Amok
Laut tönt die Musik aus dem kleinen Radio, irgend ein Schwachsinn über Tod und den Teufel von Alice Cooper, während meine Blicke angespannt zwischen der versperrten Tür und dem kleinen Fenster hin und her wandern. Das Fenster ist so sehr mit Staub bedeckt, das man ohnehin nichts sieht, außer die Scheibe würde brechen, aber gerade davor fürchte ich mich ja. Die Bilder des zur Pension gehörigen Fernsehers erhellen den kleinen Raum, verstärken das wenige Licht, dass die einzige Kerze von sich abgibt, flackernd, mich ständig verhöhnend, wie es schon viele vor ihr getan hatten. Scheiße! Was ist das für ein Rascheln, meine Sinne durchkämmen den Raum, finden nichts Außergewöhnliches, oder sind sie schon abgestumpft, ist die halbe Flasche Tequilla schuld? Nein, das dürfte kein Problem sein. Mein Blick streift den Fernseher, zeigt Bilder vom Amoklauf letzter Woche. Sechs Tote, dreizehn Verletzte, kaum Hinweise auf den Täter, ein Fremder in der Stadt, kein Motiv. Was für ein Motiv auch schon für eine solche Bluttat, Eifersucht, Wahnsinn, was weiß ich. Verdammt da ist schon wieder dieses Scheuern, leise und kurz, aber präsent. Langsam trinke ich einen Schluck Tequilla, spüre das Brennen, als würden kleinen Messer meinen Hals hinunter jagen. Meine zittrigen Hände stellen die Flasche wieder ab, werfen sie fast um.
Was ist das für ein Geräusch, das ich ständig höre, ist Sie es, die mich sucht? Nein, wenn dann schon ein Häscher, der in Ihrem Auftrag handelt mich zu finden, zu Ihr zu bringen. Letzte Woche lernte ich Sie kennen, und nun bin ich vor Ihr auf der Flucht, obwohl ich weiß, dass Sie mich finden wird, und dann bin ich Ihr ausgeliefert, dann gibt es kein Entkommen mehr. Eigentlich witzig, im Innersten weiß ich, dass ich gar nicht entkommen will, ich will das Sie mich findet, mich in Ihre Arme nimmt, mich zur Ekstase bringt.
Die Musik hört auf und die plötzliche Stille reißt mich von der einen zur anderen Sekunde aus meinen Tagträumen, der Puls rast wild, als hätte ich einen zweihundert Meter Sprint hinter mir, meine Hände beginnen plötzlich zu schwitzen. Ich versuche mich zu fangen, mich wieder auf das wesentliche zu konzentrieren, auf das Beobachten der Türe und des Fensters. Nichts Außergewöhnliches, nichts was mich beunruhigen könnte, außer jenes Scharen, für das ich noch keine Erklärung finde.
Im Fernsehen läuft gerade ein Film. Ah ja, eine Neuverfilmung von Romeo und Julia, mit Leonarde di Caprio, auf jeden Fall ein romantischer Schwachsinn, Meilen entfernt von Wirklichkeit und Realität, und da wundert man sich, wenn jemand Amok läuft und haufenweise Leute abknallt. Ich drehe die Kassette um und schalte wieder auf volle Lautstärke, der Film flimmert stumm weiter, hat in meinen Leben sowieso keine Bedeutung. Tja, ein paar Wochen vorher war alles einfach. Ich führte ein normales Leben, hatte einfach Sex mit Frauen, es haute mich nicht um, aber es erfüllte seinen Zweck, ich war körperlich befriedigt, mein Ego war aufgebaut, und man fühlte sich danach einfach besser, nicht erfüllt, einfach besser. Man weiß zwar es fehlt noch was, aber man verdrängt es einfach.
Ich bin sogar verheiratet, habe zwei liebe Kinder, zwei Töchter, Silke sieben Jahre und Jessika zwei Jahre alt, und ob ich nun glücklich bin oder nicht, ich liebe beide über alles, würde deren Verlust sicher nicht verkraften. Sie bestimmten die Jahre meines Lebens bis jetzt, bis vor ein paar Tagen, als Sie in mein Leben trat.
Schon wieder dieses Geräusch, ich schalte den Ton von Kassettenrecorder und Fernseher ab. Ich muss dem nun auf den Grund gehen. Scheiße, der Tequilla ist auch schon wieder alle, und ich habe keine Reserven mehr. Ich schließe die Augen und konzentriere mich rein auf mein Gehör. Verdammt es ist nichts Ungewöhnliches zu hören, nur vereinzelt leiser Straßenverkehr, die Stimmen der anderen Bewohner, das Stöhnen der Hure zwei Zimmer rechts von mir, viel zu alt schon für den Job, dementsprechend heruntergekommen auch Ihre Freier. Na ja, es ist Ihr Leben, und was sollte sie auch noch anderes machen, daliegen und immer gleich monoton dahin zu stöhnen ist das einzige was sie nach was weiß ich wie vielen Jahren kann. Ihre Freier müssen ohnehin auch eine Macke haben, sich mit so was einzulassen, wahrscheinlich sind die ebenso monoton wie sie. Aber eigentlich, wenn ich genau nachdenke war mein Leben bis vor kurzem auch so ähnlich. Arbeiten gehen, Geld verdienen, am Wochenende trinken oder Sex, all die Jahre hindurch, immer der gleiche Rhythmus, und was tut man schon um auszubrechen, nichts, am Ende bleibt immer alles gleich. Und wer weiß, vielleicht wäre ich auch einmal aus Frust vor der Monotonie bei dieser Schlampe gelandet, die Ehefrau daheim das Mittagessen vorbereitend und dann komme ich nach Hause, nehme sie in die Arme als wäre nichts gewesen, und der gleiche langweilige unbefriedigende Rhythmus im Leben, wie auch im Sex, geht weiter, weiter, bis du dann krepierst. Nichts hilft wirklich, alles nur kurze Ablenkungen, der Alkohol, Drogen oder sexuelle Eskapaden, alles flüchtig, vergänglich, ohne Dauer. Ja, so ähnlich langweilig und berechnend war mein Leben auch bis vor kurzem, bis ich Sie traf, Sie kennen lernte, letzte Woche.
Der Film ist aus, die Werbung auch schon. Oh wieder ein kurzer Bericht über den Amoklauf. Ich stelle das Radio ab und den Fernseher lauter. Ein Toter mehr, ein Schwerverletzter ist gestorben, man vermutet, dass der Täter nach Norden geflüchtet ist. Na das wäre wenigstens in meine Richtung. Die Tatwaffe wurde noch immer nicht gefunden, der Täter wird sie wahrscheinlich noch bei sich haben. So schlau war er wenigstens, sollte man ihn fassen, konnte er wenigstens noch einmal richtig aufdrehen. Am meisten wird noch am Motiv gerätselt, vor allem weil man keine Hinweise auf ihn hat. Alle Verletzten des kleinen Pups waren so überrascht, das es keine deutliche Beschreibung gibt. Draußen war es schon zu spät, als dass den paar Personen auf der Straße etwas aufgefallen wäre. Alles ging einfach zu schnell. Hinein mit der automatischen Waffe, zwei oder drei Magazine leer geschossen und wieder hinaus. Einfach richtig pervers, ein Wahnsinniger, zumindest dem ersten Eindruck nach, vielleicht ein ausgerasteter Soldat, wer weiß schon.
Ich schalte den Fernseher aus, fast Totenstille erfüllt den Raum. Die Kerze neigt sich dem Ende zu, und meine Nervosität steigt mit jeder Sekunde. Es ist tiefe Nacht, Ihre Zeit bricht an. Ich höre Ihre Stimme, wie Sie sanft meinen Namen flüstert, lockend, spüre Ihre Lippen. Ja, vor ein paar Tagen hörte die Monotonie auf. Vor ein paar Tagen, als Sie meine Wege kreuzte, wie von einem Blitz getroffen, alles wurde anders, der Rest des Lebens so unwichtig, nur Sie, sonst nichts, keine Monotonie, reine Ekstase, Glückseligkeit, ewige Lust, unbeschreiblich, und trotzdem bin ich geflohen. Aus Angst vor der Umstellung, dem Neuen, davor, dass sich mein ganzes Leben von einem Schlag auf den anderen ändert. Aber nun sitze ich hier in diesem Mauseloch verkrochen, und weiß, dass Sie mich hier findet, das Sie mich hier glücklich macht und wieder heim bringt, und ich fürchte mich genauso davor, wie ich mich danach sehne. Ich spüre, dass es nicht mehr lange dauern kann, ich fühle Ihren Atem.
Die Flamme erlischt, eine düstere Finsternis umgibt mich. Ich sitze da und warte, weiß nicht auf was, warte einfach. Die Zeit verrinnt, ohne Bedeutung. Irgendwie ändert sich die Umgebung, leichte blaue Nebelschwaden durchdringen den Raum. Verdammt, wo kommen die her. Plötzlich ein Klirren, die Fensterscheibe zerbricht in tausend kleine Teile. Ich schrecke um, nichts kommt durch die Öffnung, aber ich spüre Sie. Als ich mich umdrehe steht Sie plötzlich vor mir, Ihr Gesicht nur eine Handbreit von dem meinen entfernt. „Wo warst du“ höre ich Sie fragen „hast du mich nicht vermisst, war ich so eine Enttäuschung?“. Mein Mund ist trocken, ich bin nicht fähig zu antworten, dann ist es auch schon zu spät. Ihre Lippen berühren zart die meinen, süß wie das Blut, bindend. Der Kuss scheint ewig zu dauern, dann löst Sie Ihre Lippen wieder langsam von den meinen. „Hast du dich nicht auch danach gesehnt, hast du vergessen wie es letzte Woche war, die Leidenschaft, die Freude einfach alles, hast du das einfach vergessen?“. Natürlich habe ich das nicht vergessen und das weiß Sie auch. Ich kann mich an jede Sekunde der Erfüllung erinnern, an die Vereinigung mit Ihr, an den Höhepunkt, mit süßem Blut besiegelt, ich gab alles von mir was ich zu geben bereit war, ich war nicht mehr in der Wirklichkeit.
„Nein, du gabst nicht alles von dir“ höre ich Sie flüstern „du gabst dich mir nicht ganz hin, aber heute wirst du dich mir ganz hingeben, und du wirst diese Minuten nie mehr vergessen.“
Ihre Lippen liebkosen die meinen, die Zungen berühren sich, spielen miteinander. Langsam legt Sie Ihren schwarzen Schal um meinen Hals zieht in sanft zusammen. Ihr Körper berührt mit jeder Zelle den meinen, das wallend schwarze Haar fällt in mein Gesicht. Immer fester drückt sie mich an Sich, ich reiße das wenige was Sie an hat von Ihr, drücke Sie an mich, mit aller Gewalt, lass Sie nicht mehr los. Aus den sanften Küssen von vorher werden zärtliche Bisse, wie Raubkatzen spielen wir mit Lippen, Zunge und Zähnen. Ihre Fingernägel reißen die Haut meines Rückens auf, aber es schmerzt nicht, es ist berauschend. Leicht rinnt das Blut entlang der Haut, Ihre Zunge schleckt es gierig auf, verbrennt sie. Die Erregung steigt ständig, und unser Liebesspiel wird immer heftiger.
Ihr schlanker Körper drückt sich fest an den meinen, bebend, fordernd alles zu geben. Ich dringe in Sie ein, nicht zärtlich, viel zu erregt um noch an das zu denken. Sie flüstert meinen Namen, verlangt nach mehr. Unser Liebesspiel wird immer heftiger, immer wilder. Der Schal schlingt sich immer fester um meinen Hals, mir schwinden die Sinne, ich gehöre ganz Ihr, unser gemeinsamer Höhepunkt reißt mich fort von der Realität, in die ewige Ekstase.
New York Times, 28.04.1999
Nach dem die Bevölkerung über eine Woche bangen musste, kann sie nun aufatmen. In einem nördlichen kleinen Vorort namens Hountet Hill konnte die Leiche des Amokläufers sicher gestellt werden. Die Polizei stürmte nach einigen anonymen Hinweisen eine kleine Pension. Die Beamten mussten mit dem schlimmsten rechnen, da der Täter schwer bewaffnet war. Da sich dieser jedoch selbst richtete, konnte der Einsatz ohne Verletzungen seitens der Bevölkerung und des Einsatzteams abgeschlossen werden. Etwas ungewöhnlich war nur der Freitod des Täters. Er, es dürfte sich um einen geistig Verwirrten gehandelt haben, die Identität wird noch geheim gehalten, hatte sich selbst mit einer Peitsche am Rücken gegeißelt, und anschließend hatte er sich mittels eines schwarzen Schals erhängt.
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2010
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