Lars zog sich seine Sportschuhe an und nahm die Hundeleine vom Haken. Augenblicklich kam Finn aus der Küche angerast und blieb freudig mit dem Schwanz wedelnd vor seinem Herrchen stehen.
Der vierjährige Labrador Retriever sah den jungen Mann mit seinem sprichwörtlich treuen Hundeblick erwartungsvoll an. Endlich würde er sich im nahe gelegenen Park austoben können. „Na komm, du Schlawiner“, Lars legte seinem vierbeinigem Gefährten die Leine um den Hals und öffnete die Wohnungstür, „darauf wartest du doch schon den ganzen Tag.“ Finn stürmte die Treppe hinunter. Lars spurtete ihm hinterher und wenige Minuten später liefen die beiden die Straße hinunter. Es war herrliches Herbstwetter. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel. Das Laub der Bäume im Park leuchtete in vielen verschiedenen Rottönen und tauchte die Landschaft in warmes, rötliches Licht. Aufgeregt schnüffelnd stöberte Finn im Laub, das so geheimnisvoll unter seinen Pfoten raschelte. Zwei Spaziergänger warfen dem schwarzen Hund ängstliche Blicke zu, doch der machte einen großen Bogen um die beiden, beachtete sie gar nicht. Lars schlug den Weg zum See am anderen Ende der Parkanlage ein. Als ihm ein offenbar frisch verliebtes Pärchen entgegen schlenderte, versetzte ihm deren Anblick unverhofft einen Stich. Traurig dachte er an Beatrixe, von der er sich erst vor ein paar Monaten getrennt hatte. Ausgerechnet an ihrem 27. Geburtstag musste das passieren. Er hatte doch eine so schöne Überraschung für sie geplant. Seit Wochen hatte sie mit dem Mini geliebäugelt, der beim Autohändler um die Ecke stand und zu einem recht günstigen Preis zu haben war. Bisher hatten sie sich ein Auto geteilt, doch seitdem sie hin und wieder in der Bankfiliale der Nachbarstadt eingesetzt wurde, lies sich das immer schlechter organisieren. Schließlich musste er in seinem Job als Bauingenieur ebenfalls mobil sein. Deshalb war er zum Händler gegangen, hatte das Auto für sie gekauft und mit dem Verkäufer vereinbart, das Fahrzeug erst an Trixis Geburtstag- dann natürlich mit dicker Schleife darum- abzuholen. Er hatte sich auf ihr überraschtes Gesicht gefreut und war an jenem Tag zu Feierabend voller Vorfreude zur Bank gefahren, um sie abzuholen. Doch was er dort zu sehen bekommen hatte, erfüllte ihn noch heute mit bitterer Enttäuschung, doch vor allem mit unbändiger Wut. Hatte er doch bis dahin geglaubt, eine glückliche Beziehung zu führen. Wahrscheinlich hatte er sich in diesem Punkt gründlich getäuscht. Beatrixe hatte auf der Eingangstreppe des Bankgebäudes gestanden. Ein Mann in Anzug und Krawatte, offensichtlich um einiges älter als er selbst, hatte ihre Hände gehalten und ihr tief in die Augen gesehen. Dann hatten sie sich geküsst- hier in aller Öffentlichkeit! Die Situation war so eindeutig gewesen, so unmissverständlich, dass er einfach sein Auto gewendet hatte und mit einem Kloß im Hals davon gerast war. Ihm war zum Heulen zumute gewesen. Aber nein! Männer weinen ja nicht! Für ihn hatte es nur eine Alternative gegeben. Als sie wenig später zu Haus eingetroffen war, hatte er bereits seine Koffer gepackt, entschlossen und bereit, die gemeinsame Wohnung zu verlassen und ihre fast siebenjährige Beziehung zu beenden. Sie hatte die Affäre nicht einmal geleugnet, nur stumm daneben gestanden, als er seine Sachen in den Kofferraum und Finn auf der Rücksitzbank platziert hatte.
Das alles war nun vier Monate her. Seitdem lebte er wieder in seiner Heimatstadt- dreißig Kilometer von seinem bisherigen Wohnort entfernt-; er hatte möglichst viel Raum zwischen Beatrixe und sich bringen wollen.
Es ging ihm eigentlich ziemlich gut, nur manchmal befiel ihn noch die Melancholie, und wenn er im Park Verliebte Arm in Arm spazieren gehen sah, wurde ihm die Leere in seinem Leben umso schmerzlicher bewusst. Zum Glück gab es da noch Finn, seinen intelligenten, aufmerksamen, vierbeinigen Freund, der stets darum bemüht zu sein schien, sein Herrchen bei guter Laune zu halten.
Außerdem zwang Finn ihn, bei jedem Wetter seine Wohnung zu verlassen und nach einem ausgiebigen Spaziergang ging es ihm meist wieder besser, sollte ihm einmal die Decke auf den Kopf zu fallen drohen.
Als sie dann später am See angekommen waren, stürmte Finn mit einem starken Ast im Maul heran und forderte Lars zum Spielen auf. Der warf das Holz in weitem Bogen über die Wiese. Finn setzte dem Geschoß mit langen Sätzen nach. Erneut brachte er sein Spielzeug, legte es schwanzwedeln vor Lars ins Gras und schaute ihn ungeduldig an. Der sah sich um: Am Ufer weiter hinten saßen zwei Frauen im Gras, ihr blondes Haar schimmerte in der Spätsommersonne. Eine Bank war mit schwatzenden Rentnern besetzt, ansonsten hielt sich niemand auf der Liegewiese auf. Im Sommer drängelten sich hier stets viele Badegäste, jetzt im Herbst jedoch herrschte hier friedliche Ruhe. Lars holte aus, schleuderte den Stock hinaus auf den See. Der Hund war begeistert, raste los. Er war ein leidenschaftlicher Schwimmer und sein Bewegungsdrang war an manchen Tagen kaum zu befriedigen. Lars lächelte, als er sah, mit welchem Getöse er ins Wasser platschte. Wasserfontänen spritzen nach allen Seiten. Gut, dass genug Abstand zu den beiden letzten Sonnenanbeterinnen bestand, denn: Zurück am Ufer, schüttelte der Schwarze sein nasses Fell. Lars brachte sich mit einem Satz vor den fliegenden Wassertropfen in Sicherheit. Wieder und wieder musste er das Spielzeug auf den See hinaus werfen und er bemerkte dabei nicht, wie er den beiden Frauen, die immer noch auf ihrer Decke am Strand hockten und gänzlich in ihr Gespräch vertieft waren, mit jedem Wurf näher kam. Schließlich trennten sie nur noch wenige Meter. Eine leichte Brise war aufgekommen, wodurch das geworfene Holz abgetrieben wurde und Finn, nachdem er seine vermeintliche Beute aufgenommen hatte, direkt auf die zwei Blondinen zusteuerte. „Finn“, Lars schwenkte die Arme, „hierher!“ Allerdings wurde auch der Hund von der Strömung erfasst und es war abzusehen, dass er genau auf der Höhe der Frauen aufs Ufer treffen würde. Lars fluchte leise, weil er sich vorstellen konnte, was nun folgen würde. Er rannte dem Hund entgegen und versuchte ihn in seine Richtung zu locken. Und dann geschah das Unvermeidliche. Finn sprang an den Strand und schüttelte sich ausgiebig, verteilte dabei eine enorme Tropfenwolke, die die beiden auf der Decke augenblicklich einhüllte.
Erschrocken kreischend schnellten die sie vom Boden hoch- zu spät, die kalte Dusche hatte sie voll getroffen. Empört drehte sich die eine zu ihm um und begann eine nicht enden wollende Schimpfkanonade. Betreten trat Lars heran und stammelte eine Entschuldigung. Alles war so schnell gegangen und es tat ihm aufrichtig leid, dass sein Hund die beiden nass gespritzt hatte. Die andere Blondine stand grinsend dabei. Ihr schien das Malheur nichts auszumachen, obwohl die Fontäne sie weit mehr erwischt hatte, als die andere. Die Tropfen rannen ihr sogar jetzt noch übers Gesicht. Während ihre Begleiterin noch immer keifte, zuckte sie lediglich die Schultern. Finn umkreiste die drei, blieb vor der gelassen Wirkenden stehen und schmachtete sie mit seinen großen, braunen, immer etwas traurig scheinenden Augen an. Tatsächlich bückte sie sich nun zu ihm hinunter und kraulte ihm das immer noch feuchte Fell.
Als Finn der Blondine das Gesicht abzuschlecken drohte, griff Lars energisch ein. „Finn! Aus!“ „Nicht so schlimm“, sie winkte ab, „ich hatte auch mal einen Retriever...hat auch gern die Leute abgeschlabbert, die er mochte.“ Jetzt lächelte sie in hinreißend an und ihm fiel auf, dass sie veilchenblaue Augen hatte. „Sie sollten ihr Vieh an die Kette legen“, mischte sich die andere wieder ein und zerrte ihre Freundin mit sich fort, nachdem sie die Decke zusammengerafft und eilig in ihre Tasche gestopft hatte. Sie warf noch einen vernichtenden Blick in Richtung des verdatterten Hundebesitzers, dann schüttelte sie verständnislos den Kopf. Lars blieb allein mit seinem Vierbeiner zurück, einerseits verblüfft, doch andererseits erfreut über die Begegnung mit der netten Blonden. Vor sich hin träumend, trat er den Heimweg an. Ich hätte mich wenigstens vorstellen sollen, dachte er, ärgerlich über seine Begriffsstutzigkeit, nun weiß ich nicht einmal ihren Namen.
Auch an den nächsten Tagen zeigte sich der Herbst von seiner sonnigsten Seite. Immer wieder zog es Lars an den See, doch seine Blondine traf er zu seiner Enttäuschung nicht dort an.
Der November begann, das Wetter änderte sich abrupt, dennoch forderte Finn unverdrossen seinen Auslauf, auch wenn es oft schon dämmerte, wenn Lars von der Arbeit nach Hause kam. So brach er auch an jenem Donnerstag bei nasskaltem Nieselwetter und im letzten Dämmerlicht auf, um seinem vierbeinigem Freund seinen Spaß zu gönnen. Wie immer ging es zum Park hinüber, Finn jagte ausgelassen vorneweg, Lars joggte verdrossen hinterher. Dennoch war er froh, der erdrückenden Stille seiner Wohnung zu entkommen. Er fühlte sich einsam und ihm graute jetzt schon vor den Weihnachtsfeiertagen. Er würde sie daheim bei seinen Eltern verbringen, gemeinsam mit seinem Bruder und seiner Schwester, die beide in Begleitung ihrer Partner und Kinder anreisen würden. Alle waren ja so glücklich, nur er hatte seine Beziehung in den Sand gesetzt und er kam sich vor, wie der letzte Loser.
Gedankenversunken lief er in den düsteren Wald hinein, der seine depressive Stimmung noch verstärkte. Finn strebte unaufhaltsam voran und Lars kam ihm kaum hinterher. Was war denn heute mit dem verrückten Kerl los?! Sonst musste er stets an jeder Ecke schnüffeln, doch heute lief er zielstrebig vorwärts, immer tiefer hinein in den Park.
Plötzlich hörte er Stimmen. Nein: Es war eher Geschrei. Es klang, als würden sich zwei lautstark streiten. Ein Mann und eine Frau, wie die Stimmen vermuten ließen, wobei die weibliche Stimme eher ängstlich als zornig klang. Lars beschleunigte seinen Schritt. Finn war nicht mehr zu sehen, doch nun hörte er ihn aufgeregt bellen. Als er die letzte Biegung passierte, entdeckte er ihn, wie er wild bellend eine große, kräftige Person in Schach hielt, während der sich mit dem Rücken und in panischer Angst an eine riesige Eiche drückte. „Nimm den Köder weg!“, flehte er immer wieder. Dann gewahrte auch die Frau, deren Stimme er wohl gehört haben musste. Sie stand wie versteinert mitten auf dem Weg. Ihre Tasche krampfhaft an die Brust gepresst starrte sie auf die unheimliche Szene. Lars` Gedanken überschlugen sich: Hatte der Mann der Frau aufgelauert und sie überfallen wollen und Finn die Gefahr schon lange vor ihm wahr genommen? War er deshalb so unaufhörlich voraus gerannt? „Was ist hier denn los?“, verlangte er forsch zu wissen. Finn knurrte immer noch bedrohlich. Der Fremde traute sich nicht, sich zu bewegen. Endlich erwachte die Frau aus ihrer Starre. „Bin ich froh, dass sie gekommen sind“, sie schob ihre Kapuze, die sie bisher tief ins Gesicht gezogen hatte, ein wenig in den Nacken und nun erkannte auch Lars sein Gegenüber: Die Blondine vom Seeufer, mit der sein Hund vor ein paar Wochen so schnell Freundschaft geschlossen hatte. Sie sprach weiter: „Der Kerl hat mich überfallen wollen…ihr Hund hat mich vor dem Schlimmsten bewahrt.“ Finn erhielt den Befehl, den Übeltäter zu bewachen. Er führte die Anweisung gewissenhaft aus, indem er zähnefletschend ein Stück näher an diesen heran rückte, während Lars sein Handy zückte, um die Polizei herbei zu rufen. Als die wenig später eintraf, wurde schnell klar, dass der Mann kein Unbekannter war. Er hatte schon mehrfach Frauen belästigt und war im Moment nur auf Bewährung draußen, was sich nun hoffentlich ändern würde. Inzwischen hatte Lars erfahren, dass die Blondine Silvia hieß und ganz in seiner Nähe wohnte, heute unterwegs zu ihren Eltern gewesen war, die draußen am See ein kleines Häuschen bewohnten. Finn hatte seine Gelegenheit ebenfalls genutzt: Als Silvia sich bei ihm für seinen Beistand bedankt hatte, wobei sie ihre Arme um seinen Hals geschlungen hatte, schleckte seine Zunge blitzschnell über Hals und Gesicht der Frau. Diesmal hatte Lars ihn ausnahmsweise gewähren lassen, nur amüsiert in sich hinein geschmunzelt. Er war unheimlich Stolz auf seinen Freund Finn: Er hatte Silvia aus höchster Not gerettet.
Nun hatte Lars endlich die Gelegenheit, die attraktive Blondine näher kennen zu lernen, die sein Herz hatte höher schlagen lassen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte und die seit Wochen durch seine Tagträume geisterte. So wie sie ihn gerade anstrahlte, hoffte er darauf, dass es nun doch noch ein schönes Weihnachtsfest werden würde.
Tag der Veröffentlichung: 09.11.2011
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