Hallo Jake,
ich komme gerade von der Frühschicht nach Hause, die Kinder sind beide in der Schule und mein Freund in der Spätschicht, also ein Reich für mich alleine. Wie üblich schalte ich meinen Computer ein, nicht weil ich dort etwas zu arbeiten hätte, vielmehr aus Gewohnheit, er läuft den ganzen Tag, nur so, na ja, er hängt auch an der Stereoanlage, sämtliche Musik wird vom PC gesteuert, nicht mehr die altmodischen CDs wie früher. Anfangs wollte ich dir Mails schreiben anstelle der altmodischen Briefe. Was, du meist das ging nicht wegen dem Versenden, weil ich keine Mail Adresse von dir habe. Das wäre das geringste Problem gewesen, einfach auf GMX, Hotmail oder welchem Freemailserver auch immer einen gefakten Account erstellen und die Mails wären genau so sicher bei dir angekommen wie diese Briefe. Aber das ist zu unpersönlich, entspricht zu wenig meinem Naturell. Nicht, dass ich der Technik abgeschworen habe, ich habe ein Smartphon, Computer und Netbook, trotz allem, alles zu unpersönlich, und verbessert es wirklich mein Leben, ich weiß nicht. Trotz aller Technik, die zwar ungemein ablenken kann, es geht mir nicht besser. Also habe ich mich entschlossen altmodische Briefe zu schreiben. Ich bin eben ein Kind zweier Welten, aufgewachsen mit Schallplatten und Briefen, älter geworden mit Computer, Mails und Mp3´s. Dürfte dir ja auch nicht viel anders gehen?
Ich mache es mir auf dem Sofa gemütlich, kochen brauche ich nicht, die Kinder essen in der Schule und mein Freund in der Arbeit. Ich selbst brauche nicht viel, esse später ein paar Bissen Brot oder was auch immer und werde den Rest des Nachmittags faul herumliegen. Großputztag ist Samstag, während der Woche mache ich nur das Nötigste. In der ersten Zeit unserer Trennung habe ich viel am PC gespielt, wenn ich alleine war, habe mich richtig in die virtuelle Welt hineinversetzt, um alles zu vergessen, oft bis sehr spät in die Nacht, aber jetzt kann mich das nicht mehr ablenken, der Reiz ist nicht mehr da. So habe ich Zeit dir zu schreiben.
Mein Arbeitstag war fade und öd wie immer. Ich muss immer freundlich sein, spiele die selbstbewusste, immer gut gelaunte Frau und keiner ahnt, wie es wirklich in mir aussieht. Manche Arbeitskollegen sind neidisch auf mein ausgeglichenes und vermeintlich gutes, sorgenfreies Leben. Na ja, ich würde gerne mit einigen tauschen, aber wer weis, vielleicht tragen sie auch nur eine graue Maske.
Welche Playlist soll ich nehmen? Schon schlimm, massig GB Musik am Rechner und doch gefällt mir so wenig. Du kennst ja meinen Musikgeschmack, alternativ und traurig, viel Violinenmusik aber vor allem Gothic. Na ja, in letzter Zeit höre ich auch, soll ich dir das überhaupt schreiben. Ach was soll´s. Ich höre auch Schlager, nicht viel und nur ausgewählte Stücke. Du kennst sicher Udo Jürgens, griechischer Wein. Hast du dir das schon einmal richtig angehört? Der Song ist einfach ultratraurig in gewisser Weise, vor allem, wenn man an die Zeit denkt, als er geschrieben wurde, vor dem Multikultiwahn, als ein Gastarbeiter noch genau das war. Oder Mississippi von den Pussycats, ich hielt den übrigens für einen amerikanischen Oldie. Tja ist europäisch, und es gibt’s sogar ne deutsche Version. Die Stimme der Sängerin ist da einfach so wunderschön.
Das gemeinsame Musikhören war immer so kuschelig, kannst du es nicht mehr fühlen, fehlt dir das nicht? Ach schon gut, ich höre auf, dich zu nerven. Ich werde mich zusammen nehmen und versuchen dich nicht mehr zu stören. Ich weiß nicht, wie lange ich es aushalte, aber ich werde den nächsten Brief so lange hinauszögern, wie ich kann. Ich werde mich jetzt ein wenig meiner Musik hingeben und schließe mit einem Vers aus Ice Angel von Blutengel, du weißt ja, einer meiner Lieblingssongs: „There is no place for me to be“
In Liebe
Miranda
PS: Erinnerst du dich noch an den kleinen Park, in dem wir uns spät Nachts einige Male getroffen habe. Von Zeit zu Zeit bin ich dort, Tränen in den Augen, und ich wünsche mir dich zurück, oder mein altes Leben vor dir und ohne dich. Was ich mir mehr ersehne, ich kann´s dir nicht sagen.
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2012
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