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Näher mein Gott zu dir




Wallace Hartsley und seine Männer, diese acht Schiffsmusiker, die sich „White Line Band“ nannten, hatten bereits seit einigen Stunden ihre Gäste auf der RMS Titanic mit ihrer Musik unterhalten und waren kurz davor, für diesen Abend Feierabend zu machen, als Wallace plötzlich einen seltsamen Ruck verspürte und danach ein dumpfes Knartschen, dass sich dröhnend einige Sekunden hinzog und wie ein dunkler, Unheil verkündender Ton tief in sein Inneres drang. Einen kurzen Moment kam er aus dem Takt und fragte sich im Stillen verwundert, was das denn wohl gewesen sein könnte? Denn es hatte sich angefühlt, als hätte ein Fahrzeug irgendetwas gerammt, was ja bei einem Schiff auf hoher See eigentlich nicht möglich war. Zumindest nahm Wallace Hartsley das so an. Einige der Passagiere hatten ebenfalls teils erstaunt, erschrocken oder leicht amüsiert aufgemerkt.

Es war der 14. April 1912 und die Uhrzeit betrug 23.40 Uhr. In dem Salon, in dem die „White Star Line Band“ spielte, herrschte eine gelöste Atmosphäre. An den Tischen saßen die Passagiere der ersten Klasse und ließen den Abend an Bord bei netter Live Musik ausklingen. Es wurden Cocktails getrunken, sich unterhalten und es hatten sich sogar einige Paare gefunden, die sich auf der kleinen Tanzfläche nach den Rhythmen der Musik bewegten.

Nach dem Ruck, der durch das Schiff gegangen war, schauten sich die Gäste erstaunt und teilweise amüsiert an, riefen im Spaß „Untergang“ und ließen sich dabei aber nicht wirklich aus der Ruhe bringen. Keiner der Anwesenden glaubte sich auf der RMS Titanic wirklich in Gefahr.

Die Tür ging auf und einer der Offiziere betrat den Saal. Er eilte zu den Musikern und nahm Wallace zur Seite.
„Wir haben ein kleines Problem und bitten Sie dringend mit ihren Musikinstrumenten an Deck zu gehen und dort zu spielen. Der Kapitän ist der Meinung, dass fröhliche Musik die Passagiere beruhigen wird. Bitte machen Sie sich gleich auf den Weg und verhindern Sie mit Hilfe ihrer Musik eine Panik!“
„Besteht denn ein Grund zur Panik?“ fragte Wallace.
„Das könnte schon sein“ antwortete der Offizier leise.

Wallace gab den Gästen im Salon bekannt, dass die Band für heute hier im Salon Schluss machen wollte und sie spielten ein letztes Lied, bevor er seine erstaunten Bandmitglieder darüber informierte, dass sie nun an Deck weiter spielen werden. Die Männer nahmen ihre Instrumente, Geigen und Kontrabässe, und eilten an Deck. Auf dem Weg dorthin herrschte im Gegensatz zum Salon eine hektische Betriebsamkeit. Passagiere und Schiffspersonal liefen hin und her, riefen sich etwas zu oder ulkten auch herum. Panik herrschte auch hier nicht.

An Deck hatten sich viele der Passagiere versammelt. Wallace sah in einigen Gesichtern nun Angst und Panik. Lautes Rufen, herum laufende Offiziere und Schiffspersonal, ein heilloses Durcheinander hatte die Oberhand auf Deck. Er bekam ein merkwürdiges Gefühl in der Bauchgegend und ahnte, dass es Angst war, die von ihm Besitz ergriff. Er nahm seine Geige hoch und fing an zu spielen, seine Bandmitglieder machten es ihm nach. Die Passagiere schauten zu ihnen hinüber und einige blieben sogar stehen und hörten zu. Manche lächelten erleichtert.

Während Wallace die Geige strich, gingen ihm viele Gedanken durch den Kopf. Wie das manchmal so ist, hatte er sich erst vor kurzem mit einem Freund, ebenfalls Schiffsmusiker, darüber unterhalten, welches Stück man spielen würde, wären sie auf einem untergehenden Schiff und der Freund hatte geantwortet: „Näher mein Gott zu dir“. Ja, das wäre das richtige Lied, waren sie beide der Meinung. Wunderschön und doch auch so traurig. Aber würde die RMS Titanic untergehen? Nein, das war nicht möglich. Die Titanic war ein unsinkbares Schiff. Das war doch allgemein bekannt.

Die acht Männer der Band spielten ihre Musik. Sie spielten fröhliche Musik, die den Passagieren implizieren sollte, dass alles gar nicht so dramatisch war. Wer denkt bei fröhlicher Musik schon an Untergang und Tod? Inzwischen hatten sich immer mehr Menschen an Deck versammelt und dann bemerkte Wallace, dass das Schiff nicht mehr waagerecht auf dem Meer lag. Er hörte immer lautere Rufe und die Menschen begannen durcheinander zu laufen. Man hört Kinder weinen, Männer schreien und Frauen kreischen. Innerhalb kurzer Zeit war große Panik auf Deck ausgebrochen und nicht mehr aufzuhalten. Rettungsboote wurden zu Wasser gelassen. Wallace hörte Schüsse, Schreie und verzweifeltes Rufen. Menschen hatten sich im Gewühl verloren und suchten einander verzweifelt. Während er seine Geige zum Klingen brachte, beobachtete er das Gerangel um die Plätze in den Rettungsbooten. Er und seine Band spielten und Wallace glaubte noch daran, dass sie, sobald ihre Musik nicht mehr gebraucht würde, ebenfalls auf dem wohl letzten Rettungsboot Platz finden würden.

Plötzlich flackerten die Lichter auf der Titanic und es wurde dunkel. Wallace gab verzweifelt seine ganze Kraft und Liebe in seine Musik. Es war als wollte er sich selber Mut machen. Er hörte Rufe, dass es nicht genug Rettungsboote gäbe und er sah, wie die Menschen in Brutalität und ohne Rücksicht auf andere um die letzten Plätze in einem der Boote kämpften. Und dann sah und hörte er, wie ein Rettungsboot herunter in die Tiefe stürzte und die Schreie der Menschen drangen in sein Bewusstsein und machten ihm klar, dass er dieses Schiff nicht mehr lebend verlassen würde. Er nahm die Geige hinunter und ließ die Arme hängen, den Blick zu Boden gerichtet. Auch seine Bandmitglieder hörten nach und nach auf zu spielen und sahen ihn schweigend, traurig und wissend an.

Das Chaos auf Deck nahm ungeahnte Formen an und Wallace sagte seinen Freunden und Musikbegleitern Lebe Wohl. Sie sollten zusehen, ob sie sich in Sicherheit bringen können und ihr Leben retten. Er wünschte ihnen viel Glück. Sie nickten sich zu, Wallace sah jedem einzelnen von ihnen noch einmal tief in die Augen und reichte jedem die Hand. Langsam drehten sich die Männer dann um, wandten sich dem Chaos zu und entfernten sich langsam und ratlos, der eine oder andere schaute noch mal zurück. Wallace sah ihnen einen Moment lang traurig hinter her. Er dachte an Mutter und Vater und an seine kleine Schwester. Er war sich schmerzhaft bewusst, dass er sie in diesem Leben nie mehr wieder sehen würde. Er schloss seine Augen und dann hob er seine Geige an seine Schulter und während sich der Bug des Schiffes absenkte und das Heck in die Höhe stieg und die verzweifelten Schreie der Menschen immer lauter wurden spielte er das letzte Lied auf seiner Geige. Das letzte Lied, das die Menschen auf der Titanic hörten, mit dessen Tönen und seiner Melodie sie in die Tiefe sanken. „Näher mein Gott zu dir“. Als seine Freunde die ersten Töne der Geige hörten, als ihnen klar wurde, dass Wallace noch weiter spielen würde, kehrten zurück, hoben ihre Instrumente an und spielten mit Wallace diese letzte Melodie. Sie spielten wunderschön und weit klangen die Töne über das Meer und leise sang Wallace die Worte dazu….bis das sich aufgerichtete Schiff auseinander brach und die kalten Fluten sie mit sich riss.


Näher, mein Gott zu dir, näher zu dir!
Drückt mich auch Kummer hier, drohet man mir;
soll doch trotz Kreuz und Pein
dies meine Losung sein:
her, mein Gott, zu dir! Näher zu dir!

Bricht mir, wie Jakob dort, Nacht auch herein,
find’ ich zum Ruheort nur einen Stein;
ist auch im Traume hier mein Sehnen für und für:
Näher, mein Gott, zu dir! Näher zu dir!


Geht auch die schmale Bahn aufwärts gar steil,
führt sie doch himmelan, zu unserm Heil.
Engel, so licht und schön, führen zu jenen Höhn.
Näher, mein Gott, zu dir! Näher zu dir!

Ist dann die Nacht vorbei, leuchtet die Sonn’,
weih’ ich mich dir aufs neu’, vor deinen Thron
baue mein Bethel dir und jauchz’ mit Freuden hier:
Näher, mein Gott, zu dir! Näher zu dir!
Ist mir auch ganz verhüllt dein Weg allhier,Nä
wird nur mein Wunsch erfüllt: Näher zu dir!
Und wenn der Herr erscheint werd’ ich zu ihm vereint:
Näher, mein Gott, zu dir! Näher zu dir!


Obwohl angelehnt an die tatsächliche Geschichte des Unterganges der Titanic ist diese Geschichte frei erfunden.


Impressum

Texte: by Susanne Wolters
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2012

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