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Der letzte Kuß


Aaron stand am Rand der Landstrasse. Die Sonne verbrannte erbarmungslos seine blasse Haut. Um die Mittagszeit war es fast unmenschlich unterwegs zu sein. Von Zeit zu Zeit fuhr ein Auto vorbei. Jedesmal hob er den Daumen, aber niemand blieb stehen und nahm den zwanzigjährigen Tramper mit. Er liebte diese Art zu reisen, nur die Tageszeit war nicht ideal. Lieber wanderte er des Nachts, sie beruhigte ihn, schärfte seine Sinne. Aber er war auf der Suche nach jemandem und da ließ es sich nicht vermeiden die Hitze zu ertragen. Wenigstens konnte er seine Augen mit einer guten Sonnenbrille schützen. Sein schulterlanges brünettes Haar wirkte etwas verfilzt, aber das war der Schweiß, denn ansonsten war es immer gut gepflegt. Während er so dahin schritt träumte er von vergangenen Reisen, von den vielen Frauen, die er kennen gelernt hatte, von der Liebe und vom Schmerz, die sie mit sich brachte.
Die Zeit verging und die Sonne verlor etwas an Kraft. Es war schon später Nachmittag und Aaron hatte schon einige Kilometer hinter sich gebracht. Er hatte es jedoch nicht eilig. Er war auf der Suche. Wenn er sie gefunden hatte, würde er es wissen. Er würde es spüren, wie schon so viele Male zuvor. Ein paar Tage hatte er noch Zeit, dann würde es knapp werden. Aber er war guter Dinge. Notfalls würde er eine Übergangslösung finden, das hatte er schon des öfteren getan.
Er hörte ein Geräusch von hinten und trete sich um. Ein hübsches Mädchen strampelte mit ihrem Fahrrad auf ihn zu. So um die achtzehn Jahre schätze er. Nett anzuschauen. Sie hatte eine gute Figur, wunderbar blondes Haar und eine unschuldige Ausstrahlung, die ihn sofort faszinierte. Er blieb stehen und wartete. Vielleicht würden sie ins Gespräch kommen.
Als sie näher kam sah er, daß sie ihn anlächelte. „ Hi, bei dieser Hitze zu Fuß unterwegs?“ Ihre Stimme hatte einen sanften Klang.
„ Mit dem Rad bist du aber auch nicht besser dran,“ bemerkte Aaron und erwiderte das Lächeln.
„ Da hast du wohl recht. Hast du Durst? Mehr als Wasser kann ich dir jedoch nicht anbieten.“ Sie reichte ihm die Wasserflasche vom Fahrrad. Aaron nahm sie schweigend entgegen, nahm einen tiefen Zug und blickte ihr dann in die Augen. Sie schaute nicht weg und beide begannen zu lachen.
„ Bist du schon lange unterwegs, du hast einen ausländischen Akzent? Ach ja, ich heiße übrigens Julia.“
„ Erst seit ein paar Wochen. Ich stamme ursprünglich aus Frankreich, aber da meine Familie aus beruflichen Gründen viel unterwegs war hat es mich in diese Gegend verschlagen. Wenn du willst erzähle ich dir ein wenig mehr davon, ich hatte ohnehin vor mein Nachtlager im Feld aufzuschlagen.“
Julia überlegte kurz. Eigentlich sollte man das nicht machen, aber er wirkte so vertrauensvoll und interessant. Er reizte sie und machte sie neugierig. „Klar doch, ein wenig Zeit habe ich schon.
Aaron lächelte und beide marschierten ein Stück ins Kornfeld hinein, auch wenn es nicht erlaubt war und der Bauer später sicher einen Anfall bekommen würde. Nach einigen hundert Metern stellte Aaron seinen Rucksack ab. Er nahm den großen Schlafsack, den er außen festgebunden hatte, herunter, und breitete ihn wie eine Decke am Boden aus.
„ Nehmt Platz Mylady. Der Geschichtenerzähler bereitet sich bereits auf seinen Auftritt vor. Wollt ihr inzwischen eine kleine Erfrischung zu euch nehmen.“
Er kramte in seinem Rucksack herum, und Julia mußte lachen. Er brachte zwei kleine Kristallbecher und eine kleine Flasche Wein zum Vorschein. Er schenkte ein und setzte sich zu ihr.
Sie betrachte das Kunstwerk von einem Becher und nippte leicht. Der Wein schmeckte herrlich süß, und was sie am meisten überraschte, er war kühl.
„ Eine spezielle Flasche, das Kristallglas reflektiert die Wärme,“ kommentierte Aaron, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Er nahm seine Gitarre und begann darauf zu spielen. Julia horchte zu und war fasziniert von den Melodien die er vortrug. Sie kannte keines der Stücke, aber jedes einzelne berührte sie tief im Herzen. Und zu allem konnte sie sich eine Geschichte dazu vorstellen. Sie sah ihn des öfteren an und bemerkte, daß er sie nicht mehr aus den Augen ließ. Seine Finger spielten von alleine, seine Blicke und sein Lächeln gehörten nur ihr.
Die Zeit verging viel zu schnell, und es wurde schon dunkel. Aaron entfachte ein kleines Feuer.
„ Willst du nach Hause, es wird schon spät. Vielleicht macht sich jemand Sorgen um dich.“
Julia war überrascht das zu hören. Sie konnte ihn nicht so richtig einordnen. Angezogen war er wie ein Rockfan. Er spielte mit der Gitarre Melodien, die sie noch nie gehört hatte. Wenn sie in seine grünen Augen sah, kam sie sich vor in einem kühlen Ozean zu versinken, und seine Art war so zuvorkommend, ungewohnt für einen so jungen Mann, vor allem für einen, der so gut aussah.
„ Ich wohne allein, und heute habe ich keine Verabredung. Erzähl mir ein wenig von dir.“
„ Über mich gibt es nicht viel zu erzählen, aber über Frankreich und meine Ahnen weiß ich einiges.“
Er legte sich auf die Decke, blickte zum schwarzen Himmel hinauf und begann über die Familie de Discount zu erzählen. Sie hörte Geschichten über Bälle und Kriege, von schönen Frauen, Orgien und Verrat. Vom Aufstieg der Familie in den höchsten französischen Adelskreisen, bis zu deren Fall. Nebenbei erfuhr sie Dinge über Frankreich. Die Natur, das Leben der Leute und ihr Glaube, Kunst und Geschichte. Alles brachte Aaron mit kurzen Geschichten und Anekdoten dar und Julia war gefangen von den Erzählungen und der Art wie er alles vortrug, so lebendig, als würde sie alles selbst miterleben.
Während er erzählte betrachtete sie ihn genauer. Sein Blick war zu den Sternen hinauf gerichtet, doch hatte er die Augen geschlossen. Seine Haut war ungewöhnlich blaß, die adelige Herkunft kam ihr in den Sinn und sie mußte schmunzeln.
Er wirkte jung und lebendig, hatte einen beneidenswerten Körper, schlank aber trotzdem muskulös und geschmeidig, wie ein Raubtier, kein Gramm Fett.
Seine Stimme war beruhigend und hypnotisierend. Noch nie hatte sie sich von jemandem so angezogen gefühlt, auch wenn sie ihn erst wenige Stunden kannte. Da fiel ihr erst auf, daß sie nicht einmal seinen Namen kannte. Sie hatte nicht gefragt und er hatte es nie erwähnt. Er hörte auf zu erzählen und blickte zu ihr. Sie wich ihm nicht aus.
„ Wie heißt du eigentlich?“ unterbrach sie die Stille.
„ Romeo natürlich.“ Sie schaute ihn verdutzt an und wußte momentan nicht was sie antworten sollte, aber Aaron sprach gleich weiter „ Nein, das war nur ein Scherz. Ich heiße Aaron. Und jetzt frag nicht wie meine Eltern auf diesen ausgefallenen Namen gekommen sind, ich weiß es auch nicht.“
„ Klingt doch ganz nett, nicht immer das gleiche.“
„ Erzähl ein wenig von dir,“ forderte er sie auf.
Und sie begann ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen, ihre unbeschwerte Kindheit, das Leben am Lande. Sie erzählte von ihren Verehrern und davon das keine Beziehung lange hielt. Die meisten hielten sie für zu kompliziert und romantisch. Sie vertraute ihm sogar an, daß sie, wie es so schön heißt, noch Jungfrau sei, aber keine Probleme damit habe. Aber das wußte Aaron schon, oder er spürte es. Sein Instinkt hatte ihn in diesen Sachen noch nie getäuscht. Er konnte es förmlich riechen.
Sanft strich er ihr durchs Haar, streichelte ihr Gesicht. Seine Haut wahr ungewöhnlich kühl, aber nicht unangenehm. Julia genoß die Berührungen. Noch nie hatte sie sich so wohl gefühlt. Es war erotisch und doch beschützend. Sie wußte nicht, ob sie ruhig bleiben oder sich gehen lassen sollte. Alles war so wunderbar, anders als jemals zuvor.
Sie wälzten sich am Boden, ineinander verschlungen. Die Zeit verstrich, und bald waren beide nackt. Aaron saugte sanft an ihren Brustwarzen während er mit seinen Händen ihren Körper verwöhnte. Julia gab sich ihm völlig hin und vergaß die ganzen Tabus, die bis jetzt ihr Leben beherrscht hatten.
Er legte sich auf sie, sanft ohne Druck auszuüben. Vorsichtig drang er in sie ein, hörte ihr zartes Stöhnen, genoß es, wie sie ihn begehrte. Ihre Bewegungen wurden schneller und sie wurde lauter. Er spürte, daß sie kurz vor ihrem Höhepunkt war. Ihre Augen waren geschlossen.
Mit seiner Zunge strich er über ihren Nacken. Sanft knabberte er daran. Er fühlte ihre Ekstase und biß zu, der Kuß des Jägers. Julia fiel in Ohnmacht.


Einige Jahre später


Julia lag im Bett und starrte an die Decke. Neben ihr lag Robert, ihr momentaner Freund. Er schlief tief und fest. Das gemeinsame Liebesspiel hatte ihn erschöpft, ausgelaugt.
Sie sah auf den silbernen Ring an ihrer linken Hand, das einzige was von Aaron übrig geblieben war. Als sie damals munter wurde, war er längst verschwunden. Nur diesen Ring hatte er an ihren Finger gesteckt. Sie begann zu weinen. Seit diesem Tag an hatte sich ihr Leben grundlegend geändert. Sie hatte einen Freund nach dem anderen, war süchtig nach Sex geworden. Deshalb war sie auch vom Land in die Stadt gezogen, in die Anonymität. Dort konnte sie sich ausleben ohne Gesprächsthema Nummer eins zu werden. Sie vermißte ihn, und kein anderer konnte ihr das geben was er ihr gegeben hatte.
Anfangs versuchte sie ihre sexuellen Eskapaden nicht zu übertreiben, aber mit der Zeit bemerkte sie, daß sie dadurch immer schwächer wurde. Und wenn ihr auch niemand das geben konnte was ihr Aaron damals gab, spürte sie doch immer eine kurze Befriedigung und fühlte sich stärker, jedoch nur für kurze Zeit. Bald begann die Lust und Sehnsucht wieder zu wachsen.
Die Männer hielten es nicht lange bei ihr aus, ein bis zwei Wochen. Ein Freund hatte mal gesagt sie sei die aufregendste und erotischste Frau in seinem Leben, und der Sex mit ihr sei das Beste, daß er je hatte. Doch danach fühlte er sich jedesmal ausgelaugt, zu Tode erschöpft und mit jedem mal würde es schlimmer. Das hält natürlich keiner auf Dauer durch.
Sie schaute zu Robert, wie er schlief. Sie kannten sich erst seit zwei Tagen. Er war ein Versager, das wußte sie jetzt schon. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und stand auf. Leise ging sie zum Fenster und betrachtete den Sternenhimmel.
Schnell raffte sie ihre Sachen zusammen, zog sich an und verließ Roberts Wohnung. Sie würde ihn nicht mehr wieder sehen, das war ihr klar. Die Kühle der Nachtluft besänftigte sie. Nicht weit entfernt befand sich ein Park. Um diese Zeit war er verlassen, und genau das brauchte sie jetzt. Sie liebte es allein in der Dunkelheit zu wandeln. Der Wind wehte ihr durchs Haar. Sie blickte in den Nachthimmel. Ihr Herz schrie vor Verzweiflung. „Wo bist du Liebster.“


Zur gleichen Zeit, weit entfernt


Völlige Dunkelheit. Tief unter der Erde lag Aaron am kalten Boden der Gruft und träumte, träumte das Leben seiner Braut. Sie war eine gute Braut und versorgte ihn ständig mit frischer Nahrung. Er spürte die Energie, die sie den Männern entzog. Er spürte wie ihre Kräfte dadurch wuchsen, doch einen Teil davon brauchte er um zu leben. Das Blut war nur die Verbindung, die Lebenskraft die während des Aktes floß war viel stärker und reiner. Das Blut war nur ein Dessert, köstlich und bindend, bis in den Tod hinaus.
Deutlich vernahm er ihren Ruf, aber sie würde sich gedulden müssen. Noch war sie stark und jung, konnte ihn noch Jahre ernähren. Aber sie würde älter werden. Es würde für sie schwieriger werden an die Lebenskraft zu kommen. Dann würde er sie ein letztes mal aufsuchen. Er würde alle ihre Sehnsucht erfüllen, sie gänzlich zu einem Teil seiner machen. Er würde seine Braut ein letztes mal küssen.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.01.2010

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