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Zeitgeister

Eine Meute deutscher zwölf bis sechzehnjährige Jugendlicher, Mitglieder einer Sprachreisegruppe, quillt aus dem modernen Reisebus und nähert sich lärmend Pont du Hoc, dem fünfhundert Meter breiten und cirka dreißig Meter hohen Strandabschnitt der Steilküste an der Calvadosküste in der Normandie. Die Jungen und Mädchen waren eben noch an dem sechs Kilometer entfernten Omaha Beach gewesen und hatten sich dort den amerikanischen Soldatenfriedhof mit seinen hunderten weißen Kreuzen angesehen, die als Andenken gefallener amerikanischer Soldaten dort aufgestellt worden waren. Der verantwortliche Gruppenleiter hatte dafür sorgen müssen, dass sich die jungen Leute dem Ort angemessen verhalten, was ihm aber nur leidlich gelungen ist und nun laufen sie, um so übermütiger, wie eine Horde losgelassener Wildpferde, vorbei an den Bombentrichtern zu den Ruinen der Geschützbefestigungen.

Sie klettern auf den Ruinen herum, und wo das möglich ist, auch in sie hinein. Einigen von ihnen laufen johlend die ausgetretenen Pfade runter in die Bombentrichter und wieder hinauf. Ein Junge bemerkt, dass das ein toller Crosspfad zum Mountenbiken wäre, andere pflichten dem begeistert bei und machen laut Motorengeräusche, während sie die tiefen Trichter erstürmen.

Andere Jungen spielen Krieg. Sie schießen mit imaginären Waffen, schmeißen unsichtbare Handgranaten und alle zusammen machen immer mehr Radau an dieser geschichtsträchtigen Stätte der Vergangenheit, dem Ort der Niederlage und des Sieges, der letzten Heimat deutscher und amerikanischer Geister, die Anerkennung und Respekt erwarten. Der Gruppenleiter der Jugendlichen aber ist inzwischen viel zu genervt, hat an diesem Tag schon oft genug vergeblich Ermahnungen ausgesprochen und sehnt sich nur noch den Abend herbei, wenn die Gruppe im Bett liegt und endlich Ruhe einkehrt. Er lässt die Jugendlichen gewähren, lässt sie schreiend und lachend über den Boden toben, auf dem hunderte Menschen den Tod fanden.

Aber er registriert mit großer Erleichterung, dass Paul, der sonst schlimmste Vandale unter den Jungs und Rädelsführer, wenn es ums Blödsinnmachen geht, sich ruhig, beinahe nachdenklich abseits seiner Freunde bewegt. Das erstaunt ihn kurz aber weitere Gedanken macht er sich deswegen nicht.

 

Niemand bemerkt, dass der fünfzehnjährige Paul Marten Meinhard unter Schock steht. Bei Omaha Beach auf dem Soldatenfriedhof hatte er noch mit den anderen Jungen gleich getan. Er hatte sogar laut herumgewitzelt über lebende und tote „Amis“ und musste von dem Gruppenleiter mehrfach ermahnt und schließlich mit restriktiver Strafe bedroht werden, sich angemessen zu verhalten. So ging er dann gezwungener Maßen zwar spöttisch grinsend aber ruhig durch die Reihen der weißen Kreuze und las die eine oder andere Inschrift. Als sein Fuß plötzlich extrem zu jucken begann, waren die anderen weiter gelaufen, während er nicht anders konnte als stehen zu bleiben und sich an einem der Kreuze abzustützen. Er zog seinen Sportschuh aus und begann sich ausgiebig am Fuß zu kratzen.

 

Plötzlich verspürte ein leises Kribbeln in der Hand, mit der sich am Kreuz abstützte. Irritiert wollte er die Hand wegziehen, was ihm nicht möglich war. Er blickte auf seine Hand, die immer stärker kribbelte und dann auf das Kreuz, denn die eingravierten Buchstaben begann plötzlich zu flimmern und ein intensives Leuchten ließ Paul die Inschrift auf dem Kreuz überdeutlich wahrnehmen: Alex Bianco PFC 501 PRECHT INF 101 ABN DIV PENNSYLVANIA JUNE 6 1944

Paul sah sich um. Die anderen Jungen liefen immer weiter als würden sie gar nicht bemerken, dass er nicht mehr dabei ist. Er hatte plötzlich das Gefühl, in einem Vakuum zu stecken mit einer Hand, die so stark kribbelte, dass es schon in ein Brennen übergangen war. Mir aller Kraft riss er die Hand vom Kreuz los und als sich die Hand löste, fiel er durch den Schwung auf den Boden. Seine Hand brannte lichterloh. Verzweifelt rieb er sie über den Boden und als er sie dann betrachtete, sah er zarte rosa Haut. Seine Hand war unversehrt geblieben. Gehetzt rappelte er sich auf und rannte panisch seiner Gruppe hinterher.

 

Wegen dieses Vorfalls ist Paul nun so still. Noch immer verwirrt und unter dem schockierenden Erlebnis stehend, geht er bei Point du Hoc mechanisch die Pfade zwischen den Bombentrichtern entlang und spricht kein Wort. Vergebens versuchen ein einige seiner Kameraden ihn zum Mitmachen ihrer wilden und lauten Spiele zu animieren. Aber als er auf keine Aufforderung reagiert, lassen sie ihn links liegen. Wer nicht will, der hat schon, denken sie sich und wenden sich anderen Mitgliedern ihrer Gruppe zu.

 

Paul hat ein merkwürdiges Summen im Kopf. Es ist ihm, als ginge er durch einen Wattebausch. Alle Geräusche kommen wie gedämmt bei ihm an. Nur das Rauschen des Meeres scheint immer intensiver zu werden, so als würde es ihn komplett umhüllen und durchdringen, als würde er eins mit ihm. Schließlich ist er am Rande der Klippen angekommen und sein Blick richtet sich geistesabwesend in die Ferne, dorthin wo das Blau des Himmels in das Blau des Meeres übergeht und Vergangenheit und Zukunft sich treffen können.

 

Zur gleichen Zeit als die deutschen Jugendlichen aus dem Reisebus quollen fuhr ein kleines Motorboot auf die Klippen von Pont du Hoc zu und kurz bevor es dort ankam, wurde der Motor abgestellt.

Beobachter können sehen, wie drei kräftige, junge Burschen johlend ins Wasser springen und die letzten Meter zum Fuße der Klippen schwimmend hinter sich legen. Sie laufen zu den Felsbrocken, setzen sich dort nieder und lassen sich von der Sonne wärmen.

 

Plötzlich, als hätte es ein verabredetes Zeichen gegeben, springen alle drei gleichzeitig auf, laufen zu den Felsen und beginnen geschickt, an ihnen hinauf zu klettern. Die Touristen, die das Geschehen vom Rand der Klippen beobachten, können mit Erstaunen zuschauen, wie die jungen Männer die steilen Klippen hinaufsteigen, als würden sie auf unsichtbaren Leitern die Höhen erklimmen. Sie beginnen sie durch lautes Rufen und Johlen anzufeuern und ihre Bravorufe schallen weit über das Meer. Skeptische und ängstliche Stimmen werden übertönt und somit nicht gehört.

 

Auch Paul Marten Meinhard ist inzwischen an den Rand der Klippen gelangt. Wie in Trance steht er dort und starrt stumm hinunter in die Tiefe, aus der sich die drei Kletterer herauf kämpfen. Die vier jungen Menschen blicken sich an, fokussieren sich geradezu. Niemand der anderen Touristen bemerkt dies.

 

Was dann geschieht, kommt so plötzlich und geht so schnell, dass keiner der begeisterten Zuschauer dieser Klippenklettertour hinterher genau sagen kann, wie es eigentlich gekommen ist. Sobald sich die drei Kletterer zeitgleich, wie auf Zuruf, über den Klippenrand geschwungen haben, stellt sich junge Bengel, der seinen Freunden aus dem Sprachkurs als Paul Marten Meinhard bekannt ist, ihnen entgegen und dann gehen sie sofort aufeinander los. Sie schlagen sich und würgen sich aber Paul hat keine Chance gegen seine drei Gegner. Zu mächtig sind sie und in der Überzahl. Plötzlich starr vor Schreck und Nichtbegreifen stehen die Menschen oben auf der Klippe als gaffende Zuschauer da und können nicht verhindern, dass alle vier jungen Männer die Klippen hinunter in den Tod stürzen. Dann erst bemerken sie verwirrt, dass innerhalb von Sekunden ein starker Wind aufgekommen ist und sich das Meer plötzlich wie ein wild tobendes und schreiendes Ungeheuer aufbäumt und die Körper der Herabstürzenden verschlingt. Sie sehen sich ratlos an, einige schreien, andere weinen still vor sich hin. Der Wind aber hat sich sofort wieder gelegt, das Meer schaukelt sanft vor sich hin. Von den vier jungen Männern aber ist nichts mehr zu sehen.

 

 

Es ist Abend geworden und eine deutsche Feriengruppe Jugendlicher und ihre Betreuer sitzen bedrückt und verstört beieinander. Einer von ihnen fehlt im Kreis. Er ist spurlos verschwunden in den Tiefen des Atlantiks und mit ihm noch drei weitere junge, unbekannte Männer.

 

Sie waren, jeder für sich, von der französischen Kriminalpolizei unter Hinzuziehung eines Übersetzers, vernommen worden. Was war da geschehen, wo waren die Kletterer eigentlich hergekommen? Wie konnten sie die Klippen ohne Hilfsmittel hinaufgekommen sein? Und gab es eine Auseinandersetzung zwischen den Opfern? Kannten sich die Vier, wenn ja, woher? Lauter Fragen, die keiner beantworten konnte. Keiner von ihnen wusste etwas. Einige hatten das Spektakel der Klippenerklimmung und des anschließenden Kampfes nicht mal bemerkt – nur der Sturz der vier Opfer in die Tiefe, das hatten alle gesehen. Ebenso wie die Wellen plötzlich bis direkt an die Klippen gebrandet waren und die Körper der Herabgestürzten mit sich fort gezogen hatten. Sie hatten sich gegen den plötzlich aufgekommen Wind gestemmt und ihr Entsetzen und ihre Angst ging in seinem lauten Getöse unter. Wenige Sekunden später war der ganze Spuk vorbei. Ja, wie ein Spuk kommt ihnen das jetzt alles vor. Unbegreiflich und beängstigend.

 

Die Tür fliegt auf und einer der Kommissare betritt energisch den Raum, in seinem Gefolge der Dolmetscher. Der Kommissar schaut alle Anwesenden, die Jugendlichen und ihre Betreuer, der Reihe nach streng an.

 

« Il n'ya pas de Paul Marten Meinhard «  sagt der Kommissar

 

„Es existiert kein Paul Marten Meinhard!“ übersetzt der Dolmetscher.

 

 

« Et il n'y a pas trois jeunes hommes sont absents » sagt der Kommissar

 

„Und es werden auch keine drei jungen Männer vermisst“ übersetzt der Dolmetscher.

 

« Et il n'y a pas de corps » sagt der Kommissar

 

„Und es gibt auch keine Leichen“ wird seine Rede übersetzt.

 

 

« Et - le plus décisif - ce n'était pas une tempête en Normandie. Nulle part! » brüllt der Kommissar jetzt ungehalten.

„voulez vous moquez de moi ? »

 

« Äh, also, es gibt auch keine Leichen und es gab auch keinen Sturm in der Normandie. Der Kommissar fühlt sich etwas, äh, verulkt!“ übersetzt der Dolmetscher.

 

Die französische Kriminalpolizei hatte die deutschen Behörden kontaktiert und inzwischen wusste man, dass es Paul Marten Meinhard nicht gab. Jedenfalls nicht in dem Alter, in dem der ihnen bekannte Junge gewesen war. Paul Marten Meinhard war bei der Schlacht um Pont du Hoc gefallen.

Und am Horizont, dort wo Vergangenheit und Zukunft sich manchmal treffen, geht die Sonne unter. Und wer eine besondere Begabung hat, kann hinter dem Horizont die Umrisse von vier jungen Männern in Soldatenuniformen sehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 17.09.2013

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