Sie kommt wieder. Ich spüre es seit Tagen. In mir ist alles tot, abgestorben, leer. Wie ein düsterer Albtraum zieht sie herauf und in mich hinein, um mich völlig lahm zu legen. Und ich kann mich nicht dagegen wehren.
Es ist doch noch nicht November? November ist der Monat mit den meisten Selbstmorden. November ist der Monat des Regens, des Nebels und der Depressionen. Aber wir haben April. Der ist allerdings in diesem Jahr auch verregnet.
Nach einem furchtbaren Wochenende greife ich heute, am Montag, endlich zum Telefon und wähle meine Notfallnummer. Meine Therapeutin, Else Kriest, meldet sich auch gleich.
„Es ist schlimm“ sagte ich nur und Else gibt mir sofort, noch für denselben Tag, einen Termin.
„Schaffen Sie es allein zu kommen?“ fragt sie
Ich nicke müde. Das sieht sie nicht und deshalb fragt sie noch mal
„Ruth, schaffen Sie es her zu kommen?“
„Ja“ sage ich und lege auf.
Noch ein, zwei Tage weiter und ich hätte mich ins Bett gelegt und wäre nicht mehr aufgestanden, wäre versunken in einen Sumpf düsterer Gedanken und tiefer Verzweiflung.
So aber ziehe ich mir meine Jacke über, schultere meinen Rucksack und nehme den Bus zu Else Kriest, meiner Therapeutin. Ich bin ungeschminkt und ungekämmt und habe wahrscheinlich fettiges Haar, weil ich es schon tagelang nicht mehr gewaschen habe. Mir ist alles egal.
Else öffnet mir die Tür, sieht mich besorgt an und bittet mich hinein. Wir gehen in den Raum, in dem ich schon viele Male gesessen oder gelegen und mir alles von der Seele geredet, geweint und geschwiegen habe.
Ich bin so schlapp, dass ich heute die Couch bevorzuge. Ich lege mich hin und starre an die Decke.
„Was ist passiert?“ fragt Else.
„Nichts Besonderes“ sage ich. „Vielleicht ist es das Wetter?“
„Nehmen Sie Ihre Medikamente?“
Ich nicke. Selbst das Sprechen empfinde ich als anstrengend.
Else guckt mich ernst an.
„Ruth“ sagt sie dann leise aber bestimmt, „es wird Zeit, dass Sie eine stationäre Therapie in Erwägung ziehen!“
Ich schüttele den Kopf und Else seufzt. Sie hat es mir schon mehrmals ans Herz gelegt aber ich wehre mich gegen eine Einweisung in die Psychiatrie. Ich habe Angst wegen des Stigmas, welches man schnell aufgedrückt bekommt, wenn man mal Patient in einer psychiatrischen Klinik war.
„Es gibt ja noch andere Möglichkeiten“ sagt Else, steht auf und geht aus dem Raum. Ich starre weiter zur Decke und spüre, wie sich Tränen aus meinen Augen lösen und über die Wange rollen. Ich habe das Gefühl, dass selbst Else mir nicht mehr helfen kann und das ist schlimm. Dann kommt sie mit einer Art Katalog in der Hand zurück, den sie mir hinhält. Als ich ihn nicht nehme seufzt sie wieder, setzt sich und fängt selber an zu blättern.
„Ich kenne es nicht persönlich und ich kann auf keinerlei Erfahrungen zurückgreifen aber es hört sich gut an Ruth, schauen Sie doch mal.“
Ich starre weiter an die Decke während mir lautlos die Tränen in den Kragen meines Shirts laufen.
„Es ist eine Art Kur für psychisch kranke und mental erschöpfte Menschen. Dort treffen sich Leute mit Burn Out und Depressionen, die etwas in ihrem Leben verändern wollen“ sagt Else. „Dort werden Seminare angeboten und ein individuell ausgeklügeltes Fitness-Programm, Gesprächs-Therapien usw. Und nebenbei ist es ein bisschen wie Urlaub. Ruth, bitte, wäre das nicht eine Alternative für Sie?“
Zum ersten Mal an diesem Tag bewegt sich etwas in mir. Die große Leere meines Inneren füllt sich mit Bildern von Sonne, Meer, Wind und Wellen. Diese Bilder zaubern
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Susanne Wolters
Bildmaterialien: Susanne Wolters
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2012
ISBN: 978-3-95500-793-5
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