten und halten können.

 

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Tag der Veröffentlichung: 02.09.2014

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